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Freitag, 20. Dezember 2013

Anders stand es bei der Lyrik – sie war auch für Leihbüchereien kein attraktiver Geschäftsgegenstand, und es blieb den gesamten Zeitraum hindurch selbstverständlich, daß der Autor den Druck seiner Gedichte entweder gänzlich selbst bezahlte und dem Verleger gegen einen hohen Anteil am Erlös den Vertrieb überließ oder doch zumindest die Hälfte der Druckkosten bestritt. Dieses Verfahren brachte sehr geringe Auflagen mit sich, für die der Verfasser oft Absatzgarantien übernehmen mußte: etwa 250 – 500 Exemplare galten als üblich.
(Reinhard Wittmann über Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert in „Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert“, Tübingen 1982)

Die Schriftstellerei ist gegenwärtig kein Amt, sondern ein Geschäft, und die freie Concurrenz, das Gesetz der Natur, wie der ökonomische Liberalismus sie nennt, erzeugt überall hunderttausend Bettler als Staffage eines einzigen Millionärs.
(Joseph Lukas in „Die Presse“, 1867)

In der Meinung der „soliden“ Leute sowie der hohen Obrigkeit rangiert er zu den Vagabunden und muß es sich gefallen lassen, gelegentlich per Schub transportiert zu werden. Es ist so weit gekommen, daß die Bezeichnung „Literat“ von dem Begriffe der Geringschätzung, der Mißachtung unzertrennlich ist.
(Karl Weller in „Jahrbuch deutscher Dichtung“, 1858)

Wenn es einmal dazu kommt, daß die deutschen Proletarier mit der Bourgeoisie und den übrigen besitzenden Klassen die Bilanz abschließen, so werden sie es den Herren Literaten, dieser lumpigsten aller käuflichen Klassen, vermittelst der Laterne beweisen, inwiefern auch sie Proletarier sind.
(Friedrich Engels in „Die wahren Sozialisten“, 1847)

Flower power

Und mit mir kamen die Tränen – Supergedichte I

Depressives Adventsgedicht

Advent, der erste.
Nicht mehr lange,
dann ist Weihnachten da.
Danach kommt Januar.
Und nicht mehr lange,
dann ist Sommer.
Schnell schreitet die Zeit
durch den Raum.
Ein paar Jahre später
ist man schon tot.
Scheiße.

Abendrot (Ein Gedicht, das Kraft schenkt)

Abendrot, der alte Bäcker,
der meine Frau früher beglückte,
ist, wie ich unlängst las,
verstorben.
Schade, denn nun ist Abendrot
tot.
Das versaut die ganze
Abendstimmung,
war er doch spätabends immer
mit seinem Hund Sonnenuntergang
unterwegs.
Und jetzt?
Wer führt den Hund Gassi?
Ja, das Leben kann
grausam sein.
Egal, wir dürfen
nicht aufgeben.

Morgenhetze und Geburt

Hetz doch nicht so,
sage ich dem Morgen.
Der hört nicht zu.
Der ist gerade mit
seiner eigenen Geburt
beschäftigt.
“Pressen!”, schreie ich.
Hach, da ist sie,
die Sonne.
Was für ein wunderschönes
Kind.

Winterkillerfüße

Kannst du mal anpacken,
wenn du willst.
Mein kalten Füße
sind so kalt
wie der Winter,
wie ein Killer,
darum nenne ich sie
auch
Winterkillerfüße.
Die sehen gar nicht so aus.
Sie erinnern an
ganz normale Füße,
meine Winterkillerfüße.
So kann man sich
täuschen.

Zangengeburt

Das hätte sie sich
nicht träumen lassen.
Dass eine Zange
so schwierig
zu entbinden ist.
Zumal der Verband
von einem der Lehrlinge
angelegt worden war.

Kaffee

Kaffee schmeckt gut,
wenn er heiß aus der Kanne
kommt.
Hm, lecker!
So ein Kaffee weckt
die Lebensgeister,
die aus ihren Gräbern steigen
und um einen herumfliegen,
wild wie Wild.
Mit Kaffee ist
immer eine Menge los.
Da ist man nie einsam.
Toll!

