Anekdote

 

Jemand entdeckt eine zufällige Parallele auf einem Platz, die man nur aus einer einzigen Perspektive sehen kann, und teilt dies mit. Die Nachbarn scharen sich um den Erzähler, der mit dem Finger einer Beweisfotografie dahin und dorthin zeigt. Man hat in der Welt ein vorübergehendes Muster gerade noch gesehen. Davon muss man reden. Es kann um letztlich überlebensnotwendige Informationen gehen oder zumindest um ein Erlebnis, welches die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften wichtiger Informationen deutlicher hervortreten lässt. Das Erzählen und Besprechen der Anekdote entspricht dem gegenseitigen Lausen der Affen. Es bedeutet das Versprechen zu kooperieren, den Beginn der Gemeinschaft, die man über Anekdote dann wieder sprengt. Das ist auch Utopia: ein Ort, der von Romantikern als fester Boden beschrieben und dann als Malerei enttarnt wird.

Ich kann, um das alles zu erklären, hier gleich eine Anekdote erzählen, in der sich ein Muster sehen lässt, das aber vielleicht gar nicht da ist, bitteschön: Ich war in Wien, saß auf einem Bahnsteig. Ein junger Mann fragt mich um etwas Geld. Ich krame einen letzten Euro raus. Da springt der alte Mann neben mir auf und ruft mir mit ungarischem Akzent, den Kopf im Weglaufen wendend, halb ins Gesicht, ich wäre doch verrückt, ich würde ja unsere Feinde fördern. Ich sehe in diesem Moment rundherum, wie der Kosmos auseinanderstiebt. Da findet sich überhaupt kein Wir einer Spezies, das den Fascho und mich zusammenschnüren könnte, sodass Bilder von eingeschnittenem Fleisch entstehen. Ich sehe auch keinen Feind mit erdverschmiertem Gesicht und Tarnanzug im Gebüsch. Ich sehe nur einen verhungerten, wahrscheinlich afghanischen Mann in schmutziger, zerlumpter Kleidung mit einem offenen Blick, der vor mir steht und mich in Wörtern, die er nicht kennt, zu fragen versucht, was gerade passiert. Tatsächlich ist es etwas zwischen dem anderen und mir. Ich zucke die Achseln, schreie dem Ungarn nach: Menschen, die nichts zu essen haben, sind keine Feinde. Ich brauche dann aber so viel Kraft fürs Schreien, dass es in mir einen Haufen alter, schimmliger Blätter vom Vorjahr aufwirbelt, vielleicht auch noch Fetzen von ein paar Autoreifen, die auf der Autobahn geplatzt sind. Jedenfalls muss ich an solchen Erinnerungen  schlucken, um sie in Wellen wieder nach unten zu drücken. Ich steige, immer noch würgend, in den Zug. Darin sitzt neben mir eine asiatische Frau. Sie wird von ihrem Kind, das für sie übersetzen muss, mit schlechtem Gewissen verachtet. Um ihre Wohnhaftigkeit an einem anderen Ort dieser Welt zu behaupten, hört sie dann laut chinesisches Radio. Ich bitte sie mit einer internationalen Geste, den Ton etwas leiser zu drehen. Da schließt sie, vielleicht ohne zu wissen, was sie mir zuleide tut, mit trauriger Miene die Augen, legt den Kopf vor sich auf die auf dem herabgeklappten Tischchen zusammengelegten Arme. Und ich frage mich wieder einmal, wer ich bin.