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Inhalt 01/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2013 erschien am 15. April 2013.


In dieser Ausgabe:
Zweifelköpfe und schlecht gefüllte Fragmente, Brian Zumhagen und Bernd Zabel, Khakibäume und spillerige Zöpfe, ein Päckchen Mary Long Filter, Schlafburschen und Kirchhofwetter, Schlie­ßsymbole, Räuberherren und Seeungeheuer, Elche und Wildschweine, Treibholz in Gerüchteküchen, radelnde Anachronismen, Klappstühle der Existenz, Aka Midori und Yukio Mishima, Waldphantasien, Bernhard Kathan, Sperrmüll in Afrika, Karstadt-Schnellrestaurants, eine gelandete Zeit, eine Portion BULEX uvm.

INHALT:

Bei Leonard Lopate

Bernd Zabel, Brian Zumhagen, Benjamin Stein im Gespräch auf dem arte-Stand
Bernd Zabel, Brian Zumhagen, Benjamin Stein im Gespräch auf dem arte-Stand

••• Vorgestern gab es auf Einladung des Goethe-Institutes auf der Leipziger Buchmesse ein Wiedersehen mit Brian Zumhagen. Am arte-Stand sprachen wir, moderiert von Bernd Zabel, 40 Minuten über »The Canvas«, die US-Ausgabe der »Leinwand«, das Zustandekommen der Übersetzung und Übersetzungsfragen. Wie übersetzt man ein deutsche Wortspiel Wechslers, der ein aus dem Polnischen übersetztes Gedicht zitiert?

Wie auf Stichwort erreichte uns dann gestern die Nachricht, das der New Yorker Sender WNYC nun doch noch das Interview gesendet hat, das Brian und ich im Oktober in New York gegeben haben. Wir hatten schon nicht mehr damit gerechnet, dass es noch kommen würde. Leonard Lopate und seine Show sind für New Yorker Radio-Hörer so etwas wie eine Institution. Dass der Beitrag nun doch noch gelaufen ist, hat uns sehr gefreut. Man kann ihn online nachhören, unter anderem »» hier.

Interview mit Brian Zumhagen und Benjamin Stein
in »The Leonard Lopate Show« vom 14.03.2013

Und ich weiß nicht

Im Schatten unterm Khakibaum sitzt sie auf einem niedrigen Holzbett im Hof. Ihre Töchter haben Kissen hinausgetragen und ihr den rostroten Teppich auf die Bretter gelegt. Sie trägt die große, eckige Hornbrille ihres Mannes, der vor Jahrzehnten gestorben ist. Ihre Haare sind eisengrau und hinterm Kopf in zwei spillerige Zöpfe gebunden, ihr schwarzer Rock ist wenig über knielang, ihre Beine stecken in dicken, grauen Nylonstrümpfen. Langsam saugt sie an der Wasserpfeife, spricht selten, lächelt viel, trinkt starken Tee aus dünnen, goldgeränderten Gläsern. Wenn sie später aufsteht und ins Haus geht, tut sie es wie ein Seemann: schmal und winzig wankt sie auf rundesten O-Beinen bedächtig von rechts nach links. Sie hat, so viel steht fest, keinen Namen, denn alle rufen sie immer nur Mamanjoun, >Mütterchen, und man hat mir nicht gesagt, wo sie begraben liegt.

Das Jahr, in dem ich das Gewehr meines Vaters war

Ich hatte ja wieder einmal einen Auftrag zu erledigen. Aber darüber berichte ich erst im nächsten Kapitel.

Hier will ich von meinem Vater erzählen. Hochgewachsen. Ein Turm von einem Mann. In seinen Haaren nisteten seltene Vögel. Er spießte die Wolken mit einzelnen, abstehenden Haaren auf. Es kam auch mal vor, dass er eine Passagiermaschine durchbohrte.