Warnung (Gedicht mit erhobenem Zeigefinger)

Schon als Kind
durfte ich bei Sturm
draußen nicht rauchen.
Das ist gefährlich,
erklärte mir meine Mutter.
Ich hörte nicht auf sie
und zog mir eine
Erkältung zu.
Hätte ich mal gehört.

Waschbecken

Es war einmal
ein Waschbecken,
das wuchs ohne Hahn auf,
sodass es jeden Morgen
verschlief.

Winterpromenade

Schick auf Skiern.
So kennt man mich.
Landauf, landab
bin ich mit
meinen Skiern unterwegs.
“Platz da!”
Mein Ruf eilt
mir bereits voraus.
Und schon wieder
habe ich eine Stadt
durcheilt.

Verlies (Wortwitzgedicht mit Suchtfaktor)

Als sie mich VERLIES,
erblickte
ich zum ersten Mal
das Tageslicht.

Morgengrauen (Horrorgedicht)

Unheimlich ist das,
wenn man schon
wieder, ich
wiederhole, wenn
man schon wieder,
jetzt geht es weiter,
aufstehen soll.
Das Grauen!
Fürchterlich!
Angsteinflößend.
Am besten, man
dreht sich um
und schläft noch zwei
bis fünf Tage.

Tablettsüchtig

Und plötzlich war ich
Tablettsüchtig.
Wo ich auch war,
nie erschien
ich ohne mein Tablett,
das ich lässig
auf den Fingerkuppen
meiner rechten Hand
balancierte.
Alle ahnten,
dass das irgendwann
schiefgehen musste.

Schreiben

Manchmal
könnte ich vor Zorn
laut schreiben.

Kinder soll man
nicht
anschreiben.

Wer schreibt, hat
meist Unrecht.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-05

Das Jahr, in dem ich das Gewehr meines Vaters war

Ich hatte ja wieder einmal einen Auftrag zu erledigen. Aber darüber berichte ich erst im nächsten Kapitel.

Hier will ich von meinem Vater erzählen. Hochgewachsen. Ein Turm von einem Mann. In seinen Haaren nisteten seltene Vögel. Er spießte die Wolken mit einzelnen, abstehenden Haaren auf. Es kam auch mal vor, dass er eine Passagiermaschine durchbohrte.

Das Haar riss den Boden auf und schob sich oben wieder heraus. Druckabfall. Geschrei. Und das nur wegen eines einzelnen Haars. Kinder, die sich an dem Haar festhielten. Dachten, es wäre ein Baum. Und während man stirbt, kann man klettern. Die Kinder dachten nicht ans Sterben. Ans Verrecken noch weniger. Auch nicht ans Abnibbeln. Die sahen den Baum und wollten sehen, wer schneller hochkam. Die Erwachsenen zerrten an ihren kleinen schreienden Bälgern, schrien, sie sollten sich zusammenreißen, es werde schon alles gut ausgehen, man werde zwar zerschellen und verbluten, man werde tausend Tode sterben, aber das sei ja kein Grund, so ein Geschrei zu veranstalten.

Die Flieger rasten meinem Vater massenhaft in die von Haarwachs verklebten Haare, so dass man schon bald die Flugrouten änderte, man flog nicht länger über unser Heimatdorf.

Ein Schütze war er, mein Vater. Er trug ein Gewehr im Arm. Er schaukelte es wie ein Baby, sprach auf es ein, fütterte es mit Kugeln, ließ es sich erbrechen. Sein Babygewehr wurde auf alles gefeuert, was als “bewegliches Ziel” auszumachen war. Er schoss auf die Autos der Nachbarn, auf die Nachbarn.

Ein Mörder war er nicht. Er liebte halt den Schussapparat, er liebte das Spannen, Zielen und Feuern.

Er fuhr ja oft mit mir in den Wald hinaus. Wir kletterten auf einen Baum und saßen dort, angespannt und kauten Kaugummi oder einen Müsliriegel.

“Irgendwas wird schon kommen”, sagte mein Vater, “was wir töten können. Ein Elch, ein Wildschwein, ein Nachbar. Ich leg mit meinem Gewehr an und schieß es über den Haufen. Man kann das gar nicht glauben. So ein Wunder.” Er strahlte mich an. “Hier drückst du, und dort vorne fällt etwas wie ein nasser Sack um. Na, wenn das nicht toll ist. Willst du es denn einmal halten, mein kleines Baby?”

