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Inhalt 03/2016

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2016 erschien am 17. Oktober 2016.

In dieser Ausgabe:

Bombykol und andere Pheromone, Melancholie in feuchtwarmem Klima, motivisch ausgeprägte Wörterlisten, Poli­zei­kon­trollen romantischer Spitzen, ein Opernhaus an der Skelettküste, Gravuren von Schwingungen, himmlische Affentänze, die Gedenk- und Begegnungsstätte Arno Schmidt, das Rauschen gedruckter Bücher, Marc Tritsmans, Paul Snoek und Jac. van Hattum, Philemon und Baucis, Absagesätze, Sonette, häßliche Holzmasken, bei Eichendorff Geleastes, auf Catanias Fischmarkt Erstandenes … uvm.

INHALT:

mal wieder etwas nach Keith Waldrop

aus: Die Gestalt der Brücke (dt. von J.K.)

IV

Sie erzählte ihm was, egal was, erzählte eine Episode aus ihrem früheren Leben, in jeder Kleinigkeit. Dann sagte sie:

Was ich dir erzählt habe, erzählte ich noch keinem. Da kannst du mal sehen, dass…“

Die Geschichte wurde zögernd erzählt, mit Unterbrechungen. Jetzt wo alle Zweifel Vergangenheit sind, ist jedes Hindernis überwunden.

Da siehst du, dass ich dich liebe.“

Er fühlte sich in dieser Welt weniger aufgestellt, als gestrandet.

Was er zu Bewusstsein brachte — seine Wünsche, seine Wüste – was er auch anfertigte, in den Blick zog, anzog, der Gedanke, den er jetzt dachte, es war alles schon hier, ungedacht.

Unwiderruflich auf dem Tablett, gerade im Moment, da er es im Set auftauchen sieht.

Er ist ruhig trotz des himmlischen Affentanzes — DONNER UND BLITZ – und des irdischen Aufruhrs.

Er stellt sich eine Diskussion vor zwischen Hebräischen Propheten, die kein Wort für Körper haben, und Babylonischen Astrologen, denen das Wort für Mond fehlt.

Oder eine Kontroverse darüber, ob Gott zuerst die linke oder rechte Hand gemacht hat.

Jeder Stuhl hier hat ein zerfetztes Polster, eine zerbrochene Lehne oder ein schiefes Bein. Alle Türknäufe sind weg und die Fenster klappern.

Er hat sein Vertrauen in das Adagio gelegt, ein langsamer Fortschritt durch die Apotheose. Ein zarter leuchtender Brei, windbenetzt, überhaucht – die Blätter üppig in Licht getaucht, als gäbe es dies ohne Kampf.

V

Ich erwache plötzlich und stelle erst einmal fest, dass ich nicht mehr schlafe – dass keine Stille herrscht – dass mich ein Klang geweckt hat, ein ganz besonderer Klang, vertraut und doch überraschend.

In Paris, wie in anderen europäischen Städten, gibt es in Bussen ein ganz bestimmtes System der Bezahlung: man steckt seinen Fahrschein in den Rachen eines Entwerters, einer Maschine also, die den Fahrschein nicht nur locht, sondern auch Datum und Zeit aufstempelt. Wenn ein Kontrolleur in den Bus kommt, und man hat keinen Fahrschein mit den richtigen Datum, dann setzt es Ärger.

Dieses Entwerten macht großen Krach.

Aber die Maschine macht noch ein anderes Geräusch: sie hat eine eingebaute Uhr, die gelegentlich vorrückt, und ohne dass jemand ein Ticket einführt, ohne dass jemand sich zwangsläufig in der Nähe des Kastens aufhält, deutlich ein maschineller Ton erklingt – nicht wie wie beim Entwerten, sondern heller, dumpf zwar auch, aber etwas weniger dumpf.

Es ist dieses Geräusch, genau dieses Geräusch, das mich just in Providence, an einem ruhigen Morgen, weckt und irritiert.