Das Haar riss den Boden auf und schob sich oben wieder heraus. Druckabfall. Geschrei. Und das nur wegen eines einzelnen Haars. Kinder, die sich an dem Haar festhielten. Dachten, es wäre ein Baum. Und während man stirbt, kann man klettern. Die Kinder dachten nicht ans Sterben. Ans Verrecken noch weniger. Auch nicht ans Abnibbeln. Die sahen den Baum und wollten sehen, wer schneller hochkam. Die Erwachsenen zerrten an ihren kleinen schreienden Bälgern, schrien, sie sollten sich zusammenreißen, es werde schon alles gut ausgehen, man werde zwar zerschellen und verbluten, man werde tausend Tode sterben, aber das sei ja kein Grund, so ein Geschrei zu veranstalten.

Die Flieger rasten meinem Vater massenhaft in die von Haarwachs verklebten Haare, so dass man schon bald die Flugrouten änderte, man flog nicht länger über unser Heimatdorf.

Ein Schütze war er, mein Vater. Er trug ein Gewehr im Arm. Er schaukelte es wie ein Baby, sprach auf es ein, fütterte es mit Kugeln, ließ es sich erbrechen. Sein Babygewehr wurde auf alles gefeuert, was als “bewegliches Ziel” auszumachen war. Er schoss auf die Autos der Nachbarn, auf die Nachbarn.

Ein Mörder war er nicht. Er liebte halt den Schussapparat, er liebte das Spannen, Zielen und Feuern.

Er fuhr ja oft mit mir in den Wald hinaus. Wir kletterten auf einen Baum und saßen dort, angespannt und kauten Kaugummi oder einen Müsliriegel.

“Irgendwas wird schon kommen”, sagte mein Vater, “was wir töten können. Ein Elch, ein Wildschwein, ein Nachbar. Ich leg mit meinem Gewehr an und schieß es über den Haufen. Man kann das gar nicht glauben. So ein Wunder.” Er strahlte mich an. “Hier drückst du, und dort vorne fällt etwas wie ein nasser Sack um. Na, wenn das nicht toll ist. Willst du es denn einmal halten, mein kleines Baby?”

Ich nickte und er überreicht mir seine Todesfernbedienung, er legte sie samtweich in meine buttrigen Hände, und es war mir, als würden das Gewehr und ich verschmelzen. Es drückte sich tief in meine Handfläche, bis man den Kolben gar nicht mehr sehen konnte, weil er zu einem Teil der Hand geworden war. “Du bist ein wahrer Gewehrmann”, sagte mein Vater.

Wenn nichts vorüber kam, wenn sich kein Reh verlief, schossen wir Äste von den Bäumen, Vater ließ sie mit seiner Todesfernbedienung fallen, er schnitt sie aus der Ferne ab. Wenn es jemals ein Wunder gab, dann in Form eines solchen Gewehrs.

Im Schützenverein war er auch, keine Frage. Schützenkönig! Darum verhafteten sie ihn auch trotz der vielen Opfer nicht. Ein König ist König. Der ist unangreifbar. Unverhaftbar. Wir residierten in einem großen weißen Haus, das mein Vater schwarz hochgezogen hatte, in zahllosen Nächten, in dunklen Regennächten, weil er an den Tagen arbeiten musste. Er war bei der Polizei. Gut so. Die kam nie auf den Gedanken, dass man  bei uns in Dosenfeld einmal recherchieren müsste. Wegen meines Vaters! Wer so einen guten Kommissar im Dorf hat, der muss sich nicht fürchten, argumentierte das Polizeipräsidium.

Und doch gab es ein Jahr, in dem alles anders war. Mein Vater hatte sein Gewehr verlegt. Oder es war gestohlen worden. Er schwitzte, die Angst um seine Kleine, um seine Geliebte, machte ihn kirre. Er flehte alle an, sie mögen sein Gewehr suchen. Sie mögen es ihm bringen. Ohne seine Fangschüsse würde er sterben, erklärte der Vater. Er ließ die Mutter eine Pressekonferenz abhalten. Von überall aus dem Dorf kamen sie und lauschten der Mutter, die mit zitternder Stimme verlas, was der Vater in der Nacht diktiert hatte. Er drohte dem Dorf. Sollte sein Gewehr nicht auftauchen, würde er das Dorf dem Erdboden gleichmachen. Er würde alles tun, was ihm just in dieser Sekunde der Aufregung nicht einfiel, aber tun, so viel sei sicher, tun würde er es.

