Beim Sonntagsfrühstück fliegt mir etwas Erdbeermarmelade vor die Brille.
„Jetzt hast du den süßen Blick“, sagt sie.
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Manchmal wünsche ich mir, das CERN in Genf hätte tatsächlich eine neue Zeitlinie erschaffen. Oder das nahe Sonnensystem Nemesis könnte eine Überlagerung von Dimensionen erzeugen. Irgendwas irreal Irreparables geschähe und könnte eine Erklärung liefern für die derzeitige Verwirrung. Die 9 Konföderierten, die Sternengeschwister, all ihr Gelichter. Herbei.
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Man sollte sich kein Urteil erlauben über andere Menschen. Wir sind alle nur Evolution, und Evolution bedeutet Ausprobieren. Da geht eine Menge schief.
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„Hunde streicheln einen niemals zurück“, sagt sie nachdenklich. „Vielleicht wollen Hunde gar nicht gestreichelt werden.“
Es ist eine Überlegung wert.
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Auf halluzinogenen Pilzen kriegt man einen Eindruck davon, wie die Erde wirklich ist, unabhängig vom Zusammenspiel der Sinne und Gehirn. Dass die Erde rund ist, dass es Erdanziehung gibt, dass im Erdinneren ein großes Feuer brennt, es wird Gewissheit. Ein Trip ist eine sehr irdische Angelegenheit.
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Die Evolution muss neu überdacht werden.
Vielleicht ein Carport drüber.
Muss man sehen.
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Ich mag Menschen, die einem das Gefühl vermitteln, als mache sich die Ruhe der ganzen Welt in ihnen breit. Nicht, dass ich einen kennen würde.
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„Eine Frau wird für die Gesellschaft geboren, ein Mann für sich selbst, jeden Tag aufs neue.“
- Die Gräfin
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Sich hinstellen und populäre Sachen sagen, das kann jeder. Die motzenden Massen bedienen. Wo man sich des Beifalls sicher sein kann, weil eine Million Mäuler schon das gleiche verkündet haben, ohne damit angeeckt zu sein. Dazu gehört kein Mumm. Das ist wie Schwarzfahren mit Hunderteuroscheinen in der Tasche – mutlos.
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„Psst! In mir sprechen gerade mehrere Menschen.“
„Ach.. Hast du wieder deine Stimmen an?“
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„Das Leben beginnt mit 50“, sagt sie tapfer.
„Na ja“, sag ich, „wenn man vorher kein anderes hatte.“
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„Wenn man älter wird, verliert man zunehmend die Lust, Fan von irgendwem zu sein – da ist man schon froh, wenn man sich selber gut findet.“
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„Immer gibt’s gar nicht. Immer ist ein phantastisches Wort.“
- Die Gräfin
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Eine Konditorei ist ein zutiefst friedlicher Ort. Wo Kuchen verkauft wird, bricht kein Krieg aus.
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„Kannst du abheften, unter Ulk“, war sein Standardspruch, wenn er an der Zigarre mümmelnd vor einem stand. Er nahm einem das Klemmbrett aus der Hand, auf dem die EDV-Liste eingespannt war, und begann sie mit den Lebensmitteln abzugleichen, die man auf den Rollcontainer geladen hatte. Sobald er einen Fehler entdeckte, (wenn man etwa statt der drei vom Kunden georderten Kartons Irische Butter nur zwei auf den Rolli gepackt hatte), gönnte er dem Zigarrenstummel eine kleine Pause, murmelte, „ein Karton Irische zu wenig, Jung“, strich den Fehler an und reichte einem das Klemmbrett zurück.
Der Kontrolleur trug einen weißen Kittel. Er war alt. Sechzig, mindestens. Ich war Anfang zwanzig und wunderte mich, dass ein so alter Mann in Deutschland noch arbeiten musste. Er war groß gewachsen, über seinem stattlichen Bauch spannte sich die immer gleiche Strickjoppe, die ihm etwas gefährlich gemütliches verlieh.
