Schwarze Flocken und ein Kapaun

„Ich plädiere für einen radikalen Neu-Anfang bei Adam und Eva.“

Die Gräfin

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WANTED

Suche dich, weiblich, 27-33 Jahre alt. Du warst vor ein paar Tagen gegen 18 Uhr Einkaufen im NETTO an der Wupperstr. mit deinem Jungen, der im Gesicht mit Wasserfarben bemalt war (ca 4-5 Jahre alt). Du, blond, 165-170 cm groß, das schönste Lächeln, was es gibt, angezogen mit einer Bauchtasche. Du gehst mir nicht mehr aus den Sinnen… deswegen suche ich auf diesem Wege nach dir. Leider hatte ich nicht den Mut dich direkt anzusprechen… und habe nun Angst dies mein ganzes Leben zu bereuen. Ich gehe seither jeden Tag x-mal einkaufen und wenn es nur eine Zwiebel ist in der Hoffnung dich wiederzusehen. Solltest du dies lesen würde ich mich freuen über eine Nachricht von dir.

Handynummer: 0152…..

Die Fotokopien hingen im ganzen Viertel aus. An der Scheibe eines leerstehenden Ladenlokals, am Kippenautomat, an Straßenlaternen und an Stromkästen, am Schwarzen Brett der Genossenschaft, an zwei Kiosken und natürlich im NETTO-Markt selbst (in 4facher Ausfertigung).

Ob die Schöne wohl jemals von seiner Aktion erfahren hat? Das ganze ist schon 9 Jahre her, es war Ende Dezember 2010, in den Tagen, als meine Mutter starb, deswegen hab ich es damals im Notizbuch festgehalten. Der Winter von 2010 auf 2011 war der letzte strenge Winter, der übers Land kam, wochenlang stiegen die Temperaturen kaum über den Gefrierpunkt.

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„Nee, ist das ein Albtraum, ist das ein Albtraum…“, schimpfte die alte Frau, die Russenmütze tief ins Gesicht gezogen, vorm Bauch die Handtasche, und: „Der Hund hat ja eine Eis-Schnauze!“

Sie meinte Frau Moll, die vorm NETTO-Markt saß und mit mir darauf wartete, dass die Gräfin mit dem Einkaufen fertig war.

„Und überall die Bömmelkes an den Pfoten! Die muss der Papa aber erstmal abtrocknen, wenn ihr gleich zu Hause seid, ja nicht?! Nee, ist das alles ein Albtraum..!“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, stapfte sie weiter durch den Schnee. Die Gehwege sahen aus wie Loipen, so schmal waren die freigeschippten Strecken für Fußgänger. Sie waren gerade mal soweit von Eis und Schnee geräumt, dass ein Passant allein gut vorankam, aber begegnen durfte einem niemand, sonst wurde es schnell kritisch.

Das Gefühl, auf 25 cm Pulverschnee zu gehen, es war wie auf Wolle.

„Schnee ist zeitlos“, meinte die Gräfin, nie verlegen um ein paar klärende Worte. „Man möchte sich hineinlegen und ein paar Millionen Jahre schlafen.“

Ein Übergang von Bordstein zur Straße war schon lange nicht mehr zu erkennen, man musste sich auf sein Gespür verlassen, wollte man nicht plötzlich einsinken. Überall stauten sich hüfhoch hingeschaufelte Massen an Alt-Schnee, man sah weiße Mützen und dicke Hauben, Inseln gelben Hunde-Urins und Baumstämme, zusammengebrochen von den Schneemassen, sie platzten auf wie Bockwürstchen.

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Die schwarze Flocke

Auch wenn das Universum ein riesiges Chaos abbildet, dahinter steckt eine große solide Ordnung, die den ganzen Laden zusammenhält. Es bedarf Zeichen, dass wir Menschen von dieser Ordnung überhaupt Kenntnis gewinnen, auf unserem abgeschiedenen kleinen Winkel der Milchstraße.

Da war diese einzelne schwarze Schneeflocke, die sich aus dem Himmel löste und mir vor den Mantel fiel, am Abend vor Mutters Tod, Weihnachten 2010. Ich drehte eine letzte Runde mit dem Hund, als es passierte. Unter einer Straßenleuchte. Eine schwarze Flocke. Sie stürzte schräg auf mich zu, ein Minimeteorit. Es war die einzige schwarze Schneeflocke, die ich je gesehen habe in meinem Leben, und sie bohrte sich direkt in meinen Leib.

Nun hält sich ja alles in der Schwebe, solange der Mensch lebt. Weil man nie genau weiß, wie die Dinge enden, was noch kommt und was nicht. Erst im Nachhinein, erst nach dem Tod liegt plötzlich alles auf der Hand, und wir bestaunen die eigene Vorahnung. Was wir alles kommen gesehen haben. Was wir alles an Ankündigung entziffern konnten.