Arnos Beeren

„Am Anfang zerstörte sein Arsch die erste Zelle.“

Das war der Satz, mit dem mich der Kurator, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus auf meine wechselnd, begrüßte. Er wies mit der Hand auf den Vorplatz, wie um ihn zu segnen.
Wir standen am Eingang; auch ich war eben erst eingetroffen. Eine Messingplatte, rechts von uns in Augenhöhe an den schmiedeeisernen Vierkantstäben befestigt, die die Einfassung des Geländes bildeten, zeichnete den Ort als Gedenk- und Begegnungsstätte Arno Schmidt aus. Die Platte war seit längerem nicht poliert worden.
Ich sah zum Gebäude.
„- Die erste Zelle?“
„Ja.“
Gesprächig war er nicht.
„Man kommt kaum hinein, ohne sie zu zerstören“, bemerkte ich. „Die Instandhaltung muss aufwändig sein.“
Er nickte. Noch immer hatten wir keinen Schritt getan.
Die Witterung mehrerer Jahrzehnte hatte auf dem großen Vorplatz ihre Spuren hinterlassen, unzählige tiefe Risse durchzogen die von der Sonne gebleichte Asphaltdecke. Weder Pflanzen noch Tröge, Skulpturen oder Springbrunnen lenkten den Blick des Besuchers vom Boden ab, der Platz war komplett leer. So musste jeder Gast bereits vom Eingangstor aus das Ausmaß der Aufgabe zur Kenntnis nehmen, der sich die Hüter der Institution täglich gegenübersahen.

In jeden Riss, jede Spalte der Asphaltdecke waren reife Erdbeeren gesteckt. Mit der Spitze nach oben.
Nicht gedrückt, dachte ich. Gesteckt. Jede einzeln. Große Erdbeeren für große Spalten, kleine für kleine, säuberlich nebeneinander, bis der Spalt gefüllt ist. Bis jeder Spalt gefüllt ist.
Der Kurator räusperte sich.
Ich wandte den Blick von den Früchten und sah ihn an.
„Es kommen zu viele Stipendiaten in letzter Zeit. Vor allem männliche“, sagte er.
„Das erhöht den Aufwand sehr, nicht wahr?“
„Ungemein“, bestätigte er. „Wollen wir gehen?“
Ich mochte aber nicht.
„Hat er sich draufgesetzt? Auf eine Erdbeere?“, fragte ich. „Schmidt?“
Der Mann nickte.
„Bei der Einweihung?“
Erneutes Nicken.
„Oje. Und seitdem – ?“
„Wir tun, was getan werden muss.“
Der Kurator nahm Haltung an, wie um der Bürde gewachsen zu sein und hob bedächtig den rechten Fuß.
„Kommen sie!“
Ich rührte mich nicht vom Fleck.
„Wo oft am Tag müssen sie die auswechseln?“ beharrte ich.
„Wir tun, was getan werden muss“, wiederholte er. Er sah mich an, sein Blick schwamm ein wenig.
„Sie weinen!“, rief ich. „Sie verklären ihn!“
„Sie sind Stipendiat“, erwiderte der Kurator mit Würde. Er nahm meinen Arm: „Lassen sie uns gehen, ich zeige ihnen ihre Zimmer.“

Jahre ist das her.
Meine Arbeit vor Ort ist längst getan und veröffentlicht, doch gelegentlich erinnere ich mich an diesen ersten Gang, die aufbrechenden Früchte unter meinen Schuhsohlen.
Zerquetschte Zellen.
Man gewöhnt sich daran.

Das Rauschen danach oder: warum ich meine Facebook-Freunde aufgeben muss, obwohl ich gar nicht bei Facebook bin

