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Inhalt 02/2015

Die Lesezeichen-Ausgabe 02/2015 erschien am 13. Juli 2015.

In dieser Ausgabe:

Gescheitelte Sterne, Jäger und Stapler, Maschi­nen­stimmen und Botox-Bakterien, Molly Bloom, Caspar David Friedrich und vollkommen schiefe Mauern, frei schwebende Erzählfäden, das Geheimwissen des Fritz J. Raddatz und gemachte Schularbeiten, konkret-poetische Montagearbeiten, Jodmangel, lederne Wamse und Augenmasken, Sprachpakete, die nicht ankommen, Mircea Cărtărescu … uvm.

INHALT:

Monsieur Crépon erkundet das Elsaß

Mit Marcel Crépon ist es ein wenig wie mit dem Teufel an der Wand. Kaum machen wir uns Gedanken, es sei an der Zeit, einmal wieder nach Monsieur Crépons Befinden zu fragen, langt elektronische Post aus kaum betretenen, beinahe schon klandestin zu nennenden Gebieten der rheinischen Sferiferie bei uns ein. Monsieur Crépons aktueller Bericht stammt aus dem elsässisch-badischen Grenzgebiet, dessen Trennlinie der bisweilen geradezu beängstigend begradigte Oberrhein markiert. Der Bericht indessen ist so reichhaltig an tief in die Lokalhistorie vordringenden Informationen in Wort und Bild, daß wir ihn – um unsere Leserschaft zu bannen und vor dem Wundscrollen ihrer bevorzugten Finger zu bewahren – auf eine Serie verteilen, die wir in den kommenden Tagen in loser Folge präsentieren wollen. Hier nun Teil 1:

“Liebes rheinsein,

Die Frage der Welterfassung nach objektiver oder subjektiver Art hat, seit sie formuliert wurde, nichts an Aktualität eingebüßt. Ja, wir tun uns manchmal immer noch schwer, uns zurecht zu finden. Täuschen wir uns ausnahmsweise nicht selber, kümmern sich darum Geräte, die uns eigentlich Hilfe leisten sollten. Damit wurde ich bei meinem letzten Ausflug konfrontiert.

Kaum losgefahren war es unverkennbar, daß mein alter Hermes-Navigator über Wege und Umwege, verschwundene oder neugebaute Straßen kaum Bescheid wußte, sodaß er jede sich bietende Chance ergriff, mich in die Irre zu führen. Eine Beschreibung aller befolgten Windungen und erlebten Widrigkeiten erspare ich Ihnen und komme direkt auf diese Neben-Nebenstraße, auf der ich, indem ich die Orakel meines orientierungslos gewordenen Hermes zu dechiffrieren versuchte, weder hinten von vorne, geschweige denn links von rechts zu unterscheiden wußte.

Welch eine Ouvertüre, werden Sie schmunzeln. Beruhigt im Wissen, daß Sie es nicht böse meinen, sondern vielmehr nachsichtig, fahre ich fort: vor mir stand plötzlich ein Mann, den einzuschätzen ich Schwierigkeiten hatte – abgesehen von eindeutigen Merkmalen, die über Jodmangel in seiner frühen Kindheit Auskunft gaben, die aber keineswegs, einem alten Glauben zufolge, regelmäßigem Trinken von Rheinwasser zuzuschreiben waren. Der Mann war weder ländlich noch städtisch bekleidet; weder ging er einer Beschäftigung nach, noch vermittelte er den Eindruck eines einfachen Spaziergängers.

Auf meine Frage ”Frankreich?” antwortete er mit einem Kopfnicken, verstärkt durch eine Handbewegung, wobei der Zeigefinger auf den Boden wies. Die Geste machte mich stutzig, denn ich konnte mich nicht entsinnen eine Brücke überquert zu haben, welche mich von der rechten auf die linke Rheinseite gebracht hätte. Wohl wissend, daß mein Akzent scharf genug war um jeden Verständigungsversuch zu zerbröseln, wiederholte ich meine Frage und bekam unverzüglich die gleiche Antwort. Und weg war der Mann.

Que diable venais-je faire sur cette route?”, fluchte ich in Zweifelslaune, wobei ich ”étais-je venu” hätten anwenden sollen: auf dieser Straße war ich schon seit einer Weile angekommen. Nun, was helfen grammatische Feinheiten, wenn rechts und links nichts als Felder zu sehen sind, die entweder bereits abgeerntet sind, oder noch darauf warten abgeerntet zu werden? Wenn das stumme Hinten dem nichtssagenden Vorne gleicht? Wenn die Nacht auf verheerende Weise eingebrochen ist wie sie es nun war? (…)” (Fortsetzung folgt)

Notizen zu „Recycling Le Tour de France“

 

[rltdfdok, deckblatt tl. 2: Notizen zu „Recycling Le Tour de France“]
Fortgesetzt als Serie Recycling Le Tour de France: Dokumentation & Materialien (rltdf)

 

 

Notizen zu „Recycling Le Tour de France“
Komposition für drei Soundboards, eine Yamaha PSR-420
und diverse, künstliche Stimmen

Dokumentation & Materialien

 

 

“…da spielen so viele Rollen einen Faktor,
dass es fast manchmal unmöglich ist, zu sagen,
was wirklich geschieht …”
Tony Rominger

 

 

 

Nach verschiedenen früheren konzeptuellen Arbeiten (1) rund um die Bereiche Recycling / Entsorgung (Erinnern / Vergessen) bzw. der Arbeit am Autorschafts- und Werkbegriff nimmt diese Arbeit das Recyclingthema wieder auf – in seiner wortwörtlichsten Bedeutung, allerdings.

“Recycling Le Tour de France” versteht sich als konkret-poetische Montagearbeit, die aber auch überkommene Text-, Hard- und Softwareformen, d.h. Sprache, Sound und Technik zerlegt, anwendet, rekombiniert und daraus neue, ästhetische Gebilde formt.