Ich nickte und er überreicht mir seine Todesfernbedienung, er legte sie samtweich in meine buttrigen Hände, und es war mir, als würden das Gewehr und ich verschmelzen. Es drückte sich tief in meine Handfläche, bis man den Kolben gar nicht mehr sehen konnte, weil er zu einem Teil der Hand geworden war. “Du bist ein wahrer Gewehrmann”, sagte mein Vater.

Wenn nichts vorüber kam, wenn sich kein Reh verlief, schossen wir Äste von den Bäumen, Vater ließ sie mit seiner Todesfernbedienung fallen, er schnitt sie aus der Ferne ab. Wenn es jemals ein Wunder gab, dann in Form eines solchen Gewehrs.

Im Schützenverein war er auch, keine Frage. Schützenkönig! Darum verhafteten sie ihn auch trotz der vielen Opfer nicht. Ein König ist König. Der ist unangreifbar. Unverhaftbar. Wir residierten in einem großen weißen Haus, das mein Vater schwarz hochgezogen hatte, in zahllosen Nächten, in dunklen Regennächten, weil er an den Tagen arbeiten musste. Er war bei der Polizei. Gut so. Die kam nie auf den Gedanken, dass man  bei uns in Dosenfeld einmal recherchieren müsste. Wegen meines Vaters! Wer so einen guten Kommissar im Dorf hat, der muss sich nicht fürchten, argumentierte das Polizeipräsidium.

Und doch gab es ein Jahr, in dem alles anders war. Mein Vater hatte sein Gewehr verlegt. Oder es war gestohlen worden. Er schwitzte, die Angst um seine Kleine, um seine Geliebte, machte ihn kirre. Er flehte alle an, sie mögen sein Gewehr suchen. Sie mögen es ihm bringen. Ohne seine Fangschüsse würde er sterben, erklärte der Vater. Er ließ die Mutter eine Pressekonferenz abhalten. Von überall aus dem Dorf kamen sie und lauschten der Mutter, die mit zitternder Stimme verlas, was der Vater in der Nacht diktiert hatte. Er drohte dem Dorf. Sollte sein Gewehr nicht auftauchen, würde er das Dorf dem Erdboden gleichmachen. Er würde alles tun, was ihm just in dieser Sekunde der Aufregung nicht einfiel, aber tun, so viel sei sicher, tun würde er es.

Das Gewehr blieb fort. Die ersten Wochen musste mein Vater das Bett hüten. Er trieb seine Traumschafe über die Bettdecke und zählte sie. Stets war da eins, was nicht da war. Es war hinter dem Kissen, am Fußende. Das Leben als Traumschäfer war der reinste Stress.

Nach und nach beruhigte er sich. Die Zeit begann, da er mich umhertrug.

“Komm!”, sagte er. “Ich habe kein Gewehr mehr, drum nehm ich dich.”

Vater befestigte einen Gurt an mir und schob ihn über die Schulter. Da hing ich. Kopfüber. Das Blut schoss mir in den Kopf. Vater zielte mit mir meist auf alte Frauen. Er hielt ihnen meinen Lauf vor das Gesicht und drückte ab. Ich feuerte Speichelkugeln.

Nahezu ein Jahr war ich das Gewehr meines Vaters. Eine wilde und verrückte Zeit, an die ich mich noch heute gern zurück erinnere.

Hörte mein Vater nachts ein Geräusch, griff er nach mir und suchte das Haus ab. Er flüsterte: “Die wissen nicht, dass ich einen Sohn habe. Die armen Irren!”

Er nahm mich auf die Jagd mit, fuhr mit mir nach Schottland in einen Park, der für Jäger war. Wir wohnten dort und schossen beinahe einen Elch. Meine Speichelkugeln hätten ihn verletzen können, wären wir näher an ihn herangekommen.

Und dann plötzlich, ohne Vorwarnung, war sein Gewehr zurück. Es glich einem Wunder. Von einem Tag auf den anderen lag es auf den Stufen vor unserem Haus.

“Papa!”, schrie die Mama.