Dieser kleine Beitrag wird keine Ressonanz finden, also sollte ich mir damit entweder besondere Mühe geben oder gar keine. Ich werfe eine Münze, Kopf!, und entscheide, dass das bedeutet, mir keine Mühe geben zu müssen. Tue ich auch nicht. Was ich eigentlich nur sagen wollte ist, dass es in der kleinen Gemeinde der literarischen Weblogs in früheren Zeiten eine Vielzahl selbstorganisierter Diskussionen zu allen möglichen und unmöglichen (literarischen) Themen gegeben hat, die angeblich, so sagt man mir, nun zum großen Teil auf Facebook stattfinden. Tun sie das? Nun, da ich Facebook für außerdordentlich gefährlich halte (ungefähr deswegen: siehe hier und da), dies aber wohl nur auf Facebook zu diskutieren wäre, beende ich hier mal einfach meine kleine (imgrunde gar nicht statthabende) Rückschau auf frühere, andere Zeiten, in denen es diese besagten selbstorganisierten Diskussionen gab, die durchaus mehr waren als die Lieferung von Datenmaterial zu Kommerz- und Werbezwecken, die in sich geschlossen sein konnten und somit weniger flüchtig, Voraussetzung mithin, einen darauf sich stützenden werthaltigen, weiterführenden Diskurs überhaupt erst einmal lostreten zu können. Aber das ist nur meine Ansicht dazu, die ich durchaus nicht zur Diskussion stelle. Ergo stelle ich einfach nur fest, dass es geschafft ist, nämlich sich die Form des Umgangs miteinander von einem durch und durch kommerziellen, um demokratische Werte sich nur des Gewinns wegen kümmernden Weltkonzern aufoktroyieren zu lassen – einiger kleiner Vorteile wegen, weil es praktisch ist und leicht handhabbar und so weiter. Ein Armutszeugnis ist das und fast schon das Ende jeglichen Einflusses des Wortes im Internet, denn es wird nun nicht mehr als ein ewiges Blabla sein und in nicht allzu ferner Zukunft dann ein Übermaß an Videofilmchen, in denen das Blabla sinnigerweise zumeist aus dem Off kommen wird. Tja, das haben wir super hingekriegt, Leute, das mit dem Wort und der Literatur und dem Internet. Was bleibt ist das Rauschen danach. (Und vielleicht diese gedruckten Bücher! So viel Hoffnung muss schon sein, zuletzt!)

Polaroid 4 (Ausschnitt,NB) Norbert W. Schlinkert

Venlo

venlo_tritsmans

venlo_lucebert

Wandgedichte sind in den Niederlanden eine Spezialität der Universitätsstadt Leiden. Doch auch in anderen niederländischen Städten längs der Rheinarme fanden wir Gedichtzeilen an exponierten oder geschmackvoll verborgenen Stellen in die Stadtbilder integriert. Sin poesía no hay ciudad, ohne Poesie keine Stadt, lautete jüngst ein bedenkenswerter Slogan auf Werbebildschirmen im spanischen Cádiz. Das limburgische Venlo hat in dieser Hinsicht wohlweislich vorgesorgt. Bereits im Bahnhof prangt ein Wandgedicht von Marc Tritsmans. Und unweit des Bahnhofs ist Luceberts (1924-1994) uiterst klein rond deel am Eingang zur Innenstadt auf der Betonumfassung eines Baums angebracht.

venlo_paul snoek

Von unten nach oben zu lesen, also in umgekehrter Versfolge auf die Hauswand appliziert, ist dieses titellose Gedicht von Paul Snoek (1933-1981), einem belgischen Dichter.

venlo_jac van hattum

Zeilen von Jac. van Hattum (1900-1981) an der Stadtbibliothek setzen die augenscheinliche Venloer Vorliebe für nicht allzu lang verstorbene Dichtergenerationen fort.

NIXENSCHWEIF oder GRAMGLÜCK „Nur die Wellen wurden zaudernder.“

Am Anfang schienen die Machtverhältnisse klar: Die B. führte und die L. ließ es geschehen. Sie war verführt worden, wahrhaftig, angelockt wie eine leichte Beute und gefangen von der B., die mit all ihrer Erfahrung das Begehren der L. erahnt, verstärkt, gedehnt hatte, so dass die L. ihr verfiel, verfallen musste, als es soweit war. Dennoch spürte auch die B. schon bei jenem ersten Kuss, mit dem sie die L. in der Anstalt überwältigt hatte, wie sich in ihr etwas regte, eine Sehnsucht, die das bekannte Spiel überschritt, die nach Ruhe schrie, um Vergebung flehte. Noch verhallte das wie in einer tiefen, engen Schlucht und sie riss die L. mit sich, wie andere Geliebte zuvor, Männer,die sie liebend vernichtet hatte. Auch die L. gab sich auf: Beruf, Stand, Freunde, Verwandte. Folgte der B., wohin die sie führte. Ans Meer. 
 