 

 

—————————————-
(1) “jetzt ist es ein kunstwerk” – 100 Flooksbooks nach Sam Kautsch (2012), “The Chomskytree-Haiku (Rhizome(Rhizome)) / TCT-H (R(R))” (2011), “Ueberich I. Datenbank der Realfiktionen / Database of real fiction 1(2)” (2011).“ikindle” (2011), “ONPOS – Wörter, die es gar nicht gibt” (2010), “Das blaue Buch der Weissheit.” (2010), “Bibliotheca Caelestis. Tiddlywikiroman.” (2008)

 

9783905846294

 

Farah Days Tagebuch, 31

Freitag, 29.Mai 2015

mein leben als stapel
ich bin so groß. doch so gut ich mich auch schichte, die hohlräume werden nicht kleiner.

: wie gewandt der fremde mit den kids umging, da konnten wir uns alle ein blatt rausnehmen. die kriegten sich kaum noch ein!
einer kleinen, pickeligen, die sich weigerte, lieh er seinen kopf wie eine vorratskammer:
s o macht man das.
hat ihre abwehr notiert, als ob sie ein text wäre und ihre abwehr wurde ein text und sie schrie: „das dürfen sie nicht aufschreiben, was ich schreie“ und er ließ sich gar nicht beirren, notierte auch das, gab ihr das blatt und sie zappelte und las und sagte schließlich:
„okay.“

– geht’s denn je um etwas anderes? sich sein blatt zu eigen machen. darum drehen wir uns. jenen, die’s nicht können, leihen wir unsere köpfe als zwischenlager.
wir sind jäger und stapler.

mein leben als stapel begann vor langer zeit, da war ich noch nicht hoch; seitdem wachse ich. ich seh‘ viele von meiner art. nur wenige von uns sind stabil.
ich selbst hab’ gewellte blätter, auch demolierte; auf kante kriegt man mich nicht mehr.

die hölle, das sind die anderen: die noch dazwischenzukriegen. aus liebe oder solidarität. andere gründe lasse ich nicht gelten.
stapelleute, die alles auf kante haben, weisen die Gewellten natürlich zurück. könnte was durcheinanderkommen, ihr wollt nicht neu gemischt werden, stimmt’s? ein anständiger stapel tut sowas nicht.

ihr müsst aber.
sonst lebt ihr im rechteck.
ich sag’ euch das nicht gern.

also, weiter. an meiner verständlichkeit muss ich noch arbeiten, weiß ich. ich hab mich nass gemacht, meine schriften vermengen sich, gefühle pappen aufeinander als gehörten sie zusammen. das ist euch doch nicht fremd?

ich mag mein leben als stapel nicht mehr, will in die fläche.
fläche
(komm‘ doch mit. breite dich aus.)

nur noch ein einziges, riesiges blatt.

TROMPETER

Trompeter ist kein Einbildungsmann.
Ich sah ihn zum ersten Mal im Hegelhof.
Vielleicht hatte Hegel keine Trompete, auch
keinen Hof, der Mann hatte keine Hegeltrompete.

Kehle und Unterleib erfüllt aber Trompeter
in seiner spontan inszenierten competition
mit seinen Doppelgängern. Die vielen jungen Männer,
wie sie so enggedrängt und äußerst aufmerksam

zur Tür hin schauen, auch auf den Kreis
in der Mitte, wo nur Trompeter steht,
alle andern, auch der mögliche Schlagzeuger,
stumm und ganz Ohr. Es gibt nur Trompeterton,

der sie alle trifft, das Kommando
zum Lauschen und Sitzenbleiben, eine zutiefst
befriedigende, noch unsichtbare Lähmung.
Trompeter scheut wie so oft das Licht,

berührt den Sampler mit seinen nackten Zehen,
wird nicht frieren. Er beugt sich nach rechts
und nach links; in gewissen Abständen tropft dann
Speichel ab, für die meisten nicht wahrnehmbar.

Trompeter streckt die Trompete dem Mikro entgegen,
dreht sie nach oben, über den Kopf hinweg,
das alles beinahe in völliger Dunkelheit,
als wär die unbemerkt von der Decke herabgesunken.

Trompeter ist eine Weile nur Nachbild,
während das Raue, der Stoß, die Stoßfolge
durch den Sampler vorbereitet wird auf viel sanftere
Weise als beim noch unbegleiteten Stück.

Nur kurz ist Trompeter allein mit seinem Instrument.
Danach tritt die Trompete vielfältig
aus allen Lautsprechern hervor, als wär sie
eine fremde, aus der Ferne herbeigeholt.

Trompeter gibt sich am Ende die Gelegenheit,
seiner Trompeterstimme zu antworten, mit einem Dauerton,
zu dem er sich Luft holt aus beiden Backen,
während ganz von allein die Nase weiteratmet

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Geschichten aus einem buddhistischen Kloster

1.

“Wenn wir essen, sollten wir schweigend essen, um es auch wirklich genießen zu können. Wir reden ja auch nicht während eines Konzerts”, sagte Meister Tan Ze eines Tages zu uns.
Beim nächsten Essen schwiegen wir. Alle 200 Mönche. Es war nur das Schlucken und Schlürfen, das Kauen, Schmatzen und Rülpsen zu hören.
“Vielleicht sollten wir doch lieber wieder reden”, sagte Meister Tan Ze nach dem Essen.
Wir dachten lange über diese widersprüchliche Lehre des Meisters nach, kamen aber wie immer zu keinem Ergebnis.

2.

Eines Tages zeigte uns Meister Tan Ze, wie man einen Garten pflegt. Er nahm eine Liege und legte sich mit geschlossenen Augen für mehrere Stunden in die Sonne.
“Habt ihr gesehen, wie man es macht?”
Wir waren alle sprachlos, denn er hatte ja nichts getan.
“Oh doch”, sagte Meister Tan Ze, der uns wohl an den Augen ablas, was wir dachten. “Ich habe sogar viel getan, nämlich nichts, was schwierig genug ist.”
Am nächsten Morgen meldeten wir uns alle mit unseren Liegen zur Gartenarbeit.
Da wusste ich wieder einmal, dass es richtig gewesen war, in dieses Kloster zu kommen.