Vater schnappte nach mir, der ich allezeit griffbreit in seiner Nähe stand oder lag. Er stürmte zur Tür hin. Einbrecher? Wo? Bei dem Geschrei musste ein Verbrechen geschehen sein.

“Dein Gewehr”, sagte die Mutter.

Vater erstarrte. Er ließ mich fallen. Wie ein Baum sein Obst. Wie ein Bauer die heiße Kartoffel. Wie die Wolken den Regen.

Vater bückte sich und hob seinen Schatz auf. Keine Fragen! Keine Vorhaltungen! Nichts! Das Gewehr, so dachte Vater wohl, muss schon seine Gründe gehabt haben, auf Wanderschaft gegangen zu sein.

Nie sprach er darüber. Er holte es heim, stellte mich in mein Kinderzimmer zurück und sah mich nicht mehr. Ich verschwand aus seinem Leben. Einfach so!

“Du hättest halt ein Gewehr werden sollen”, sagte meine Mutter und strich über mein Haar. Sie blickte angewidert in ihre Hände, die wie Specksteine glänzten. “Wasch dir wieder mal die Haare.”

Bis heute erinnere ich mich mit einem wohligen Gefühl an die Tage, an denen ich das Gewehr meines Vaters sein durfte. Sie spuken durch meinen Kopf. Sie erzählen mir davon, wie es hätte sein können, wäre ich ein Gewehr.

Traurig wuchs ich in Dosenfeld heran. Ich war eine Zimmerpflanze, die kaum Wasser brauchte. Ich saß hinter meinen Büchern und lernte. Sehnsüchtig blickte ich oft aus dem Fenster. Mein Blick verlor sich in der Ferne. Im Geäst. Im Wald. In der Vergangenheit.

Oft schloss ich die Augen und sah alles ganz klar vor mir. Mein Vater, der etwas gehört hatte, oben auf dem Hochsitz, und der nach mir griff und anlegte und forderte: “Spuck!”

Mongo

Mongo.

Das ist vielleicht mongo, sagt er und bleckt die Zähne. Mongo, nach einem chilenischen Comic aus den fünfziger Jahren, fügt er hinzu, von ihm aufgegriffen auf Anregung durch einen chilenischen Flüchtling, der den Alexanderplatz so nannte, weil er ihn an die Darstellung zukünftiger Städte erinnert hat. Mongo, das ist die Haltung, die eine solche Stadt hervorbringt, ein Wohnkästchen neben und über dem anderen, eine Menschenschachtel neben und über der anderen.

Götz greift nach einer Mappe im Regal links neben ihm und holt eine Zeichnung heraus, die die Dehnbarkeit dieses Begriffs demonstrieren soll. Ein grünschwarzes Menschenmonster – auch das ist mongo. Mongolisch, mongoloid. Wer ist hier nicht mongo, wir alle sind mongo, auch ich bins, wenn ich so etwas anfertige.

Er zeigt eine von ihm entworfene Postkarte: Rotes Herz hinter grauem Gitter; darüber der Text: Ein herzhaftes 1983. Mongo bin ich aber auch, weil ich zu feig war, es zu verschicken, damit ich keinen Ärger bekomme. Er blickt zu Beate: Und du bist mongo, weil deine Familie mongo ist.

Ärger.

Götz dämpft seine Zigarette im leeren Schnapsglas vor ihm kraftvoll aus. Bevor sie bei der Frau König eingezogen sind, sagt er, ist er mehrmals hier herumgegangen, um die Leute zu fragen, wie denn das Wohnen in der Gegend sei. Dabei ist er an ein älteres Ehepaar geraten, das sofort aggressiv reagiert hat. Die Frau habe die Handtasche gegen ihn erhoben, der Mann habe sich nicht ausreden lassen, er sei ein ZDF-Reporter und wolle die Leute zu Aussagen über die hiesige Umweltverschmutzung erpressen. Wenn das nicht mongo ist!

Traum.

Er habe – im Traum – einen Antrag für eine Reise nach West-Berlin gestellt. Ein S-Bahn-Fahrer habe ihn aber, bevor irgendeine Antwort eintraf, mehrmals nach drüben mitgenommen, sozusagen auf Probe.