Das Gewehr blieb fort. Die ersten Wochen musste mein Vater das Bett hüten. Er trieb seine Traumschafe über die Bettdecke und zählte sie. Stets war da eins, was nicht da war. Es war hinter dem Kissen, am Fußende. Das Leben als Traumschäfer war der reinste Stress.

Nach und nach beruhigte er sich. Die Zeit begann, da er mich umhertrug.

“Komm!”, sagte er. “Ich habe kein Gewehr mehr, drum nehm ich dich.”

Vater befestigte einen Gurt an mir und schob ihn über die Schulter. Da hing ich. Kopfüber. Das Blut schoss mir in den Kopf. Vater zielte mit mir meist auf alte Frauen. Er hielt ihnen meinen Lauf vor das Gesicht und drückte ab. Ich feuerte Speichelkugeln.

Nahezu ein Jahr war ich das Gewehr meines Vaters. Eine wilde und verrückte Zeit, an die ich mich noch heute gern zurück erinnere.

Hörte mein Vater nachts ein Geräusch, griff er nach mir und suchte das Haus ab. Er flüsterte: “Die wissen nicht, dass ich einen Sohn habe. Die armen Irren!”

Er nahm mich auf die Jagd mit, fuhr mit mir nach Schottland in einen Park, der für Jäger war. Wir wohnten dort und schossen beinahe einen Elch. Meine Speichelkugeln hätten ihn verletzen können, wären wir näher an ihn herangekommen.

Und dann plötzlich, ohne Vorwarnung, war sein Gewehr zurück. Es glich einem Wunder. Von einem Tag auf den anderen lag es auf den Stufen vor unserem Haus.

“Papa!”, schrie die Mama.

Vater schnappte nach mir, der ich allezeit griffbreit in seiner Nähe stand oder lag. Er stürmte zur Tür hin. Einbrecher? Wo? Bei dem Geschrei musste ein Verbrechen geschehen sein.

“Dein Gewehr”, sagte die Mutter.

Vater erstarrte. Er ließ mich fallen. Wie ein Baum sein Obst. Wie ein Bauer die heiße Kartoffel. Wie die Wolken den Regen.

Vater bückte sich und hob seinen Schatz auf. Keine Fragen! Keine Vorhaltungen! Nichts! Das Gewehr, so dachte Vater wohl, muss schon seine Gründe gehabt haben, auf Wanderschaft gegangen zu sein.

Nie sprach er darüber. Er holte es heim, stellte mich in mein Kinderzimmer zurück und sah mich nicht mehr. Ich verschwand aus seinem Leben. Einfach so!

“Du hättest halt ein Gewehr werden sollen”, sagte meine Mutter und strich über mein Haar. Sie blickte angewidert in ihre Hände, die wie Specksteine glänzten. “Wasch dir wieder mal die Haare.”

Bis heute erinnere ich mich mit einem wohligen Gefühl an die Tage, an denen ich das Gewehr meines Vaters sein durfte. Sie spuken durch meinen Kopf. Sie erzählen mir davon, wie es hätte sein können, wäre ich ein Gewehr.

Traurig wuchs ich in Dosenfeld heran. Ich war eine Zimmerpflanze, die kaum Wasser brauchte. Ich saß hinter meinen Büchern und lernte. Sehnsüchtig blickte ich oft aus dem Fenster. Mein Blick verlor sich in der Ferne. Im Geäst. Im Wald. In der Vergangenheit.