Wir arbeiteten im sogenannten Plus-Bereich, wo die Temperaturen bei konstant 7 Grad plus lagen, im Gegensatz zum benachbarten Tiefkühllager, wo sich bei minus 18 Grad erheblich ungemütlicher kommissionieren ließ.
(Was noch im Nachhinein erstaunt: das Rauchen in den Gängen des Lebensmittellagers war gestattet. Auch wenn wir 1983 schrieben, auch wenn die Sachen in Plastikfolie eingeschweißt waren.)
Viele Worte macht der Kontrolleur nicht. Er stand im Plus-Bereich am Ende des Parcours und wartete auf uns Kommissonierer. Wenn er überhaupt den Mund aufmachte, musste sich das Gesagte mühsam den Weg vorbei an dem im Mundwinkel geparkten Zigarrenstummel bahnen.
Der alte Kontrolleur hatte ein großes finsteres Gesicht, beherrscht von zwei buschigen Augenbrauen, die sich wie die beiden Bögen einer im Bau befindlichen Brücke aufeinander zubewegen schienen. Darunter Augen, in denen gelegentlich der Schalk aufblitzte.
„Den Job kannst du abheften, Jung – unter Ulk.“
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Nichts ist trauriger als mit seinem Witz allein gelassen zu werden. Da sitze ich mit der Gräfin am Frühstückstisch und reiße spontan einen Gag, mache richtig auf Witzkerl, und dann hört sie überhaupt nicht richtig hin! Ist mit ihren Gedanken ganz woanders und krümelt den Teller voll! Ja, wofür ackere ich denn hier?! Im übrigen unterstreicht sie mit diesem Verhalten nur eine handschriftliche Bemerkung unter ihrem Grundschulzeugnis, zweite Klasse, zweites Halbjahr.
„Die kleine S. ist intelligent, doch unaufmerksam“, schrieb ihre Klassenlehrerin, die blonde Frau Schäfer mit den stämmigen Beinen. „Statt dem Unterricht zu folgen, guckt sie lieber aus dem Fenster und beobachtet die kleinen Meisen, wie sie auf dem Schulhof landen.“
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dabei hatte der Witz durchaus normale Chefqualität.
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„Wo ist eigentlich das Leben hin..?“ klagt sie. „Ich hatte doch immer so viel Zeit. Ich glaube, die Jahre sind zu klein geworden.“
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„An Tagen, an denen ich mich hässlich fühle, kann keine Klamotte der Welt einen schönen Menschen aus mir machen.“
- Die Gräfin
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„Wie lange ist Scheiblettenkäse denn haltbar..?“
Wir hatten vor einiger Zeit Heißhunger auf Hawaii-Toast, dafür brauchte es unbedingt Scheibletten-Käse, doch mehr als die Hälfte der Packung blieb übrig und steht sich seither im Kühlschrank die Beine in den Bauch.
„Ach, der ist ewig haltbar“, sag ich. „Das sind alles Restbestände aus alten Louis de Funes-Filmen, die heute noch im Supermarkt verkauft werden.“
„Dann hält der sich noch, meinst du?“
„Ja. Der hält noch.“
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In Büchern und in Filmen folgt man gern den abenteuerlichen Lebenswegen berühmter Künstler, während man von den eigenen Abenteuern zunehmend die Schnauze voll hat.
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Nichts stimmt einen so wehmütig wie ein schon lange vermisster Duft, der einem plötzlich um die Nase weht, wenn man im Grünen spaziert.
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Aaahh.. die Welt geht unter! Endlich! Da blühen die Geschäfte!!!
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Als wir mittags am Tisch sitzen und essen, klappert draußen der Briefkasten.
„Hörst du das auch?“ flüstert sie. „Der Wind hat Post reingeweht.“
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Das Herz einer Fledermaus schlägt 1000mal in der Minute. Das Herz einer Fledermaus ist ein sehr leises Schnellfeuergewehr, Fledermausblut ist seine Munition.
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Aus ihrer Haut heraus kommt nur die Schlange.