Und hier saßen sie nun. Im weißen Haus über dem Hafen auf ihrer Bank wie Philemon und Baucis nebeneinander, noch nicht alt allerdings. Und da geschah es. Sie saßen, vier nackte Knie parallel gestellt, die Handflächen eine jede auf die hölzerne Bank gelegt, links die B. und rechts die L. Nicht einmal ihre Schultern berührten sich. Nur der rechte kleine Finger der B. streifte hauchzart den linken kleinen Finger der L. So saßen sie. Still. Die B. trug ein weichfallendes, silbergraues Chiffonkleid, ihre blonden Locken bewegte leicht der Wind. Das dunkle Haar der L. lag kurz und flach wie ein Helm um deren Kopf. Sie trug ein dunkelblaues T-Shirt mit weitem rundem Ausschnitt und enge Jeans. Das Bild, das sie abgaben, war idyllisch und fremdartig zugleich. Sie harmonierten miteinander und mit dem Hintergrund: dem weißen Haus und seinen grauen Fensterläden, dem hellen Blau des Himmels, dem dunklen Kopfsteinpflaster unter der Holzbank. Dennoch ging es nicht auf: Die B. wirkte wie aus der Zeit gefallen und die L. war viel zu klassich modern. Zu schön um wahr zu sein, sozusagen. Niemand sah sie so sitzen (oder zumindest nahmen sie niemanden wahr, der sie sah). Doch sie beide waren in jener Stunde ganz bei sich und hatten zugleich das Bild vor Augen, das sie abgaben. Sie spürten sich innig, wie in keiner Umarmung, keinem Kuss zuvor, vereint und doch getrennt, indem sie einander erkannten, als das, was sie sich sein würden: die Erinnerung an eine Nähe, die alle Sehnsucht stillte. All ihr Empfinden konzentrierte sich in jener Stunde in den winzigen Hautpartien, an denen sich ihrer beide kleinen Finger berührten. Sie wussten, dass sie einander niemals näher kommen konnten, egal wie heftig oder wie zärtlich sie den Körper der anderen vorher oder später erkundeten, einander nutzen würden, um sich der Ekstase zu nähern. Und alle Lust will Ewigkeit. Dachte die B. Da war es vorbei. Denn die Ewigkeit verging, sobald sie gedacht wurde. Sie haben alle recht: Ich kann nicht treu sein. Wusste die B. Und die L. sagte in das Schweigen hinein: „Wir haben doch einander.“ Das war kitschig. Unsägliche Lästigkeit. Und das Ende. 
 
Noch nicht sofort, selbstverständlich. Das Meer blieb. Der wunderbare Altweibersommer dieses Jahres. Sanft bräunte die Sonne die nackten Beine der B. und der L., die am Strand entlang wanderten. Ein Schiff wird kommen. Es schien alles offen, der Horizont, die junge Liebe, das ziellose Leben. Nur die Wellen wurden zaudernder. Die B. drängte es nirgendwo hin. Dieses eine Mal musste sie nicht gehen. Keine Szene machen. Niemanden verwunden. Sie wusste, das etwas Neues geschehen würde, schon geschehen war. Die L. würde sie verlassen. Mit viel Wut im Bauch. Wofür ich mich geopfert habe. Die B. fragte sich, wie es wohl sein mochte, verlassen zu werden. Sie forschte nach der Traurigkeit, die sie nicht empfand. Der L. sagte sie nichts davon. Die L. verhielt sich, noch im September und im Oktober, als gäbe es kein Morgen. Wir haben doch einander. Im November nahm sie die Gleichgültigkeit um die Mundwinkel der B. wahr. Noch gab es tränenreiche Versöhnungen. Ein sonderbares Weihnachtsfest, bei dem die L. über jedem Geschenk Tränen vergoss, sowohl bei denen, die sie bekam, wie bei denen, die sie verschenkte. Die B. wartete gelassen. Sie wusste inzwischen, dass sie nicht leiden konnte um der Liebe willen. Nur dieser leichte, bitter-salzige Geschmack auf den Lippen. Seeluft. „Ich werde verlassen“, dachte sie und fühlte nichts. Sie nimmt sich selbst zurück. Am Neujahrstag packte die L. ihre Sachen. Sie hinterließ kein Abschiedsschreiben. Sie fühlte keine Schuld. Noch nicht. 
 