Oft schloss ich die Augen und sah alles ganz klar vor mir. Mein Vater, der etwas gehört hatte, oben auf dem Hochsitz, und der nach mir griff und anlegte und forderte: “Spuck!”

Grüner Kaffee

Kaffee, türkisch. Man hatte grünen Kaffee in Reserve. Das Haus steht noch immer am Kolinplatz steht es noch immer ganz anders. Manchmal eine Mutter manchmal eine Frau und wessen wann. Eine junge Frau eine alternde beinah junge Frau als eine Mutter einer Tochter eines Sohns in dieser Abfolge Mary long. Mary longlong. Aber das Plakat man könnte meinen. Ich kaufe mir ein Päckchen Mary Long Filter und sage Hallo Mama. Wie hübsch Du warst als. Eine Mutter als eine Frau sie als der Mann im Haus ersparte den Zimmermann und reparierte den Stecker. Täglich Reparaturen Apparaturen Expeditionen täglich ihr Apparate=Leben lebend das war dann später und ein Sehnen. Und gewiss nicht alles. Als eine Frau eine Mutter und wird besucht von und das Kind denkt und das Kind denkt wie hübsch da kommt einer her und der ist nicht uninteressant die Mutter mag nicht die Frau will nicht Kind bleib da wir trinken noch Kaffee wie kam‘s dann der Mann war dann schon gegangen ach das Kind ist kein Kind und denkt sich was Schönes das es nicht sagt aber es findet alles ein wenig schade. Das Haus steht noch immer am Kolinplatz steht es noch immer heut ganz anders.

Aus: Elisabeth Wandeler-Deck, Ein Fonduekoch geworden sein

AMUR IM SCHNEE („Wer gezeichnet ist, entkommt nicht.“) Entwurf

Sie lag als eine Schlange im Schneegestöber. Lag so als schönheitsgewundene Linie schimmernd wie ein Geschmeide und wartete. Die neue Haut war ihr erwachsen, Schuppe für Schuppe, und hatte das Muster ausgebildet, von dem sie vor langer Zeit geträumt hatte, die helle Kreuzesform auf dunklem Grund. Wer näher käme, wer sich hinabbeugte, der erst sähe, dass jenes Muster sich wunderbar aus einer Vielfalt und Buntheit ergab, die von weit oben, wo der Kontrast zwischen dunkler Linie und weißem Schnee das Auge täuschte, nicht auszumachen war. Die S., wenn sie sich diesen Blick, wie er sich näherte, vorstellte, erschauderte, denn es war unvermeidlich, es war gewiss, dass einem solchen Blick die Berührung folgen würde, die sie so still und doch so gierig ersehnte. Sie war dieTreppe hinabgeglitten, zwischen den hohen Eichen hindurch, die den hinteren Teil des Gartens im Sommer verschatteten, aber jetzt, unbelaubt, wie in grausiger Anklage ihre düsteren Finger gen Himmel streckten. Sie lag und wartete auf freier Fläche zwischen den Bäumen, in der Nähe des Sees. Der Himmel so hoch und leer über ihr. Von dort würde er kommen:  Entdeckung, Schau, Angriff, Zugriff. Ich habe deine Stimme gehört: Du bist so schön. Lange bevor ich zustoße, spürst du mein Begehren. Ich bin dir unter die Haut gegangen. Ich bringe dich zum Blühen. Sie ringelte sich, so sehr erregte sie die Erinnerung an diesen Traum. War es ein Traum gewesen? Sie hatten nach ihr gesucht. Der Doktor hatte es verraten. Er hatte es nicht zugegeben, aber seine niedergeschlagenen Augen hatten ihn verraten. Amur. Die schwarze Drachin. Pernis, mein scharfschnabliger Räuberherr. Wie sie einander geflohen waren seit damals. Sie war getaucht, sehr tief. Dass ich ein Seeungeheuer bin, hattest du vergessen. Wir müssen aufpassen. Dass uns keiner auf die Spur kommt. Die Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hatte, als sie zum See hinunter geschlichen war, wehte der Wind in gehorsamer Eile zu. Wieso hatte sie geglaubt, es beenden zu können. Wer gezeichnet ist, entkommt nicht.
Die Pfleger fanden sie im Morgengrauen, völlig unterkühlt. „Es ist ein Schub.“, sagte Dr. H., als er den Ärmel ihres Nachthemdes nach oben schob. „Wie konnten Sie das übersehen.“ Hanna versuchte sich zu rechtfertigen. Doch er hatte sich schon von ihr weggedreht. Die Patientin wurde auf die innere Station verlegt und sediert. Zu ihrer Sicherheit blieb sie, wenn niemand bei ihr im Raum war, mit Ledergurten ans Bett gefesselt. „Kein Risiko mehr an dieser Stelle.“, wies H. das Personal an. „Es geht hier um mehr als die Gesundheit dieser einen Patientin.“ Dennoch er verbrachte fast den ganzen Tag schweigend im Sessel neben dem Bett der S. Er hätte gern ihre Hand ergriffen oder ihr über die blutig verschorfte Haut am Unterarm, der über die Kante schlaff herabhing, gestrichen. Doch traute er sich nicht und das war gut so.
(Fortsetzung zu der Serie: Fabelwesen)