3.

Eines Tages erklärte uns Meister Tan Ze die Unsinnigkeit von Geld.
“Stellt euch vor, dass wir statt Geld Schulranzen als Währung hätten. Dann hätte ein Millionär eine Millionen Ranzen. Und wäre er glücklich? Nein! Denn er könnte ja auch eine Milliarde Schulranzen besitzen. Oder jemand könnte im Lotto Ranzen gewinnen. Und das, obwohl er gar keine schulpflichtigen Kinder hat. So viele Ranzen würden ihn unter Druck setzen. Er würde unglücklich. Deshalb strebt nicht nach Ranzen, denn sie wären nur ein Ballast für euch.”

4.

Eines Tages sprach Meister Tan Ze über die Angst. Darüber, wie unsinnig sie sei.
“Ihr wisst nicht, was kommt. Es kann schlimm werden, z.B. wenn ihr wegen Zahnschmerzen zum Zahnarzt müsst, aber es kann auch viel, viel schlimmer werden. Warum also darüber aufregen? Eure Angst war völlig umsonst bzw. gar nicht groß genug. Versteht ihr?”
Da verstand ich ihn wieder einmal nicht, aber ich blieb.

5.

In meinem ersten Jahr sagte Meister Tan Ze eines Tages zu mir: “Peter, baue eine Mauer für unser Kloster.”
Ich ging also hin und errichtete eine Mauer, die so schief war, dass man sie kaum ansehen wollte.
“Oh, Meister”, sagte ich, “die Mauer ist vollkommen schief.”
Meister Tan Ze betrachtete mein Werk und sagte: “Warum siehst du nur die 998 schiefen Steine und nicht die zwei, die fast gerade gesetzt sind?”
Da verstand ich ihn wieder einmal nicht, aber ich blieb.

6.

“Wenn wir eine Entscheidung treffen wollen, sollten wir uns in Geduld üben”, sagte Meister Tan Ze eines Tages. Er saß vor einer Schale mit Nudeln. “Ich weiß nicht, ob ich diese Nudeln essen sollte.”
Meister Tan Ze saß stundenlang, schließlich wochenlang vor der Schale.
“Seht ihr”, sagte er, “ich habe gewartet, welche Lösung das Schicksal für mich findet. Jetzt sind die Nudeln so verdorben, dass ich sie nicht mehr anrühren möchte. Die Zeit hat für mich entschieden.”
Da verstanden wir ihn wieder einmal nicht, aber wir blieben.

 

Brezelautomat und Dominas

In dieser Stadt, so lasse ich mir sagen, müsse die Dose immer dicht am Fuß gehalten werden. Noch bin ich nicht streetwise und hardcore. Meine Röcke wippen, mein Brunnen wispert, mein Märchen beginnt immer : „Es war einmal eine Rapunzel und schor sich das Haar raspelkurz…“ Es gibt aber gar keine Märchen in Lack und Leder. Jedoch: Was lässt sich nicht sagen und schreiben? Beispielsweise: „Erzähl doch mal vom Brezelautomaten.“ (Schwör!)


Es war einmal ein Galanteriesattler, der hatte sieben Töchter, eine schöner als die andere. Die hob er, wenn ihre Röcke lang genug waren, hinauf auf die Ladenschilde und band ihnen die ledernen Riemchen an die Fesseln. So standen sie gülden und rötlich und braun und schwarz und gescheckt und warben für sein Geschäft.


Um die Ecke dort wohnen heutzutage Darth Vader und seine Kumpel. Der Herbst-Kaiser lebt Parterre. Das scheint mir eine Allegorie auf das Handwerk, die Kunst und das Leben. Oben wird’s derzeit düster und väterlich. Der Patriarch zieht die Treppe hinunter und richtet sich beschaulicher ein. Im Vorgarten werden derweil von Migrantengärtnern Palmenkübel aufgestellt. Die Gartenmöbel dazu wirken albern mediterran. Allerdings: Das Klima wandelt sich. (Schwör!)
 
 
Da kam ein Prinz geritten auf einem schäbigen Gaul vom Messegelände her. Die alte Mähre trug einen verschlissenen Sattel, doch der Prinz heroben machte eine stattliche Figur und warf seine dunkle Mähne verführerisch über die Schulter. Die Mädchenaugen zuckten und eine nach der anderen stiegen sie herab von ihren Schildern, um dem Gaul in die Zügel zu greifen und den Prinzen aus dem Sattel zu heben.


„Bitte haben Sie Geduld.“, mahnt eine blecherne Stimme aus der Wand des Süpi-Discount- Supermarkts. Grad werden die Brezeln gebacken. Immer frisch und frank. Dann öffnet sich das Schiebetürchen. Sie fallen, scheinbar, voll automatisch und hygienisch in den Greifschlitz: eins, zwei, drei, vier. Nur wer sich traut, tritt hinter die Wand und sieht die Einheimischen als Niedriglöhner die Teigwaren in die Ofen schieben. (Schwör!)
 
Da stand er nun, schön, stumm und ohne Penunzen. Aber die sieben Weiber überschlugen sich geradezu. Eine nach der anderen eilten sie in die Werkstätte, grapschten die Peitschen, die vergoldeten Sättel, die ledernen Wamse und Augenmasken, die Mieder und Handschuhe. So standen sie zuletzt vor ihm, dem schüchternen Prinzen und seinem elenden Pferd: Sieben Dominas in der Lederstadt und öffneten lüstern ihre Münder. 