 
Von oben kam nichts. Die Vivipara langweilte sich schrecklich. Sie sah nur Postkartenidyllen: weiße Häuser am Meeresstrand, Frauen im wehenden Kleidern und weißen Hüten am Strand, sanfte Küsse vor duftenden Öfen. War die B. wirklich eine solche Enttäuschung? Oder entging ihnen etwas? Das Wesentliche. Die Vivipara schlug mit dem schuppigen Schwanz auf den Tisch. (Nur wenn niemand zusah; im Allgemeinen gab sie sich menschlich.) Sie ließ die Wahrscheinlichkeiten berechnen. Gut, im Herbst zeigten sich kleine Risse im feinen Beziehungsgeflecht zwischen L. und B. Andererseits: Die B. blieb sesshaft, rührte sich nicht. War das Experiment endgültig gescheitert? Oder ging es gerade darum, diese Abweichung zuzulassen? Wie sollte man mit der L. verfahren, falls sie zurückkam? „Die L. ist draußen.“; das war die Mehrheitsmeinung. Die Vivipara dagegen wirkte unentschieden. Etwas an der L. rührte sie. Sie ertappte sich dabei, dass sie gerne mit der Hand über deren glattes Helmhaar gestrichen wäre. Dann schüttelte sie sich. Das war obszön. Von weiter oben kam nichts. Jahre lang nun schon. 
 
Erst im April erreichte die B. ein Schreiben der L., vom Computer ausgedruckt, handschriftlich unterschrieben. Es zeugte von herber Bitterkeit. Die B. wartete vergeblich auf Tränen. Sie setzte sich vor dem Haus auf die Bank in den Wind. Noch immer war sie eine außergewöhnlich schöne Frau mit ihren blonden Wellen und grünen Augenteichen, bis zu den Hüften abwärts. Unter der Bank erstreckte sich schuppig ihr silberner Schwanz.
 
Die Vivipara hatte kein Herz. Aber hätte sie eines gehabt, in diesem Augenblick hätte es heftig geschlagen. 

 

Kleine Fahnen

Daddy issues, sagt L., die auf meinem Sofa einschläft.

Vorher habe ich eine Hornisse in meiner Wohnung erschlagen. Eine Hornisse! Im ausgehenden September! In Berlin! In meiner Wohnung! Shit. Schwankte lange zwischen Selbstbewunderung und kindlichen Ängsten.

Und ich weiß schon: Soll man nicht. Sind schützenswert. Tun auch nichts. Usw. Aber erstens habe ich eine Insektenphobie, zweitens: überall, nur nicht in meiner Wohnung, bitte.

Die Jahre des Wahnsinns/ genau vermessen

Kleine Fahnen in der Nähe des Hermannplatzes. Umgeben von Polizei. Eine kleine Demonstration zum Gedenken der Proteste im Gezi Park. In der nächsten Seitenstraße warten noch einmal sechs Wannen. Absurdes Verhältnis. Was soll passieren?

Denke über neue Geschichte nach, Wirtschaftsumfeld. Reine Männerwelt. Die zwei Konkurrenten, die nichts von einander wissen. Hochhauswelt, Hotelzimmer, Foyers, Lobbys. Gibt es Nutten? Gibt es Koks? Dialoge. Titel: „Die Auslosung meines Lebens“.

Bruchstückstadt, die Leere in der Mitte, die Leeren, die unmittelbar vom Weltkrieg herrühren. Trauerflächen aus Asphalt, Psychologen rätseln.

Was gibt es zu essen? Ich werde mich von der Imbissbude meiner Wahl überraschen lassen. Ich vergesse einen Geburtstag. Am Abend Besuch einer Lesung in unmittelbarer Nähe.

Absagesätze. „Schaum für immer“, Nachwort:

Ich erinnere mich an die Frage der Lektorin: Und was ich denn gedenke, für das Buch zu tun? Ich hatte Ischiasbeschwerden wegen des Buchs, ich hatte mindestens ein Jahr Magenschmerzen wegen des Buchs, aber die richtige Antwort fiel mir natürlich erst später ein: Ich habe es geschrieben! Das habe ich für das Buch getan!