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Rezension: Katarina Botsky “In den Finsternissen” (V) / Die Novelle “Ziehkinder”

Die Novelle beginnt folgendermaßen: „Wenn man durch den bogigen finstern Torweg des Räuberhofs trat, geriet man in ein galoppierendes Meer wildverworrener Töne hinein. Bei einem Schiffsuntergang konnte nicht wüster geschrieen werden, als es die spielenden Kinder auf dem Räuberhof taten. Daher sein Name. Auch waren die geschwärzten schiefen Häuser, die den Hof wie Festungswerke umschlossen, und die nicht minder geschwärzten Proletarier, die diese Häuser bewohnten, an der Benennung schuld. Die Häuser sahen alle aus, als ob sie schon einmal in Flammen gestanden hätten. Doch auf der Steinwüste des Hofs gab es etwas Schönes, etwas ganz Verwunderliches: einen alten anmutigen Springbrunnen, der immer noch ein paar silberne Wassertropfen in sein steinernes Muschelbecken fallen ließ. (…)“

Dieser von Katarina Botsky gewählte Einstieg gleicht fast einem Eintritt in die Hölle, möchte man meinen, ohne daß die Autorin etwa Mitleid anklingen ließe für die Menschen, die in ihr leben müssen. Botsky wählt also zunächst eine distanzierte Haltung, ganz anders als es etwa in der Arbeiterliteratur üblich ist. In dem Schauspiel Bergarbeiter von Lu Märten aus dem Jahr 1909 läßt die Autorin den jungen, schwindsüchtigen Hermann zum Beispiel programmatisch sagen: „Wenn einer von uns nun gar unter die Dichter geht, dann ist es sein Gesetz, daß er die Wahrheit seines Lebens darstellen muß. Und wenn einer von uns die Wahrheit seines Lebens darstellt, ist’s am stärksten … der Schmerz.“ Auf dem Räuberhof kann von solch einem Unterfangen jedenfalls nicht die Rede sein, Botsky wird weder etwas vom Stolz des Arbeiters auf seine Leistung und die Errungenschaften der Industrie anklingen lassen, wie das oft in der zeitgenössischen Arbeiterliteratur vorkommt, noch den Klagen über die Unmenschlichkeit der Arbeit und das Leid des Einzelnen Aufmerksamkeit schenken – sie wahrt eine kalte, wenn auch klar deutende und urteilende Distanz. So ist also allein der Springbrunnen, der dort „wie ein verlaufener Aristokrat“ steht, an und für sich etwas Schönes in der geschlossenen Welt, die der Hof darstellt – der einzige Ausblick, so als könne man von einem unteren Höllenkreis die Welt der Schuldlosen sehen, ist hingegen der Blick auf den auf einem Berg liegenden „Kirchhof der Reichen mit seinem wehenden Laub“. Dazwischen, vom Räuberhof durch einen bemoosten Bretterzaun getrennt, liegt auf gleicher Ebene dann noch der Armenkirchhof, der ungepflegt ist und wo ein seltsames Holzkreuz steht mit der Inschrift „Die Reihe kombt auch an Dir“, die die Räuberhofjungen besonders mögen.