Den Rest kann ich nicht entziffern. Im Bahnhof wirbt ein Gott ohne Telefonnummer um Anrufe. Er weiß: „Gut, dass ich dich nicht sehe, wenn das Licht ausgeht.“ Alles wird aus Versatzstücken wahllos zusammengepfercht. Nur so entsteht Schönheit. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Es kann die Kargheit sich nicht mehr attraktiv machen in unserer Zeit. 
 
Er stotterte, sie plapperten. Er zögerte, sie fassten zu. Halb zogen sie ihn, halb sank er hin. Als der Vater, der auf einem Kundengange gewesen war, zurückkam, war es längst um ihn geschehen. Nichts blieb dem Alten, als verzweifelt die geschundenen Gerberhände vors Gesicht zu schlagen. Den armen Prinzen hatten sie zwischen sich unter galanten Geschenken begraben, ach die ledrigen Luxusweiber. Als er sich nicht mehr rühren konnte, kletterten sie geschwind zurück auf ihre Schilde. Der alte Mann führte den klapprigen Hengst, der vor der Türe gewartet hatte, in seinen Stall und gewährte ihm fürderhin ein Gnadenbrot. 
 
Und wenn sie nicht gestorben sind, so lassen sie den Prinzen, der so dünne geworden ist wie seine Haartracht inzwischen, noch immer nach ihren Peitschen tanzen.
 
Die Gentrifizierung schreitet ungebrochen voran. Im Hafen wird wieder nach Gold geschürft.   Läuft doch. Happy End.(Schwör!)

Rache für den Marmortraum (Das finale erste Kapitel zur „Kardinalität der leeren Menge“)

Vorbemerkung: viele Skizzen des als „Kardinalität der leeren Menge“ angedachten Textes sind bereits andernorts – immer wieder in verschiedenen Variationen aufgetaucht. Im Grunde – und das werden Sie gleich selbst feststellen, wenn Sie den Fließtext erblicken – ist diese Arbeit, dessen erstes finales Kapitel also nun folgt, kaum dazu imstande, eine Leserschaft zu generieren. So etwas könnte man aller Wahrscheinlichkeit nach einen „toten Text“ nennen. Andersherum aber ist dieses erste Kapitel sogar ungeheuer lebendig. Es hat tausend Geschwindigkeiten und mehr als nur vier Dimensionen zu bieten. Der Beginn führt sogar ein, zwei Sätze, die dann in die Hochzeit auf dem Lande abbiegen und dort eine ganz andere Reise vor sich haben. Man kann diese Prosa wie einen Farbballon betrachten, der auf eine Oberfläche trifft und seinen Inhalt zerstäubt. Passenderweise bedeutet Ballon in seinem Ursprung genau das.

Aus gutem Grund wird das das einzige Beispiel eines solchen Ballon-Textes auf GrammaTau bleiben – und der ist freilich nicht darin zu suchen, ein etwaiges Geheimnis hüten zu wollen, obwohl es natürlich eines gibt. Doch das ist gegenwärtig so uninteressant, dass es nicht der rede Wert scheint. Vielmehr ist GrammaTau ja auch ein Magazin, das ich in meine Arbeit miteinbeziehe, also sollte ich auch diesen Schritt nicht unter den Tisch fallen lassen.

 

1. Rache für den Marmortraum

Lange folgte uns der Gedanke, durch Äste und Zweige gesiebt der Sonnenstrahl, präsentiert von einem Blaunachthimmel, das verfallene Haus in der Mühlgasse aufzusuchen. Häuser sind uns ähnlicher, sind uns Ummantelung. Das Innen ausgestülpt.

Von hier aus gesehen : du erschienst mir wie ein lebender Quell, bist nun Quell; du erschienst mir wie der Docht einer Kerze, den ich entlang flamme.

Von hier aus gesehen : Ich bin von allen Früchten die Frucht, bin in allem Lieblosen dem Lieblosen fremd. Ein Mund/oder noch ein Mund; ein Mund spricht, der andere versiegelt küssend durch Obstgeräusche, Mus-Lippen.

Ich laufe herum, du weißt : sitze da, sehe dich an. Es riecht nach Kaffee, nach ‹ganzen Bohnen›, und du bist schön. Ich sehe alle deine Jahre; und wenn du tanzt – !

Die Spiegel werfen mich erst nach meiner Ankunft wieder zurück (in allen Wogen der Verdammnis : ein altes Herz wird endlich jung.); Nebel schwankt auf torfiger Erde um das Land herum, wartet auf das Sönnelein, das zwar schon seine leuchtenden Arme ausstreckt, aber noch nicht in das Herz der Nebelbank hinein greift.

Noch nicht : verzischt der Schleier der Wolkengespinster. Geisterhaft geckern die Stimmen der nicht mehr anwesenden Kinder von der groben Steinbrücke, brechen sich an den Gebäuden entlang der einen Straße, kehren lallend zurück : ‹Achtet auf den Widder! – idder idder idder – !!

Fluss gurgelt, Nebel weicht nicht; auf der Wiese stehen Schatten. Es sind die Schafe, die schüchtern Gras rupfen vor der hölzernen Wand, hinter der sie ihr Nachtlager wissen/missen. Die Tore geschlossen. Achtet auf den Widder! Wollköpfe schnellen lauschend in die Höhe, schwarze Münder blöken. Die Kinderschar lacht, löst sich auf, nicht mehr als eine weitere gespenstische Erscheinung. Die Steinbrücke befindet sich wieder leer. Als auch der Nebel endlich heimgegangen ist, steht das Dorf wie ein beginnender Frühling, still und warm, an seinem Platz.

Stell dir vor, du gingst spazieren und sähest dich selber mit angstverzerrtem Gesicht auf dich zulaufen.

