Tornato

Garrincha, brasilianischer Fußball-Mythos der 1950er und 60er Jahre, war misstrauisch. Das Geld, das er bei Botafogo verdiente, dem Club, dem er zeitlebens treu blieb, vertraute er keiner Bank an, er versteckte es daheim im Kleiderschrank. Zu Beginn einer Saison, wenn eine neue Lieferung kam, in kleinen gebrauchten Scheinen, stemmte sich die ganze Familie mit vereinten Kräften gegen die Schranktüren, um sie wieder zuzukriegen, so eine ehemalige Nachbarin. Dazu lief laute Bossa Nova Musik.

Garrincha hatte nicht nur einen Geldspeicher im Schlafzimmer, er hatte auch von Geburt an ein O- und ein X-Bein. Rein rechnerisch hätte er nach jedem Schritt umfallen müssen. Stattdessen wagte er auf dem Rasen die witzigsten Dribblings, er tanzte die Gegner gegen jede Wahrscheinlichkeit  aus, er belästigte sie und liess sie hinter sich stehen wie gründelnde Enten. Er fiedelte alles und jeden um den Verstand.

Er starb besoffen.

Hier ruht Garrincha, der die Freude der Menschen war – so steht es geschrieben auf dem Grabstein. Noch heute pilgern die Fans zu seiner Ruhestätte, noch heute fliessen Tränen. Mehr als Pele oder Maradona dribbelte sich Garrincha ins Herz Südamerikas.

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Ein Dribbler kann gar nicht anders. Er ist ein süchtiger Charakter, der die ständige Wiederholung sucht. Er gibt den Ball nicht her, er treibt ihn voran, um ihn behalten zu können, er sucht das Solo, so lang es nur geht. Ein Dribbel-König ist ein höchst konservativer Mensch mit Hang zur Anarchie. Interessant wird es für den geübten Dribbler ab dem zweiten, dritten Gegenspieler, den er hintereinander ausknipst. Den er umkurvt, den er nass macht, den er umfummmelt und zu bloßem Beinvieh degradiert. Dann beginnt der Rausch im Kopf. Die Sucht.

Ich war auch so ein eigensinniger Stürmer, ein verdammter Fummelkopf, oder wie mein erster Trainer Alfred B. immerzu meckerte: “Spiel den Ball ab, Glummi, du bist nicht allein auf dem Platz!”

Zwar ruhen die Augen beim Solo ständig auf dem Lederball, darüber hinaus hat man aber jede gegnerische Regung wahrzunehmen – jede noch so unmögliche wie mögliche Blockade muss vorausgesehen und einkalkuliert werden. Immerzu heisst es beim Dribbling den Ball zu feiern und zu kosen, zu huben, zu hadern, aufzubocken, zu frikassieren und zu tunneln. Und zur Not zurückzuerbeuten.

Bei jedem Sololauf durch die gegnerische Abwehr gibt es diesen Moment, wo du zu scheitern drohst. Als Mensch, als Fußballspieler, als blutjunger Künstler. Wenn du die Pille beinah vertändelst, wenn dein Gegner den Trick fast durchschaut, wenn es dir erst im allerletzten Augenblick gelingt, den Ball doch noch per Hacke mitzunehmen, das sind die glücklichsten Momente.

Zuletzt bist du allein vorm feindlichen Tor. Ein wilder Hund, das ist der Torwart. Er ist der Mann, der mit langen Armen wild wild sein Haus bewacht – und er darf kraft Gesetz eine Menge mehr als du es darfst als Stürmer: er darf dir die Lederpille vom Fuß beißen, er darf sich mit dem ganzen Körper aufs Leder werfen und unter sich begraben, als wäre es totes unnützes Material. Der Keeper ist der wahre Todfeind des Stürmers, er ist der Drecksack, dem es die Kirsche ganz zuletzt eiskalt durch die krummen untalentierten Beine zu schieben gilt.