Einmal bin ich in einem riesigen Kaufhaus gelandet, sagt Götz, im KADEWE, und staunend und völlig euphorisch an den vollgefüllten Regalen vorbeigezogen, von einem Stockwerk zum anderen, und immer noch dieses Überangebot, diese Unmenge verschiedenster Waren, bis in den letzten Winkel. Schließlich habe ich in der Käseabteilung haltgemacht und mich nicht satt sehen können an den mehr als hundert Sorten aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark.

Bei einer Selbstbedienungskassa in der obersten Etage habe ich eine Portion BULEX verlangt, in der Meinung, das sei etwas völlig Exotisches, das sei ein von mir irgendwann erfundener Markenname für eine himmlische Speise, die ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich setzen müssen – auf meine eigenen Unterarme, denn Sitzgelegenheiten hat es keine gegeben -, und die Verkäuferin hat mir mit der größten Selbstverständlichkeit eine riesige Portion BULEX über die Theke gereicht, wobei ich mich nachher nicht mehr erinnern konnte, woraus das Gericht eigentlich bestanden und wonach es geschmeckt hat.

Mongo.

Klar vor Augen sei ihm aber noch die Szene, wie er sich einen 5 kg-Sack Knoblauch gegen den Widerstand des Mädchens erstanden habe: Selbst im Traum sei er von dem Gedanken verfolgt gewesen, hier gebe es Knoblauch nur alle zwei Jahre und dann nur in winzigen Mengen.

Mongo.

Dann habe er sich allerdings verirrt, sei rauf und runter gefahren, doch die Treppe habe kein Ende gehabt, und vor ihm mit seinem Knoblauchsack seien alle Leute geflüchtet, er habe sich ständig über die Augen wischen müssen, was das Falscheste war, was er tun konnte.

Jetzt ist kein menschlicher Laut mehr zu vernehmen gewesen, flüstert Götz, nur das Geräusch der rasch rollenden Treppen, wobei diejenige, auf der ich gestanden bin, sich immer schneller, mit immer schnellerem Knacken hinunterbewegt, ein immer stärkeres Rauschen erzeugt hat, bis dann plötzlich Stille eingetreten ist und mich das Gefühl erfaßt hat, ich würde schweben, hinunterschweben, den Knoblauchsack an die Brust gepreßt, immer mehr aus allen Poren schwitzend – lautlos bin ich dem Erdmittelpunkt entgegengesunken.

Mongo.

Götz zündet sich eine weitere Zigarette an. Und Stefan starrt auf seine rote Lena, die ihm noch weiter unter den Tisch gerutscht erscheint, während er ein Gläschen Schnaps nach dem andern in sich versiegen spürt, gerade die richtige Wärme erzeugend, um das Auftauchen der Phosphoreszierenden Frau – falls sie ihr Versprechen auch einhält – ertragen zu können.

Verirren.

Wer von der Richtigkeit seines Wegs überzeugt ist, behauptet Götz, genießerisch an seiner Zigarette saugend, der kommt auch nicht um, der kehrt heim. Er habe sich einmal mit Freunden in der Hohen Tatra verirrt, die Gruppe jedoch retten können, weil er an einer Wegkreuzung hundertprozentig sicher gewesen ist, der richtige Abstieg sei links, nicht rechts. Mit denen, die sich ihm angeschlossen hätten, habe er die lebensrettende Hütte gefunden und dann auch noch die restlichen Kameraden herunterholen können.

Weg und Ziel.

Die Abweichung vom Weg, sagt Götz, das Aus-den-Augen-Verlieren-des-Ziels. Die Angst vor den Mühseligkeiten des Wegs, die Zweifel an der Richtigkeit des Wegs. Die Zweifel an der Richtigkeit des Ziels. Das Wagnis, das als Wagnis bestehen bleibt, auch ohne Weg und Ziel.

Weg könne auch heißen Lebensweg, und da müsse er sofort an seinen Freund Rolf denken, der viel weniger Glück gehabt habe als er: Als begleitender Kameramann eines Bergsteigerteams im Kaukasus hat er mit diesen die Orientierung verloren. Man hat unter einem Felsüberhang Unterschlupf gefunden und sich unter einer Plache zusammengekauert, wobei Rolf am äußersten Rand seinen Platz gehabt haben muß, weil ihm, ohne daß er es merkte, der linke Fuß abgefroren ist.