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Wir sind alle nur auf der Suche nach dem kleinen Glück, Mensch wie Tier, und es sind alles bloß Hormone. Ein Jagdhund, der laut wimmernd hinter einem Reh her ist, ein Terrier, der leidenschaftlich gern buddelt, ein Huskie, der durch den Schnee rennt bis zur Erschöpfung, sie alle entwickeln die gleichen Glücksgefühle wie ein Junkie, der sich nachts um drei auf die Socken macht, um Nachschub zu organisieren.
Versuch den mal zurückzupfeifen.
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Spielen Sie Boule? Nein nein. Im Moment nicht.
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Als ich mit der neuen Brille auf der Nase ins Bad ging und mich im Spiegel betrachtete, dachte ich, da steht Roy Orbison. So richtig einverstanden war ich nicht mit dem Anblick. Auch der Gräfin kamen Zweifel, ob die Auswechslung der alten Brille etwas gebracht hatte.
„Aus einem etwas merkwürdigen Büroleiter ist ein etwas großzügigerer merkwürdiger Büroleiter geworden“, grinste sie, wobei sie das etwas bis zum Anschlag dehnte. Im Laufe des Abends jedoch gewöhnten wir uns mehr und mehr an den Anblick, und aus einem etwas merkwürdigen Büroleiter wurde der Vize-Gebietsleiter vom Objektschutz Olpe, und ich war fürs erste zufrieden.
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Kapitalismus – diese endlose Potenzmaschine.
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Ich flöte so vor mich hin.
„Gute Laune heute?“
„Geht so“, sag ich.
„Och Mensch, entwerte doch nicht immer alles so, wie einen alten Fahrschein.“
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Bücher, die man in seiner Jugend gelesen hat, sind wie alte Freunde. Sie erinnern einen daran, wer man einmal war, als man das Buch zum ersten Mal in der Hand hielt.
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Mein Leben gehört zu den Kassenschlagern, wo man im Kino sitzt und die ganze Zeit darauf wartet, dass sich der Vorhang hebt und es endlich losgeht, auf Veranlassung des Filmvorführers.
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Samstagabend auf dem Spielplatz. Es ist dunkel. Auf der Schaukel sitzt ein einsamer Teenager, er schaukelt langsam vor und zurück, vertieft in sein Handy und mit langen Strippen im Ohr, als würde er künstlich ernährt. Das bläuliche Licht des Displays leuchtet sein Gesicht aus, schwingt in der Finsternis vor und zurück wie ein betont höfliches UFO, das keine Fehler machen will. Nicht jetzt. Nicht beim Schaukeln.
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„Ich bin immer wieder fasziniert, wie viele verschiedene Leben ein einzelner Mensch leben kann“, sagt sie.
„Schön gesagt“, sag ich.
„Wieso schön? Das ist überhaupt nicht schön. Das ist verwirrend.“
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„Du..“
Sonnabends, ich bin schon fast eingeschlafen, flüstert sie meinen Namen.
„Du..?“
„Mh..?“
„Können wir nicht mal einen Film über mich drehen? Ich würde mich gern mal groß im Kino sehen.“
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„Antwerpen ist die letzte große Lektion, die ein Mensch in seinem Leben erhält, und jeder muss es ganz allein bewältigen, jeder für sich – ohne jede Anleitung.“
„Hmm..? Wieso ist Antwerpen die letzte große..“
„Altwerden, du Penner, nicht Antwerpen! Altwerden ist die letzte große Lektion..!“
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„Die Scham gibt man ab, wenn man im Kapitalismus lebt. Scham war gestern.“
- Die Gräfin
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Was gibt es schöneres als ein strahlend blauer Sommerhimmel, 24 Grad und den ganzen Tag Zeit, ach was, das ganze Leben, für die eigenen Belange.
DANGER.
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Ich: „He! Es ist schon fünf Uhr durch!“
Sie: „Bei dir vielleicht, du Penner.“
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- von Andreas Glumm
in Glumm