Abdrehen, Küsschen, Jubel.

san.tiermitblauball

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1969 stiess Tornato zu uns, der grösste und leidenschaftlichste Fummelkopp aller Zeiten, eine mitleidlose kleine Dribbelmaschine, und plötzlich war ich nur noch laufende Nummer 2 im Team. Tornato war der Garrincha des RSV, aber absolut unfähig, einen Treffer zu erzielen. Wenn Tornato den Ball abgab, dann nur aus Versehen.

(Für gewisse Sachen kann man nichts. Etwa für Talent. Niemand kann etwas für sein Talent, man ist nur dafür verantwortlich, was man daraus macht. Menschen, die ihr Talent nicht nutzen, ertrinken mit Wasser im Mund.)

Tornatos anarchischer Umgang mit dem Ball war geprägt von einem intuitiven Verständnis für Physik. Er wusste stets, in welche Richtung sich der runde, mit Luft aufgepumpte Behälter bewegt und wie er ihn behandeln musste, wenn er ihn woanders hin haben wollte.

Tornato war klein und wendig, er kam aus Süditalien und sprach kein Wort Deutsch. Ein wortkarger kleiner Aussenseiter, der niemals lachte oder sonstwie die Miene verzog. Das fanden wir komisch. Wie konnte ein Junge, der auf dem Fußballfeld vor Phantasie und Einfällen nur so strotzte, im richtigen Leben eine solch graue Maus sein. Auf dem Fußballplatz lernt man eine Menge übers richtige Leben.

Zum Beispiel: welcher Trick dir auch immer gelingen mag, der liebe Gott klatscht keinen Beifall. Es sind nur die Rentner am Spielfeldrand, die schon mal klatschen, aber noch viel lieber ist ihnen, wenn dir etwas misslingt. “Der Glumm trifft heute keinen Lastwagen aus fünf Metern Entfernung!”

Wir waren Fußball-Aficionados, Fußball war unser Leben. Wenn wir kein Training hatten und kein Spiel war, trafen wir uns am Nachmittag unten im Klauberg, auf dem großen staubigen Bolzplatz, und spielten bis es dunkel wurde und einem von uns die Achillessehne oder der Meniskus ausleierte. Ein Gefühl, als klebte einem ein Schwarm Mücken an der Ferse oder am Knie.

Tornato kam in der D-Jugend zu uns, im Alter von neun Jahren, mit den Gummibeinen eines Welpen und diesem absolut undurchschaubaren, gleichmütigen Gesichtsausdruck. Er steckte mich in die Tasche, gegen ihn war ich bloß ein Mittelstürmer, der Tore erzielte, doch als Künstler reichte ich nicht an ihn heran. Aber ich war ihm nicht böse. Weil ich seine Lust am Dribbling, seine Leidenschaft nachvollziehen konnte, bekam ich nicht genug davon ihm zuzuschauen. Auch wenn der Fußball eine Menge brillianter Dinge zu bieten hat, ein Dropkicktor aus 30 Metern Entfernung oder einen direkt verwandelten Einwurf in der Nachspielzeit, nichts geht über diesen Moment, wenn man beim Dribbeln einen Lauf hat und die Gegner reihenweise aussteigen lässt.

Es ist der totale Rausch.

Ohne, dass du selbst genau weisst, was du als nächstes tun wirst, überrascht du die gegnerische Verteidigung mit der nächsten Trickexplosion, und, nicht zu vergessen: Jeder Verteidiger muss mit einer neuen Finte ausgespielt werden. Es ist kaum möglich, die gleiche Finte zweimal hintereinander zu verwenden in derselben Spielsituation.

Aber Tornato fiedelte nicht nur jede Abwehr um den Verstand, auch sich selbst verschonte er nicht. Immer wieder passierte es, dass er die gesamte Hintermannschaft schwindlig spielte, doch sobald er allein auf den Torwart zulief, war sie plötzlich da, die Angst vorm Torwart, und er vergeigte die besten Chancen. Es war, als erwachte er aus einem rassigen Traum und nun baute sich die Wirklichkeit vor ihm auf, groß und unüberwindbar und universell fischte sie ihm mühelos den Ball vom Fuß, fast wie nebenbei. Ich kann mich an keinen einzigen Treffer erinnern, den Tornato für den RSV je erzielt hätte.