In all den Nächten gab es keine ausgelassene Stimmung, nicht die Heiterkeit, wie eine Sau durchs Dorf getrieben, in den zynischen Ursprung des Gelächters hinein. Die Zeit schrumpfte zu einer festen Kapsel zusammen. Ein Meuchelmorgen lässt uns waten in finsterem Gemäuer. Von zeitzernagten Scherben ging eine ängstliche Stille aus, als wir das Zimmer mit der zerschmetterten Puppe auf dem Boden schließlich fanden. Abyssales Augenwerk riss Löcher. Zur Hälfte denke ich, es war ein Traum und die Überraschung rührte daher, die schwere Pforte, die eigentlich verschlossen sein sollte, geöffnet zu finden. Eine gewisse Stimmung von wild wuchernden Büschen, ein Scherz von Dornröschen. Dieses Haus steht lange schon leer, Caspar David Friedrich hat es gemalt in ‹Abend am Fluss› : zugerankt von Ginster und Efeu. Die Steine vergessen nichts. Ihre Erinnerungen fließen langsam wie ihre ganze mineralische Existenz. Geduld macht sie unsterblich. Wenn der Dunst an ihnen reibt, erklären sie sich bereit, flüchtige, ikonische Gedanken abzusondern. Die Pioniere tiefer Erdschichten sind die Archivare der Zeit.

Man erkennt nur selten einen Namen, oft aber ein geflüstertes Wort, noch öfter ein verschallendes Lachen, dem man besser nicht folgt.

Keine Heiterkeit findet sich dort, wo es endet.Der Flug ist Augur in den müden Augen, die das eine Zeichen deuten können, das andere aber übersehen. Der Vogel weiß nichts davon, gelesen zu werden, so wie Buchstaben nichts davon wissen.

Was steht hier? – Das ist einerlei. Was aber bedeutet es?

Auch der Seelendienst, den ich heute spendete, ist ein Gefäß meiner Tugend; ich stehe nicht ohne Grund über mir. In dieser verblüffenden Haltung warte ich auf die Antwort (ein Echo) die (das) stets in mir lauter wird. Ich kann mich nur dann irren, wenn ich nachdenke, das Irren zum Irren mache. Ich beobachte, wie sich die Seile des mir Erzählten rühren wie jenseitige Stricke (ohne das gesetzliche ‹Hier›).

An diesen Webebalken hangeln sich die Figuren entlang. Da es meine Stricke sind, kenne ich ihre exakte Länge. Heute Nacht war ich hellsichtig (es funktioniert nur im metallischen Mantel der Nacht), weil ich aus dem Zustand des Einschlafens gerissen wurde, da war es drei – jetzt ist es halbfünf; die Vögel proben ein erstes Gespräch über Frühbeute. Nicht selten bemerke ich an mir den Reiz, den Übermüdung ausübt in einer weiteren Nacht ohne wellenförmige Schlafphasen.

Scherben fingen das Licht und wir schlugen uns einen Weg durch Brennesseln, Disteln, Dornen; betraten das verfallene Haus durch die offen aus dem Mörtel balkende, morsch trauernde Tür. Als erstes gewahrten wir die Puppe, die einsam im Dreck auf dem Boden lag; ein Symbol unserer rätselhaft erscheinenden Welt. Gefahr stand in der Luft, stank aus den Mauern heraus. Ohne diese vergessene Puppe, ohne die verlassenen, vom Tisch fortgerückten Stühle, die offenstehenden Küchenschränke, wären wir gar nicht so besorgt um die Vergangenheit gewesen. Wenn wir wirklich sehr vorsichtig sind mit der Wahrheit, dürfen wir unsere Laster behalten (Gula, Luxuria, Desperatio); zumindest behaupten das die alten Bücher, die hinter der Kommode in der Küche Deiner Mutter verrotten, ihre Flügel strecken, flattern.

Sie stand mit geröteten Augen im Raum : »Rate mir!« – und sie lehnte den Kopf und ich riet; »Beruhige mich!« – und ich rührte Ruhe an wie dickes, nasses Fell. Um sieben weckten mich die Träume, die in die beiden Schlafkissen gefallen waren, weil ich sie, entkräftet, nicht zu halten vermochte.

Meine Trümmer des Schlafs : Ich komme nach oben, sehe ein abgeschmacktes Licht, einen wartenden Tag. Er wälzt, wälzt, wälzt sich im Bett, der Tag; träumt, hält fest an dem Traum. Der Wahnsinn : ‹Du Wahnsinniger› ! : Auch ich bin ständig mit dem Trommelrevolver unterwegs! Nein; ich fasse mich an. Der Instinkt des Traumes ist stets erotisches Schweinelager, stets voll … und voll …

Die Laken : stinkendes, krustiges Blut und Nahrung (oder Rätsel).

Das Fass, das der Böttcher botticht hat nichts zu tun mit dem Böttcher, der den Bottich fasst.

Die Uhr bleckt ihre Zwölf-Uhr-Zunge; ob sie’s gleich weiß, dass sie die Zeiger stemmt? Auch ein Labyrinth : die Feder lassen im Gehäus’, Henkerpendel über dem Schlafenden.

Es folgt : der letzte Traum in Federwogen; Nachtmahr, Nachtmahr, meck, meck, meck. Schnarcht mit Pfunden Laken über sich.

Kein Lichtstrahl findet je zu seiner Quelle zurück; Jahre alte Seifenstücke in einem Nylonsäckchen, modriger Geruch. Die Idylle in Puddingfarben. Hier leben die, die sich ihre Hände mit Schnaps waschen, den Kuhstall abschwemmen, das Spiel beobachten, Lust gewinnen, begehren, was sie sehen, sprechen : »Komm rein und bring die Wäsche mit!«; als ob ein Hammer auf die Bergkämme schlägt; ein Meister der Skulpturen, dieser trampelnde Gott; doch wer hat so ein Antlitz je mit eigenen Augen gesehen, vom Feuerrot umzingelt, wie die wunderliche Walküre, die dem Einen harrt?