Schwarze Flocken.

Und war da nicht dieser schwarze Trauerzug, der mir acht Tage vor Mutters Tod auf dem Friedhof Cronenberger Straße begegnete, als ich mit dem Hund auf einem der penibel von Schnee geräumten Nebenwege unterwegs war? Ein frisch ausgehobenes Grab fiel mir auf, mit grünen Matten und Seilen ausgestattet.

„Der Herr vollende an dir, was er mit der Taufe begonnen hat“, sprach der Pfaffe in leicht polnisch gefärbtem Deutsch, der den Trauerzug anführte. Er kam auf mich zu, so direkt, dass ich mich zu fürchten begann und mit dem Hund eine andere Richtung einschlug. Doch als wir die nächste Kreuzung erreichten, war der Trauerzug schon wieder da. Man verfolgte mich! Selbst Frau Moll drehte sich ängstlich weg.

Hinter dem Pfaffen gingen zwei schwarzgekleidete Mädchen, sie wimmerten wie junge Katzen in der Nacht. Ich nahm meine Mütze ab und blieb stehen. Es waren die Töchter der Verstorbenen, wie ich heraushörte. Ihre Mutter wurde bestattet.

„Du hast uns gezeigt, was Stärke ist, Mama…!“

Ich war wie gebannt.

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Depressive Episoden

Von den depressiven Episoden, die mich seit zwei, drei Jahren regelmäßig heimsuchen, hat sie nichts mehr mitbekommen. Davon war ich zu Mutters Lebzeiten noch befreit. Jedes Mal, wenn die große Depression anrollt, bin ich für die nächsten vier bis fünf Tage fort, es ist, als übernähmen die schwarzen Männer das Kommando im Maschinenraum, und ich kann nichts anderes tun als versuchen zu überleben, was mit jedem Mal schwerer fällt.

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Ein Kapaun

Einige Tage vor Mutters Tod an Weihnachten 2010 hatte ich bei einem stadtbekannten Metzger ein bestelltes Suppenhuhn abgeholt, doch als ich mit dem Teil nach Hause kam, war die Gräfin zunächst stinksauer.

„Das soll ein Suppenhuhn sein…?! Das ist doch kein Suppenhuhn!“

Der Vogel war so riesig, dass er kaum in unseren größten Topf reinpasste. Ein zugleich trauriges wie größenwahnsinniges Bild.

„Der hat doch in seinem ganzen Leben niemals auch nur einen Muskel gerührt, der ist nur gemästet worden..“

Da sie der Meinung war, dass dieses fünf Pfund schwere Vogel höchst ungesund aussah, spielte sie schon mit dem Gedanken, ihn in die Tonne zu geben, wegzuwerfen, zu entsorgen, andererseits waren gut 30 Euro ein stolzer Preis. Was mich beim Bezahlen schon gewundert hatte, dass ich nochmal nachfragte: Stimmt das? Ein Suppenhuhn für über 30 Euro?? Die Verkäuferin fragte ihrerseits noch mal nach und die Antwort kam auf französisch aus dem Schlachtraum, was mir zu hoch war, andererseits aber schlüssig klang. Die Gräfin würde sich schon was dabei gedacht haben, wenn sie so ein sündhaft teures Suppenhuhn orderte.

Dachte ich.

Erst als uns die Banderole in die Hände fiel, die irgendwie abgegangen war und auf dem Boden der Metzgereitüte darauf wartete, gelesen zu werden, klärte sich die Geschichte auf. Es handelte sich tatsächlich um kein deutsches Suppenhuhn, sondern um ein Kapaun. Eine französische Spezialität, ein dicker fetter Eunuch, und – schmeckte ausgezeichnet. Was rede ich: die Brühe und das Fleisch des kastrierten Hahns ergaben die köstlichste Hühnersuppe aller Zeiten. Wir leckten uns jeden Finger einzeln ab, der auch nur den kleinsten Kontakt zur Suppe aufgenommen hatte, selbst wenn so ein Kapaun in der französischen Küche als Feiertagsbraten serviert wird und eigentlich nichts zu suchen hat im Suppentopf.

Mit genau drei Tellern dieser erlesenen Suppe, abgefüllt in zwei Gefrierdosen und per Rucksack transportiert, machte ich mich einen Tag nach Mutters Tod auf zu meinem Vater. Eine selbstgemachte Hühnersuppe würde ihm auf die Beine helfen in seiner schwärzesten Stunde. Doch als ich an der Schillerstraße ankam, war ich es, der zunächst vollends die Fassung verlor.