Dabei ist es aber nicht geblieben: Der zweite Fuß ist dem Rolf beim Verladen eines Findlings in der Nossentiner Heide zermanscht worden; so, mit dem Mus im Schuh, ist er bis zur nächsten Ortschaft gewankt, wo dann das Schicksal in Form einer Krankenschwester zugeschlagen hat. Sie hat ihm durch ihre inbrünstige Pflege alle Lust auf Abenteuer jeglicher Art gehörig ausgetrieben, ihn umgepolt in Richtung Ehe, Seßhaftigkeit, Kleben an einem Fleck, Zuspecken, gegenseitigem Bekochen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Kurztitel & Kontexte bis 2013-03-31

Kurztitel & Kontexte bis 2013-03-03

Kurztitel & Kontexte bis 2013-02-02

„FEEL ME!“ – Die beste Serie, die ich jemals sah: THE WIRE

Wir schauen gerade die vierte Staffel der Serie „The Wire„, die von Kritikerinnen für die beste Fernsehserie aller Zeiten gehalten wird. Da ich nicht alle und nicht mal viele Serien kenne, kann ich das nicht beurteilen. Es ist jedenfalls und mit Abstand die beste, die ich jemals gesehen habe.
„There you go. Giving a fuck when it ain’t your turn to give a fuck.“

„The Wire“ (2004 – 2008) erzählt vom Niedergang der Stadt Baltimore (Maryland). Es geht in jeder Staffel um einen anderen Schwerpunkt: die heruntergekommenen Slums, in denen die Drogendealer ihre Ware verticken, die Arbeit der Polizei, die Intrigen der politische Elite, der Kampf der Gewerkschaft im Hafen, das Schulwesen in den sozialen Brennpunkten, welche Geschichten in die Medien gelangen und welche nicht. „The Wire“ kennt kein Zentrum und keine „Hauptfigur“; es beleuchtet die Handlungen, das Denken und die Gefühlswelt der verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen aus allen möglichen Blickwinkeln. Es wird gezeigt, wie die Arbeit der Polizei sich bloß noch an manipulierbaren statistischen Erfolgen orientiert und der Versuch, durch beharrliche und geduldige Arbeit die Strukturen aufzudecken und zu verändern, ausgebremst wird. Beste Absichten können ins Gegenteil umschlagen. Intelligenz, Phantasie und  Gerechtigkeitssinn können an die Spitze des Rathauses führen oder eine Karriere als Gangster ebnen, Willenskraft und Wut auf die falschen Verhältnisse können zum Mörder machen oder zum Sozialarbeiter, Rassenkonflikte werden von korrupten Schwarzen ausgenutzt, um sich zu bereichern; weiße Rassisten missbrauchen ihre Position für sadistische Spiele mit schwarzen Jungs. Frauenverachtung und „rape culture“ sind überall präsent, aber Beziehungsprobleme hat nicht nur Säufer Jimmy McNulty mit seiner entnervten Frau, sondern auch die coole Kima Greggs, deren Geliebte unbedingt ein Kind will. In „The Wire“ ist keine einzige Figur reines Klischee, hat jede Tiefe und Individualität.
„World be getting warmer, people be getting colder.“

Das Beste an „The Wire“ ist, dass es den Zuschauerinnen Intelligenz unterstellt. Es wird nicht alles „auserzählt“. Was zu sehen und was zu hören ist, ist nicht redundant. Musik zum Beispiel wird sehr sparsam eingesetzt und keineswegs zur „Untermalung“ des Geschehens. Es gibt auch keine künstliche Verdunklung der Szenerie durch extra düstere Beleuchtung, keine Ästhetisierung der Bilder durch perfekte Kompositionen. Ein Blick auf „The Wire“ genügt, um sowohl den Abstand zur Bildersprache der Werbung als auch zum Dokumentarfilm deutlich zu machen: Hier wird weder distanziert und cool ein „Hard core“-Klischee-Medley gespielt, noch pseudo-echt mit Wackelkamera herumgefilmt. Klare Farben, hohe Auflösung, Aufmerksamkeit auf alle Details, aber ohne prätensiösen Zeigegestus. Hier wird niemand vorgeführt oder belehrt. Die Zuschauerin soll zuschauen, hinhören, aufpassen. Wer nicht aufpasst, kapiert nichts.
„My name’s Proposition Joe. You fuck with me, I’ll kill your whole family.“