Mir hätte es klar sein sollen, es war mir wie so oft ja auch klar gewesen, von Anfang an. Man sollte doch öfter auf sein sogenanntes Bauchgefühl hören. Das Konzept des Verlegers war dermaßen überzogen, die Erwartungen seitens der beiden Kleinverleger viel zu hoch für mein armes, kleines, aber gutes Buch. Die Covergestaltungsvorschläge waren hanebüchen. Schlichtweg grundhässlich. Aber das waren die vorigen Cover der Reihe ja fast durchgehend gewesen. Der Versuch, dagegen zu reden, wurde mit dem Totschlagargument: „Die Vertreter finden es gut so/anders nicht so gut“ niedergebügelt. Die „Vertreter“! Nie auch nur einen von diesen Schwachköpfen gesehen. Es war alles so fürchterlich uncool. Die Covergestaltung, der Klappentext: uncool und gelogen, völlig am Buch vorbei. Die Verlagsvorschauen, wie überhaupt die meisten Vorschauen: schlimm. Zum Fremdschämen.

Aber das war mein Romandebüt, damals 2007. Ich wollte unbedingt belohnt werden, ich wollte unbedingt, dass mein Manuskript zum Buch wird. (Und es hatte ja schon einen Leidensweg hinter sich – ein Großverlag, der zuerst Interesse bis hin zu erster Lektoratsarbeit angezeigt hatte, entschied sich dann doch gegen das Buch; ein Agent tourte danach mehr als ein Jahr lang vergeblich durch die Vorzimmer der Verlage.) Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb: Damals gab es immerhin noch manches, was den Schlamassel einigermaßen ausgleichen konnte: Das Senatsstipendium, die Lesungen, der Vorabdruck in Volltext.

Die meisten Besprechungen waren allerdings katastrophal – die einen hatten das Buch nicht verstanden, vermutlich weil sie vom Klappentext auf den Holzweg gesetzt worden waren. Die anderen hatten es allerhöchstens angelesen. Ich weiß, das ist der übliche Vorwurf von Kritik gekränkter Autoren. Aber ich glaube, ich kenne die Schwächen meiner Schreibe – und auch die Schwächen meines Romans. Die Besprechung in der FAZ (immerhin!) war daher eher trostlos, die in der Basler Zeitung leider völlig daneben.

Am Schluss blieb etwas Stolz und sehr viel Ärger, neben ganz schön viel Ernüchterung und Enttäuschung. Auch die sogenannte Szene, in der ich mich zu befinden dachte, scherte sich einen Dreck um das Buch. (Das hat mich vielleicht sogar am meisten gekränkt.)

P.S. Konsequenterweise musste der Verlag ein Buch später Insolvenz anmelden – zu dem Zeitpunkt schuldete er mir immer noch Geld. Futsch für immer.

orfeo.ritornell

Rilke: Sonett 3

Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll
ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?
Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier
Herzwege steht kein Tempel für Apoll.

Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes;
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber sind wir? Und wann wendet er

an unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jüngling, daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstößt, – lerne

vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.

ögyr: orfeo.ritornell.1

auf suche nach all meinen euridiken
folg ich dir, orpheus, in die samtnen schatten,
ins fundament der welt, es zu erblicken –
und wegzuschauen gleich, denn solch ermatten

der sehnsucht lässt selbst unterwelt verschwinden,
und uns verdammt ins oben, wo gestalten
wir wieder sind des mythos vom beginnen,
wo doch das enden wollten wir verwalten

als letzte sänger, zu zerschlagen leier
wie rockstars die gitarr am end der feier:
autodafé sollts seien, doch wir singen

euch nach, euridices, dass wir verrinnen
im tod entgegen weltgeschäften neu –
nur sind wir dem gesang statt euren treu.

Rilke: Sonett 18

Hörst du das Neue, Herr,
dröhnen und beben?
Kommen Verkündiger,
die es erheben.

Zwar ist kein Hören heil
in dem Durchtobtsein.
doch der Maschinenteil
will jetzt gelobt sein.

Sieh, die Maschine:
wie sie sich wälzt und rächt
und uns entstellt und schwächt.

Hat sie aus uns auch Kraft,
sie, ohne Leidenschaft,
treibe und diene.