Der Wind bläst die Laken vom Gestänge, das Hanfseil pfeift polyphon auf allen Flöten des Pan das Lied einer Begegnung; die Mädchen holen Wäsche ein, decken Töpfe zu; die Gärten werden abgesperrt, die Läden schon geschlossen. Observiert durch dünne Wände, hingegeben der Evolution : Vielfalt der Skelette, atemlose Wunderwelt.

Aufmerksam wurde ich durch ein knarzendes Dielenbrett. Worauf spielte es an? Im Universum geht Energie nur dann verloren, wenn wir nicht mehr sind.

Es war nur natürlich, dass sich hier Staub sammelte, wie Gespensternebel in den Ecken kreiselte. Durch die offenen, teilweise eingeschlagenen Fenster schwirrten Pollen herein, die im Sonnenlicht schwebten.

Die Natur sah nach, ob sie sich ein Stück Zivilisation zurückerobern konnte. Gräser wuchsen aus den Fugen, Unkraut fingerte zwischen den Dielen hervor.

»Sie hat sich bewegt«, sagte Steff, deutete auf die verrenkt daliegende Puppe. In Wirklichkeit lag sie schon die ganze Zeit so seltsam da. Wir wussten alle, dass er eigentlich etwas anderes meinte. Das Fürchterliche fanden wir im angrenzenden Zimmer. Dort hing ein blaues Kleid auf einem Bügel an der Tür eines leeren Schrankes.

Der gespannte Gummi wäre lieber die Saite einer Konzertgitarre, erträgt das Spiel der hüpfenden Beine jedoch klaglos, denn in der Vergangenheit gab es einige Vorkommnisse, von denen die Mädchen wussten. Wer in einem solchen Ausmaß Bescheid weiß, ist längst kein Gegner mehr, sondern jemand, der die weite Reise tun muss und ahnt, dass er selbst viele künstliche Stoffe enthält.

Die Regale : müde Bretter; Fluss: kaum hörbar; das Sonnenlicht verstirbt parterre an der Mauer, dringt höchstens in den Verputz, legt sich zu Ameisen, Weberknechten und Urmündern, die ohne Zwischenkörper gleich in den Proktos übergehen.

‹One Night Fits All› in dieser ‹Camera Silens›.

Ein isolierter Kellerraum, vom Leben nur Spuren, angeramscht, aufgetürmt. Wir tranken weißen Wein im Nachgras.

Die aufgestaute Hitze lungert wie eine Belagerungsmaschine um das Haus herum, die Sappeure jedoch scheitern, es bleibt kühl.

Worte verzehrten sich harmlos im Spiel, Zungen kauen von Koprolallern gehörte Schallwellen, spucken die Hülsen ohne Bedeutung über die Rinnsteine, Grenzlinien zur Unterwelt. Hier gerät alles in Vergessenheit. Befänden wir uns im Wald, würden wir Märchen nachspielen. Im Boden versteinern Muscheln, Quarzkristalle, Ammoniten, das Zirpen der Heuschrecken, wartend. In Sepiatinte geschrieben  : die Mär von den Wundern der Welt, die gezwungen sind, auf Erden zu verweilen, den Heidelbergensis

anzufeuern, Mensch zu werden, die Gestirne zu beobachten, Trank, Speise, Haus, Hof. Das gesamte Gebiet ein einziger Steinbruch, ein wörtliches Geröll, eine Ansammlung von Taten, unzuverlässigen Gespinsten; sie täuschen den Betrachter und er wird sich an der Kausalitätskette erhängen (ein merkwürdiger Tod).

Für einen kurzen Augenblick hielten alle den Atem an, weil Steff das Kleid mit seinen Fingern berührte. Dabei war es doch offensichtlich, dass diesem lackmusblauen Kleid das Haus gehörte. Wir alle konnten uns vorstellen, dass sich dieses Kleid, vermutlich zur Geisterstunde, mit Leben füllte. Steff zog die Hand damals rechtzeitig zurück, ohne dass jemand ihn dazu aufforderte. Dachten wir alle wirklich dasselbe?

Dass der Witwe das Kleid gehörte? Es war unwahrscheinlich, aber das Gefühl, das wir hatten, wenn wir ihr im Dorf begegneten, kam dem nahe, was wir in diesem Moment empfanden. Ein einziger Organismus, verloren in einer surrealen Welt, weil wir keine Eckpfeiler der Vernunft zur Verfügung hatten, mit denen wir unsere Vorstellung von ‹Raum› hätten abstützen können.

»Wir sollten lieber in die Scheune zurück gehen«, sagte Wolf. Er durchschnitt mit diesem Satz diese merkwürdige Stille, die nur aus Bildern des Verfalls bestand, uns nicht miteinander reden ließ.

Jetzt hämmern sie gegen die Tür. Sie wissen uns in diesem Augenblick erschrocken auf dem Bett kauern, auch wenn sie uns nicht sehen können. Dein Atem geht hektisch, überaus hörbar, Deine Hände gleiten von meinem Körper ab. Wie haben sie uns gefunden? Vielleicht sind sie uns gefolgt. Dass wir überlebt hatten, dafür konnten wir nichts. Es war Zufall gewesen.

Dort, wo die Wand in sich zusammenfiel, klafft eine Wunde. Nicht, dass die Wand nicht mehr da war, das Gestein unter Tapetenfetzen, Holz und Staub begraben lag, nicht, dass wir plötzlich hinaus sehen konnten, über das Schilf des kleinen Weihers hinweg, über den Wald hinweg, aber das Loch war da, unentdeckt von den Fängern, die an die Tür droschen.

Wir sehen das Blut Schlieren ziehen, ein wässriges Rot sammelt sich vor dem Tisch. Natürlich war hier jemand ermordet worden. Und noch immer hämmern sie gegen die Tür. Du schlotterst so sehr, sagst: »Mach dass es aufhört!« Aber ich kann nicht. Ich bin  nicht befugt, etwas zu ändern. Schließlich habe ich sie gerufen.

