Fotoarchäologie

© Thomas Huber
Foto © Thomas Huber

„No, this film is not for sale”, ließ mich der Verkäufer an einem Fotostand im Londoner Camden Market wissen, als ich mich für jenen Rollfilm interessierte, der da zwischen historischen Kameras platziert war. Der Film sei nur zur Dekoration da und als Beispiel dafür, welche Art von Filmen in die alten Apparate gehörten. Außerdem sei er ohnehin nicht mehr verwendbar, weil schon belichtet – aber wenn ich einen frischen benötige, habe er sicher etwas für mich.

Mir war schon klar, dass es sich um einen bereits benutzten Mittelformatfilm 120 handelte. Erkannt hatte ich es daran, dass er mit einem Papierstreifen mit dem Aufdruck „exposed“ umwickelt und verklebt war. Das bedeutete, dass er vollständig von der ursprünglichen Filmrolle abgespult worden war. Und genau das weckte meine Neugier. Denn im Gegensatz zu den üblichen digitalen Aufnahmegeräten, die stets sofort wahrnehmbare Bilder erstellen, schätze ich, als „Analogfreak“ die alten Rollfilme als Kuriosa, die Geschichten enthalten, die ihnen nicht sofort – oder vielleicht auch gar nicht mehr – zu entlocken sind. Der Verkäufer erzählte, dass er in gebrauchten Kameras immer wieder Filme finde, die wohl vergessen worden waren und die er dann aufrolle und sichere. Offenbar gefiel ihm mein Interesse für diese Relikte, denn zum Abschluss der Unterhaltung überreichte er mir den Film mit den Worten: „It’s a gift!“.

Nach der Reise zuhause angekommen machte ich mich ans Entwickeln meines so speziellen London-Souvenirs, bei dem es sich um einen „Kodak Verichrome Pan 120“ handelt. Es ist dies ein Schwarzweißfilm, der 1956 auf den Markt kam, als „Allzweckfilm“ sehr beliebt war und bis in die 1990er viel verkauft wurde.[1] Dass „mein“ Film wohl schon recht alt war, merkte ich gleich beim Einlegen in die Entwicklungsspule daran, dass das Schutzpapier nicht mehr an der Verbindungsstelle klebte. Ich hatte also keine allzu hohen Erwartungen an das Ergebnis meiner „Foto-Archäologie“, war aber dann doch ziemlich enttäuscht, als auf dem fertig entwickelten Film zunächst absolut nichts zu sehen war, keine Aufnahme schien darauf vorhanden zu sein. Plötzlich aber entdeckte ich doch etwas! Vage Umrisse, sehr blass, aber etwas schien sich von der massiven Verschleierung des gesamten Films abzuheben. Es handelte sich, auch das wurde nun klar, um ein Negativ im Format 6×9 cm, und der Film wurde möglicherweise mit einer Klapp-/ Balgenkamera verwendet. Ich erstellte ein Scan vom Negativ, machte mich ans Bearbeiten … und dann hatte ich das Bild von fünf Leuten vor mir, die irgendwann in eine Kamera geblickt hatten.

Ein alter Film mit einem einzigen erkennbaren Bild. Das gibt Anlass für viele Fragen und Spekulationen. Es ist anzunehmen, dass keine weiteren Aufnahmen gemacht wurden, hinter den Schlieren und Schleiern auf dem Rest des Filmes verbirgt sich wohl – nichts. Viele mögliche Antworten aber gibt es auf die Frage, wieso denn der Film nie fertig belichtet wurde. Hatte wer auch immer die fröhliche Gruppe knipste darauf vergessen? Vielleicht weil sie oder er sich eine neue Kamera kaufte, die alte irgendwo liegen blieb, um dann irgendwann in den Antiquitätenhandel zu gelangen? Oder, dramatischer, vielleicht wurde sie bald nach der Aufnahme verloren oder gar gestohlen und später verkauft?

Mit ziemlicher Sicherheit war der Fotograf oder die Fotografin kein Profi. Denn die fünf Personen, um die es doch wohl eigentlich ging, sind unscharf, die Autos im Hintergrund hingegen sind ziemlich deutlich zu erkennen. Er oder sie hat also falsch fokussiert – und mir damit bei meinen fotoarchäologischen Recherchen einen guten Dienst erwiesen. Denn dadurch ist erkennbar, dass es sich bei den Fahrzeugen um Modelle älterer Bauart handelt, die längst schon in die Oldtimerklasse fallen.

Aber auch der Bekleidungsstil, vor allem jener der beiden Frauen, lässt darauf schließen, dass die Aufnahme wohl in den 1950er oder spätestens in den 1960er Jahren gemacht wurde. Vielleicht irgendwo in England, in einem Ausflugsort, an einem Strand?

Heutzutage, da in jeder Bilddatei eine ganze Reihe von Metadaten gespeichert werden, wäre es ein Leichtes, derartige Fragen nach Ort, Datum und Uhrzeit zu beantworten und vielleicht auch den Namen des Fotografen oder der Fotografin zu erfahren, den Kameratypus und noch vieles mehr. Das Foto auf dem alten Londoner Rollfilm hingegen gibt seine Geheimnisse nicht preis. Vor allem bleibt die Frage offen: Wer sind die Leute, die sich hier zu einer Gruppe zusammengestellt haben? Eine Familie vielleicht mit einem Großeltern- und Elternpaar und einem fröhlichen jungen Sohn? Was hatten sie vor, was bedeutete jener Tag für sie? Wir können viel darüber spekulieren, uns die unterschiedlichsten Geschichten dazu ausdenken – und das macht, wie ich meine, den Reiz und die Faszination dieser alten Fotos aus. Sie sind, wie es Kurt Tucholsky formulierte, „ein Gruß aus einer verschollenen Zeit“.

[1] Offiziell eingestellt wurde der „Kodak Verichrome Pan“ 2002: „This film will be discontinued in July, 2002 when stocks are depleted”, informierte die Kodak Company dazu in einer Aussendung im November 1996 (KODAK Publication No. F-7. 11-96).