ögyr: orfeo.ritornell.2

l’orfeo, du bist da, wo ich dich google,
du geisterst durch natur und netzes harfen.
du singst mit mir das alte lied als double
und weißt wie ich, wohin uns götter warfen.

der mythos bleibt so ungebrochen, setzt
sich fort und ewig retroproduziert,
was sänger ehedem wie einst verletzt:
ihr sein nur im gedicht, und nicht zu viert

im paar und beiderleier liebeslieder.
denn eins zu eins ist – war auch niemals zwei
im himmel und schon gar nicht unter erden.

dort bleiben wir, die kommen immer wieder
herauf, zu spielen ihre litanei,
auf dass sie derweil stumm und schatten werden.

Rilke: Sonett 26

Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner,
da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel,
hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner,
aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.

Keine war da, daß sie Haupt dir und Leier zerstör.
Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen
Steine, die sie nach deinem Herzen warfen,
wurden zu Sanften an dir und begabt mit Gehör.

Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt,
während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte
und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.

O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!
Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte,
sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.

text:
rilke: „sonette an orpheus“ – sonett 3
ögyr: orfeo.ritornell.1
rilke: „sonette an orpheus“ – sonett 18
ögyr: orfeo.ritornell.2
rilke: „sonette an orpheus“ – sonett 26

musik:
claudio monteverdi: „l’orfeo“, jordi savall, la capella reial de catalunya @ gran teatro del liceo de barcelona, 2002

video.poem:
ögyr 160825

kein einziges wort

9

nord­pol : 3.18 UTC  – Ipek*, die in einem Dorf der ana­to­li­schen Region Der­sim (Tun­celi) gebo­ren wurde, erzählte in weni­gen Wor­ten, wes­halb sie vor drei Wochen um Haa­res­breite von einer Reise nicht nach Hause nach Ber­lin zurück­ge­kom­men wäre. Ihr Vater, sagte sie, sei gestor­ben. Ihre Fami­lie und sie selbst seien des­halb nach Ana­to­lien gereist, um den Leich­nam ihres Vaters in der Hei­mat zu bestat­ten. Auf der Hin­reise habe sie kei­ner­lei Pro­bleme gehabt, viel Mili­tär auf den Stra­ßen, aber das kenne sie schon von Kind­heit an. Sie habe einen Tag vor der Beer­di­gungs­ze­re­mo­nie vom Dorf aus die Stadt besucht, um einige Stan­gen Ziga­ret­ten ein­zu­kau­fen, die ihre Fami­lie den Trau­er­gäs­ten anbie­ten wollte. Das sei so üblich in ihrer Gegend, das wüsste jeder Men­sch, auch die Kin­der. Bei der Rück­fahrt sei der Bus in eine Poli­zei­kon­trolle gera­ten. Man habe sie aus dem Bus geholt, man wollte wis­sen, für wen genau die Ziga­ret­ten bestimmt seien. Da habe sie erzählt, warum sie die Ziga­ret­ten gekauft habe, aber man wollte ihr nicht glau­ben, man sagte, sie habe Nach­schub für Ter­ro­ris­ten gekauft. Da habe sie gesagt, dass das nicht so sei, aber die Män­ner in Uni­form sag­ten, dass das eben doch so sei, und dass sie jetzt still sein solle, andern­falls würde man ihren deut­schen Rei­se­pass zer­reis­sen, den hatte einer der Män­ner bereits in der Hand. Der Mann sagte, dass das mit den Ziga­ret­ten nur genauso sein könne, wie er es sage, dass sie für die Berge bestimmt seien, könne man daran erken­nen, wo sie, Ipek, gebo­ren wor­den sei, in Der­sim näm­lich, das bedeu­tet in Tun­celi, so heiße die Region Der­sim in der tür­ki­schen Spra­che. Er fuhr fort, wenn sie, Ipek, jetzt noch ein wei­te­res Wort sagen würde, dann würde sie nie wie­der nach Hause kom­men. Also war sie still gewe­sen. Sie habe kein ein­zi­ges Wort gesagt, auch nicht im Bus, noch min­des­tens eine Stunde lang kein ein­zi­ges Wort. – stop

* Name geän­dert