Wir kehren jetzt zusammen zurück in den Ozean. Du hast keinen Namen, du bist der Succubus; alle Säfte sind Milch und Honig, alle Höhlen und Löcher der Erde sind die Tore zur Gottheit.

Ein Ort, in Länge und Breite begrenzt, nach oben unendlich. Die Abende schossen aufs Dach, also setzten sich die Schindeln auf die Fensterbank, Goldvögel anzuschaun, von oben nach unten.

Auf diesen Straßen führen die Löcher zu einem Platz, der verborgen im Herzen des Wahrnehmenden liegt, ums Bazaubernde, Zaubern, um Allmagie um uns herum.

Movemento : bewegt im Raum, Zeitketten anorganisch, Urgesichter, Uhrengesichter, Wildwechselmimik, die schönsten Regenschauer auf einen Blick. Ich bin jetzt niemand mehr und das ist die Knute der Vergeltung. Aufgepelltes Rosenrot, die tonnenschwere Last des unbeachteten Geschirrs, die molesten Stufen; kein Stock wird mich führen, kein Geländer mich hangeln. Auf und Ab ekstatischer seelischer Zustände, Gleichnisse, Traumgesichte in einem absoluten Tanz.

Aussehen : wie der Solomensch von Java.

Diese Wasser flossen nicht. Sie standen in ihrer Lake, nährten keine Lurche, keinen Schilf, und auch der Faulschlamm zersetzte sich nicht mehr speisend. Tümpel waren die Bäche an ihrer tiefsten Stelle, der Rest Gestein im Trockenbett. Wie mittelalterliche Pest stank die Luft, ein geheimer Zorn lag in den Dingen, den brachliegenden Augen.

Ich bin ihr im Traum begegnet, das wolltest du doch wissen? –  also : Ich bin ihr im Traum begegnet! Sie stand am Ende der Nacht, ihr Kleid reinster Mond. Ich hätte mich ihr genähert, bestünde mein Unterleib nicht aus reinstem Marmor, aus Karbonatgestein.

Fleisch wächst um den pränatalen Traum, die Flut umwirbt ihn, wir tragen dich, du wirst es sehen. Leben entsteht weil Leben entstand. (Oben nichts, alles in Ordnung.)

Ich konnte atmen, Traumluft atmen; atmete also von dieser bitteren Schwärze, die nicht wenig von Herrenschokolade hatte, während sie

da drüben stand, vor sich hin glomm, mich ihrerseits ansah (vielleicht träumte auch sie, wer weiß?).

In den Thermoskannen steht der Tee bereit; Zimtgeruch vertreibt die Stimmen aus den Nüstern, Rotz gefriert klammheimlich, glühend der Wein, die Lippen verbrennen sich an diesem kochenden Verschnitt, in den man Gewürzbeutel hängt; nur ja nicht zu lange sieden, der Geist

Geht sonst verloren, die Körper der zermalmten Trauben beleidigt im nächsten Erntejahr. Stimmen erheben sich zu einem lautlosen Vergessen. Wenn die Nacht nun kommt, das Auge streift, immer tiefer in das Grün, niemand folgt dir, bist losgelöst von allen Verbindungen, vor dir liegt das, was einstmals Felder gewesen, abgrundtief und ekelerregend. Die ausgestoßenen Produkte einer bizarren Gesellschaft, Blut geronnen, schwarz in seiner Fäulnis modernd. Wenn man in die Nacht hinausblickt, wenn man das Rauschen des eigenen Blutes hört/

Als ich erwachte : Das Wasser bedrängte mich, marmorne Härte gegen die Blüten der Bettdecke. War inmitten der Erregung dennoch erzürnt über die steinerne Fesselung. Ich blickte nicht nach rechts, wo sie schlief (sie stand wohl noch immer in meinem Traum herum, mochte auf die jetzt leere Stelle starren).

Schleppte mich ins Badezimmer  : da war einer, der das Gehen erst erlernt : die Beine schwer, die Blutschläuche noch angefüllt mit flüssigen Basalt. Ich schlug mir das Wasser ab. Es mag merkwürdig klingen, aber ausgerechnet hierbei kam mir die Idee, all ihre Kleider und Schuhe zu verbrennen, nennen wir es nicht Rache.

Wenn dich niemand beobachtet, wenn du in dir hockst, kerkergerecht aufgemacht, Lippen wie Glukoseschimmern, Augen wie ein See am Abend; es ist nichts in dieser Nacht.

Du würdest gerne in ein Nachtbuch eintragen : Die Realität ist das, was das Nichts tut, wenn es sich langweilt.

Der Mond leuchtet den Wichteln, Trollen, Barstukken, leuchtet jenen, die selbst nicht glühen und in ihrer hölzernen Hand keine Laterne mitspazieren lassen. Stock und Stein, Wurzeln, Farne : leuchtet der Prozession hinunter ins Dorf! Wölfe küssen feucht.

»Was ist mit den Räubern?« Sie lercht, lächelt nicht in ihren Gummistiefeln, die ihr bis knapp unter die Knie reichen; sie biegen sich noch kaum, starren um ihr schmales Gesöck herum, stempeln die halbtrockene (halbnasse) Erde, ritzen Dagewesenes hinein.

Und dann gibt die Erde nach; sie stampft noch etwas tiefer, blickt mit gemarterten Augen auf zu den Gesichtswipfeln, die vor einem aschfahlen Himmel wippen, Bärte daran gekauert.

Überall nur sie, in allem, was vergeht. In den Bäumen raschelt ihr Name, in jedem Gewässer ist sie Loreley, hinabgestürzt vom Fels, auf dem sie sich kämmte und für den Tod der Seefahrer herausputzte.

Hinab zog’s Schiffer und Kahn. Ich weiß auch nicht, was soll es bedeuten!