Und mit der Zeit kristallisieren sich die Figuren und die Beziehungen heraus. Manche schließt eine ins Herz: „I´ve got a crush on Omar Little„(Der ist aber stockschwul). Dann verliert die Zuschauerin sie für eine Weile wieder aus den Augen. Später trifft sie sie an irgendeiner Ecke wieder. Corner boys. Da ist zum Beispiel Bodie, den sie schon aus der ersten Staffel kennt. Da war er noch ein großmäuliger Jugendlicher. Bodie ist erwachsen geworden, hat einen Freund ermordet. Bodie will sich daran nicht erinnern. Besonders nicht, als er erfährt, dass sein neuer Boss Marlo Stanfield seinen Kollegen, den fetten Kevin, hat erschießen lassen. Er fährt sich mit der Hand durchs Gesicht, eine knappe Geste. Es kann jeden erwischen. Bodie hat keine hohe Lebenserwartung an seiner Ecke. Er weiß es. Dass er einmal für Marlo an einer Ecke stehen würde, hätte er sich auch nicht träumen lassen. Bodie war ein Barksdale-Mann. Aber Barksdale und sein Strippenzieher Stringer Bell sind längst schon Geschichte. Auch im Hafen war die Zuschauerin schon eine Weile nicht mehr, wo der verbissen kämpfende und überforderte Gewerkschaftsfunktionär Frank Sobotka ermordet wurde. Das war in Staffel zwei. In manchen Gegenden von Baltimore ist es nicht leicht, alt zu werden. Es ist vor allem der Zufall, der die Chancen verteilt. Und das Geld. Lester Freamon, der geduldig die Mobiles abhört,  will dem Geld folgen. Staatsanwältin Rhonda Pearlman stellt die Vorladungen aus. Da wird man in den oberen Etagen nervös. Commander Bunny Colvin versucht es von unten: Er gründet „Hamsterdam“, eine Zone, wo Drogenkonsum und – verkauf nicht verfolgt werden, um den Rest der heruntergekommenen Nachbarschaften sicherer zu machen. Das Experiment zeigt erste Erfolge, bevor die Presse davon Wind bekommt. Colvin muss den Polizeidienst quittieren und taucht in der nächsten Staffel als Berater eines Bildungsprojektes für gefährdete Jugendliche an einer Middle School in West Baltimore wieder auf. Hier trifft er den polnischstämmigen Roland Pryzbylewski (Presbo) wieder, der als Polizist gescheitert ist, dem es aber als Mathematiklehrer nach einem desaströsen Beginn gelingt, das Vertrauen seiner Schülerinnen zu erwerben und sie für Wahrscheinlichkeitsrechnung zu begeistern. Auch sein Engagement wird von der Schulbehörde, die „Teaching to the test“ für die Statistik verlangt, behindert.
„This is America, man.“
Es ist unmöglich, die vielen Stränge der Erzählung hier nachzuerzählen. Die fünfte Staffel habe ich gestern bestellt. Was für ein großartiges Werk. Autor ist David Simon, der zwölf Jahre für die Baltimore Sun als Gerichtsreporter arbeitete. Das merkt man den Geschichten und Figuren an, von denen er erzählt. Sie stehen nicht für etwas, sie sind keine „Typen“ und keine reinen Projektionen eines weißen männlichen Bewusstseins, das sich eine Welt zusammenerzählt und kritisiert, wie sie ihm gefällt oder ihn romantisch schaudernd fasziniert. Diese Figuren sind aus genauen Beobachtungen entstanden und aus der Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, davon, dass zwar alle Klischees wahr sind, aber Klischees niemals alles sind. Produzent und Co-Autor der Serie ist Ed Burns. Burns hat seine langjährigen Erfahrungen als Polizist und Lehrer in die Serie einbringen können. Mit „The Wire“ zeigen sie die Dysfunktionalität der bestehenden politischen, sozialen und gesellschaftlichen Systeme in den USA. Sie zeigen aber auch, mit wieviel beharrlichem Eigensinn Individuen sich gegen diese Systeme stemmen.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-01-06