Eine Schwester und eine Nichte meines Vaters saßen im Esszimmer, ein Kondolenzbesuch, von dem ich nichts wusste. Ich konnte ihnen gerade noch die Hand reichen und Vater begrüßen, da brach es aus mir heraus. Schluchzend verzog ich mich ins Wohnzimmer und heulte mich erstmal aus. Mutter war tot. Ich würde sie niemals wiedersehen, so oft ich es auch versuchen würde.

„Na, war ja die Mutter, ist doch klar“, hörte ich die Stimme meiner Lieblingstante, die mit dem leichten Silberblick. Nachdem ich mich halbwegs beruhigt hatte, setzte ich mich zu den Dreien ins Esszimmer. Vater hatte seine guten Sachen angezogen und versuchte Haltung zu bewahren. Die Stimmung war bedrückt.

„Ich hab dir Hühnersuppe mitgebracht, Papa. Selbstgemachte, von Sanne.“

„Das ist fein“, sagte er.

Die drei Teller, die für drei Mittagessen gedacht waren, waren bereits am selben Abend Geschichte. „Das war vielleicht ein Labsal“, sagte Vater tags drauf und ließ der Gräfin seinen Dank ausrichten. Bis auf einen kleinen Rest hatte er alles plattgemacht. Hühnersuppe hatte schon immer seinen Leib zusammengehalten. Diesmal war es eine Mutantensuppe gewesen, mit richtig viel Fleisch drin.

Später kamen meine Schwester und mein Bruder hinzu. Halb erfroren und komplett k.o. Die beiden hatten sich an der Krahenhöhe getroffen und waren durch den frostigen Nachmittag gestapft, um den Kopf frei zu blasen. Es hatte geschneit über Nacht, wie schon in den vergangenen zig Nächten zuvor. Wenn man die Straße runterschaute, sah man eingeschneite Autos, die seit Wochen nicht mehr bewegt worden waren, wie vergessene Möbelstücke standen sie herum. Unterm Schnee war es spiegelglatt vom dauernden Wechselspiel zwischen kurzfristigem Auftauen, Blitzeis und neuerlichen Schneefall. So viel Schnee war das letzte Mal in den 80erjahren gefallen.

Für vier Uhr hatte sich der Pfaffe angesagt, der bei der Beerdigung die Rede halten sollte. Da er Mutter zu Lebzeiten nicht gekannt hatte, erhoffte er sich Informationen von uns, und darüber dachten wir natürlich nach: Wer war das eigentlich gewesen, Mutter?

Eine stille Frau, die einen in ihren Bann zog – die an Gewicht verlor bis ich dachte, die Waage würde streiken – die Stück für Stück, Pfund für Pfund und über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren aus dem Leben schied. Eine Methode, mit der sie ihren Lieben die Chance gab, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie eines Tages nicht mehr da sein würde.

(Was die Gräfin und meine Mutter betraf: Von Anfang an war ein unsichtbares, belastungsfähiges Band zwischen den beiden, die sich in gewissen Dingen sehr ähnlich waren, besonders in der intuitiven Herangehensweise ans Leben.)

Bevor der Paffe erschien, hatte das Beerdigungsinstitut angerufen. Man wollte wissen, in welchen Kleidern Mutter bestattet werden sollte. Meine Schwester legte im Esszimmer zwei verschiedene Garnituren aus, zur Begutachtung. Da war zum einen eine Art Tracht, die sie in jungen Jahren getragen hatte, zum anderen die Kleidung, die wir in jüngster Vergangenheit von ihr kannten: ein schlichter dunkler Rock, eine weiße Bluse. Die Tür ging auf und Vater kam ins Zimmer, (womit er meine Befürchtung bestätigte: was, wenn jetzt Vater reinkommt und sieht, was wir hier machen??!), und als er die Wäsche seiner Frau erblickte, klagte er laut auf und verließ den Raum. Wir hörten sein Weinen, es kam aus dem Wohnzimmer. Als ich zu ihm rüberging, (während meine Geschwister eilig die Wäsche zusammenrafften), hockte Vater im Sessel, in der Hand die Lupe und vor sich den Kalender, in dem er seine täglichen kleinen Geschäfte eintrug: welche Medikamente er um welche Uhrzeit einnahm, wann er auf dem WC gewesen war etc. Auch jetzt versuchte er etwas einzutragen ins Tagebuch, doch es schüttelte ihn so sehr, dass er den Stift nicht halten konnte.

„Was ist das schwer, was ist das schwer…“, stammelte er.

Als ich mich zu ihm hockte und seine Beine streichelte, erzählte er, dass sie die Kleider, die im Esszimmer auslagen, gemeinsam ausgesucht hätten. Und dass ihm die helle Trachtenjacke an Mutter immer besonders gut gefallen habe. In diesem Moment drückte der eisige Wind die Balkontür auf und wehte etwas Pulverschnee über den Wohnzimmerteppich, eine Handvoll Kristalle, spätes Silber.