Jetzt aber zieht es mich zum Geäst, dem Gewölle, der Blüte im Unterholz. Ihre Form löst sich von den Zweigen. Wohin mein Blick auch schweift, ich bin verloren. Denn es gibt merkwürdiges im großen Abgrund, und der Traumsucher muss aufpassen, dass er nicht das falsche aufstöbert oder ihm begegnet.

Davor : wenn wir gestaltlos nur Gedanke sind, vom Leben träumen, geträumt vom Leben träumen. Ich steige in den Trichter der Unendlichkeit. Was Zeit mir ist, das muss sie mir beweisen. Die Geschichte in der Schleife.

Beim Spazierengehen ein Mann am Eingang einer Höhle, eine Windmühle zimmernd, von Omen stotternd. Ein Haus, aus einem verdorbenen Magen gewürgt, Gallensteinfarben mit einem völlig verzweifelten Duktus gegen die tannengrüne Grundierung gemalt. Als wir noch als Kinder durch den Garten der Welt das Fallen von Gegenständen beobachteten, nicht die Entzauberung der Welt vor Augen hatten, die Katastrophe nicht mitgedacht. Nur das Gefühl lehrt Wesentliches, roter Streif am Firmament.

Ich sehe : ich habe Haut, die, wenn ich sie aufreiße, eine rote Substanz enthält. Die alten Poeten erträumten sich das, was wir uns heute erschlafen. Bachen und Keiler liegen im wohnlichen Dreck, von aller Sauberkeit befreit, Kissen aufgeschüttelt.

Die ehrenwerten Hotelnächte, die sich in der Nähe eines defekten Elevators um den Flur herumwickeln, kenne ich nicht anders.

Ich male alles in Wachs. Das ‹Abc› (man braucht kaum ein ‹c›) :

»Aaaapfel!« Dann raus, man ist Schriftsteller! Apfel, Biene, Dach

(man braucht kaum ein ‹c›). Cremé. Krem.

Der Wachsstift auf dem Tisch, meine Finger zum ersten Mal schriftklebrig. Wie ein unbewusster Nebel werde ich auftauchen, die Stimmen gleich hinter mir, nahe bei den Gestaden, die ich bewandle.

Nicht fassbar bin ich dort, wo nicht zu fassen. Suche mich dort, Wanderer, auf der Suche nach den Stimmen, die dir sagen, was ich dir sage. Die Stimmen gleich hinter mir, von Eros und Thanatos, den Mysterien der Wirklichkeit. Der Nebel voller Licht, darin die Gewalt : ein rein fließendes Chaos; Auftrieb, Abtrieb. Geschmeidiges Sein durchwebt die Stille.

Ich sage : »Still jetzt!«

Da du das Gespenst bist, das sich im Wald verirrte, da du der Bach bist, der neben mir geht. Ich fand frisch erworbene Demut an meiner linken Seite hinabtropfen, blutendes Weideland. Ich fand dich, ich folgte dir an den blinzelnden Augen vorbei, kam hinter dir her, folgte deinem Rücken, den Fersen, die Zeit aus dem weichen Boden schlugen. Das Licht wird grau : helles Grau, dunkles Weiß, vernebeltes Gelb. Ich wuchs heran inmitten dreier Flüsse. Ich existiere durch Sprache, die mein Leben ist;  die Welt ist die Sprache, die ich wahrnehme, die nicht die Sprache der Anderen ist. Zur Stille will ich gelangen durch Sprache, ich sage : »Still jetzt !« Ich meine die Dialoge, die sich anschicken, schneller zu werden. Chipmunk.

Die ganzen Stimmen, die vielleicht singen oder etwas jubeln oder etwas heulen. Ich war einmal ein Stein vor zweihunderttausend Leben, ein glücklicher Stein im Geröll, wasserdicht bis ins kleinste Mineral; unbedeutender war nie ein Stein. Doch fehlt er, bricht das Universum in sich zusammen und wird zu früh ein Schwarzes Loch.

Ich kann mich auf alles anwenden. Auf Dich, auf mich, sogar auf alle Tiere, schleichende Schleichen, also Anguidae, Flügel faltende Falter, also Lepidoptera. Manche davon bin ich in Bernsteinquadern, manche bin ich in den Lüften. Ob ich ein Ich bin, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Kein adäquater Ausdruck beschreibt den Zeitenkelch, der mich mottig anzieht, nichts kleidet mich mehr in ein Wunder als die Erinnerung, das ‹erinnerte Ich›. Als hätte ich erlebt, was ich zu erinnern fähig bin.

Ich kenne keine andere Nähe als die Berührung zweier Oberflächen. Die Hand – was sind wir davon, was bist du davon?

Ich spüre nur mich, du bist mein Widerstand. Bevor ich dich ansehen kann, bist du verschwunden. Wir sind nur Kinder im Vorgarten der Hölle, unser Paradies aus Schwefel.

Auch in Parahotelzimmern springt die Luft durch den statischen Auftrieb wie eine Bestie in die Ecken hinein, kaum schließt man die Tür, nur schließt man sie nicht im Bewusstsein daran, sondern im Clinch mit allen abstrakten Dingen, die sich in Sicherheit wähnen und aus diesem Grunde den Energiefluss hemmen. Dort zu verharren, käme einer Stagnation gleich. Zur Viole will gesprochen sein, sie übt sich kaum in der notwendigen Geduld, sich nicht immerdar ausleeren zu wollen. Trotzdem; du biegst hier ab, ein letztes Brechen der Wellen am Schrank, ein letzter Vorhang, der über den Wanst spannt.

Ungewollte Schatten, ihr Träger in Einkehr, geistern über die Erde, die selbst nur vage Umrisse hat. Die Raupe pelzig eingehüllt, später flügge, den dräuenden Irrfahrten nicht entkommen.

Der erste verbürgte Versuch, eine Straße zu bauen, begünstigt durch den durchs Haus turnenden Duft frischer Krapfen, die sich, ausgelegt auf dem Kellerboden von selbst vermehren.