Das also ist die Bühne, auf der Katarina Botsky das immer gleiche Drama von Armut, Roheit, Dummheit, Gewalt und Mißbrauch ablaufen läßt. Neben den Proletarierfamilien mit ihren Kindern und den Schlafburschen gibt es nun auch noch, gleichsam als noch Niedrigere, die sogenannten „Ziehkinder“, Ganz- oder Halbweisen; doch „bei manchen dieser Kinder stimmte nicht alles im Gehirn“, das stellt die Autorin gleich einmal deutlich fest, wie man das bei Ziehkindern öfters beobachten könne. Jedes vierte Kind auf dem Hof ist ein solches Ziehkind, etwa zwanzig insgesamt, deren Unterhalt meist von der Stadt bezahlt wird und die jeweils einer Familie zugewiesen sind. Botsky wählt zwei für ihre Leser aus, die vierjährige, etwas zurückgebliebene Herta, Tochter einer Landstreicherin, und ihre achtjährige Freundin Trude, die ebenfalls kaum begreift, was um sie herum vor sich geht. So werden beide aus Spaß von den Räuberhofjungen auf dem Armenkirchhof in ein Loch gelegt und, gemäß der Inschrift, zugebuddelt, ohne daß die andere eingreift, wenngleich die Jungs mit Herta Mitleid haben, weil sie hübsch ist; erst der greisenhafte Kirchhofwärter zerrt Trude schließlich, etwa so “wie ein alter Affe eine Gliederpuppe ergreifen würde“, an einem Arm aus der Grube heraus.

Bis hierher schildert Katarina Botsky mit aller Deutlichkeit und in klar faßbaren Bildern diese Welt, ohne Mitgefühl für die in ihr agierenden Geschöpfe zu zeigen, denn es geht ihr offensichtlich um eben diese klare Sicht ohne vernebelnde Sentimentalitäten. Als schließlich noch eine uralte, nicht sehr helle Frau auftaucht, die auch einst Ziehkind gewesen war und noch immer sehr schlecht behandelt wird, scheint sich das beschriebene Grauen nur noch weiter zu verdichten, ohne daß auch nur ein Funken Hoffnung zu erkennen ist. Dann aber bleibt die kleine Herta allein, nur die uralte Frau sitzt noch teilnahmslos auf ihrer Bank, auf dem Hof zurück, nachdem ein großer Bengel sie auf den ziemlich hohen Rand des Wasserbeckens gesetzt hat, bevor er reingerufen wurde. Hier scheint sich die Erzählung nun zu wenden, sie bekommt etwas Märchenhaftes durch den Brunnen und auch dadurch, daß die Herta sich den Daumen verletzt hat und blutet; es macht ihr sogar Spaß zu sehen, wie das Blut in das Wasser des Brunnens tropft. Dann jedoch verliert die Kleine plötzlich das Gleichgewicht und fällt hinein. Wird ihr jetzt etwa das Selbe zuteil wie der armen Stieftochter in dem Märchen Frau Holle, die von der Stiefmutter in den Brunnen gezwungen wird, um nach einer Spindel zu tauchen, dadurch aber in eine bessere Welt gerät, wo sie sich bewähren kann und aus der sie als goldene Jungfrau wiederkehrt? „Das steinerne Engelsantlitz am Brunnen“ scheint jedenfalls, als ein Schlafbursche die Kleine herauszieht und so vor dem Ertrinken rettet, traurig zu seufzen, und auch die Autorin seufzt nun gleichsam teilnehmend mit, denn nun stellt sie klar fest: „Sie war dem Schicksal der kleinen Meta nicht entgangen“, was so viel heißt, daß der Tod für das Mädchen besser gewesen wäre. Der Herausgeber des Bandes, Martin A. Völker, erläutert im ausführlichen Anmerkungsteil diese Feststellung, die Bezug nimmt auf das Märchen Die kleine Meta von Friedrich Hofmann, in dem jeder Blutstropfen des Mädchens zu einem blanken doppelten Goldstück wird, die alle von der Stiefmutter genommen werden, bis das Mädchen tot ist. Eine kurz zuvor in die Novelle eingeflochtene Bemerkung zu den Schlafburschen, die „bereits auf die Vorzüge der kleinen Herta aufmerksam zu werden begannen“, weist deutlich darauf hin, welches Schicksal Herta droht, nämlich gleichsam das der Leibeigenschaft und des sexuellen Mißbrauchs, denn ihre „Mama“ gehörte zu „jenen furchtbaren Weibern“, die solch ein Interesse nicht ungern sehen. Die uralte Frau auf der Bank, die auch Trude heißt, war übrigens stumpfsinnnig sitzen geblieben, als Herta ins Wasser fiel.