Niemand von uns Jungs lernte Tornato näher kennen. Nicht mal der Duce, der zweite kleine Italiener in unseren Reihen, verbrachte ausserhalb des Platzes Zeit mit ihm, und so blieb er uns allen bis zum Schluss ein Rätsel. (Unser dritter Italiener, der lange Tonino, unser Vorstopper, war keine Hilfe, er war genauso mundfaul wie Tornato.)

Dass wir trotz Tornatos Supertalents und zwei, drei weiteren guten Spielern meist in den unteren Jugend-Ligen kickten, lag an der unglückseligen Zusammensetzung des Teams. Im Einzugsgebiet des RSV gab es einfach zu viele Schussel und hüftsteife Krücken, die einen Stammplatz sicher hatten, aus dem einen oder anderen Grund. Mal war der Vater einer Krücke unser Trainer, mal bekamen wir ohne ihn keine acht Mann zusammen, das Minimum, um als Mannschaft auflaufen zu dürfen, ansonsten wurde das Spiel erst gar nicht angepfiffen und ging automatisch mit 0:2 Toren verloren.

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A-Jugend RSV Kohlfurth, 1977, ohne Tornato

Eines Tages erschien Tornato nicht zum Training, am folgenden Samstag fehlte er beim Match. Seine Familie, von der wir nicht mehr wussten, als dass es eine unüberschaubare Anzahl von Geschwistern gab, die gelegentlich am Platzrand standen und ihn anfeuerten, (was ihm unangenehm war), war in die Heimat zurückgekehrt, eine lang geplante Geschichte, doch Tornato hatte uns kein Wort gesagt.

Drei Jahre später, in der A-Jugend, kam er zurück – genauso, wie er gegangen war, ohne Ankündigung, von heute auf morgen, Knall auf Fall. Diesmal nur in Begleitung seines Vaters, der wieder seine Arbeit bei Rasspe aufnahm, Hersteller von Landwirtschaftsmaschinen sowie Hauptsponsor und Namensgeber des RSV, Rasspe Sport Verein.

Tornato war kaum gewachsen, hatte sich aber in der Heimat einen bösartigen kleinen Nudelbauch angefuttert. Seine Ballbehandlung war weiterhin großartig, er fummelte auf engstem Raum, als wolle er das Völkerrecht aushebeln, er war immer noch der Reiter, der jede feindliche Linie durchstiess, übertölpelte, Haken schlagend. Wäre es nur möglich gewesen, jeder Gegner hätte ihn sofort zur unerwünschten Person erklärt und an der nächstbesten Grenze festsetzen lassen, bis zum Saisonende.

Doch etwas war anders geworden. Tornato war nicht mehr der Alte. Kaum 16 Jahre alt, machte er einen erschöpften und niedergeschlagenen Eindruck. Der Bauch, für den seine Mama viele Portionen Nudelteig geknetet haben musste, war nur äusserliches Anzeichen einer tiefen Schwermut. Schon nach einigen wenigen Spielen geschah es, dass er in einer völlig unbedrängten Situation plötzlich den Ball abgab. Hätten wir uns zwei Jahre zuvor vielleicht darüber gefreut, dass er sich so mannschaftsdienlich zeigte und das Spiel flüssig machte, so wussten wir nun nicht, was wir davon halten sollten. Das war nicht mehr der dickfellige kleine Rebell, der uns einst verlassen hatte.

Einmal, nach dem Training, wir gingen gemeinsam in Richtung Vereinslokal, wo auch die Umkleidekabinen und Duschräume untergebracht waren, wurde ich das Gefühl nicht los, dass er uns etwas sagen wollte. Tatsächlich holte er Luft, sah uns mit großen dunklen Augen an – und schwieg verlegen.

Der Bursche habe es mit dem Herzen gehabt, sagte unser damaliger Trainer, als Tornato kurz darauf in die süditalienische Heimat zurückkehrte und sich im Alter von 18 Jahren aufhängte.

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