Die Novelle Ziehkinder ist eine beeindruckende, ungeheuer dicht gestaltete Erzählung, die all das menschengemachte Unglück offenlegt, ohne dabei die Schuld plakativ im Gesellschaftlichen zu suchen. Katarina Botsky spricht deutlich aus, was sie „sieht“ und behält dabei zumeist die notwendige Distanz, die es ihr erlaubt, das Handeln der Menschen, ohne sich zu einer verurteilenden Instanz aufzuschwingen, zu beurteilen, besonders auch und dann auch mit Teilnahme, wenn die Erniedrigten und Ausgebeuteten selbst an jenen zu Tätern werden, die ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Dieses Geschehen gestaltet Katarina Botsky mit meisterhafter Sprachkunst zu einem bedrückenden Drama.

Fazit: Der von Martin A. Völker mit Anmerkungen und einem sehr informativen Nachwort herausgegebene Band Katarina Botsky In den Finsternissen (Elsinor Verlag, Coesfeld 2012), der insgesamt zehn Novellen enthält, ist eine durch und durch lohnende Lektüre und mag, so ist zu hoffen, den Beginn der Wiederentdeckung einer Autorin bedeuten, die Literatur nicht aus Lektüre schafft, sondern aus eigenem Erleben und Erleiden und aus dem Beobachten ihrer Zeit, vom späten Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hinein in die faschistische Diktatur. Daß Katarina Botsky das Handwerk des Schreibens so meisterhaft beherrscht und für jeden Stoff, sei dieser schauerlich-komisch oder grauenhaft-abgründig, die richtige Sprache findet, macht die Lektüre insgesamt zu einem außerordentlichen Leseerlebnis!

(Sie finden alle Rezensionen hier!)

Katarina Botsky: In den Finsternissen. Novellen.

Herausgegeben von Martin A. Völker.

Elsinor Verlag 2012. 108 Seiten. ISBN-10: 3942788071

lissabon

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sierra : 6.52 — Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zim­mer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zende Pro­gramm­fens­ter geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungs­los in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Pro­gramm­fens­ter öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­nien dahin, lacht hoch zur Kamera, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorne ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­gra­fie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schuhe. Auch meine Mut­ter trägt Turn­schuhe. Ich fragte mich, wer diese Auf­nahme machte, und komme nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­gra­fen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­gra­fie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zim­mer her, dass das Mit­tag­es­sen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Laufe des Vor­mit­ta­ges geöff­net hatte, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss auf­ge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­che­ren Schrit­tes auf die Treppe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Pro­gramm­fens­ter nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu ent­de­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm herum, Fens­ter drän­gen sich in den Vor­der­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schritte auf der Treppe. Das Geräusch der Beste­cke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst ein­ge­schla­fen. — stop

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