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Inhalt 01/2016

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2016 erschien am 11. April 2016.

In dieser Ausgabe:

Hanns Dieter Hüsch und der Niederrhein, Jean Paul und Friedhelm Rathjen, Dr. Dre & Ice Cube, die Liebe als Struktur, Ossama Moham­med und Wiam Simav Bedir­xan, Hyazinthen und Rotmilane, Benzin und Möwen, Hans Castorp versus Gregor Lanmeister, ein Bra, Kiefer und Baselitz, Pillen und Gewaltphantasien, die Wahl der Würmer, Schwäne, Brunnen, Kritteleien und Schwarzwälderkirschtorten … uvm.

INHALT:

Mitten im Tod sind mit dem Leben wir umfangen

Einige ganz lebendige Eindrücke von Alban Nikolai Herbsts Lesung aus dem „Sterbebuch“ „Traumschiff“ im Literaturhaus S.-H.

Kiel. Das ist Lastotschka, da direkt vor mir sitzend, mit dem Rücken zu mir, lauschend. Und manchmal bebt ganz leicht, feenseeschwalbenhaft die sanfte Biegung ihres rückwärtigen Halses, wo er in die schmalen, leicht hochgezogenen Schultern überschwingt, wo die Haut dünn ist und duftet, wo die Ader pulst – und ich dürste …

Wie einst Hans Castorp in Thomas Manns „Zauberberg“ während eines Vortrags über den Tod und die mit solchem verbundene Lebensgier jene Körperpartie der „kirigisenäugigen“ Russin Madame Chauchat bewunderte und den durchaus nicht flüchtigen Blick sogleich in ein unerfüllbares Sehnen verwandelte, ergeht es Gregor Lanmeister, als er als Reisender auf dem „Traumschiff“ der ukrainischen Pianistin begegnet, die er fortan (russisch für „Schwalbe“) „Lastivka“ (Koseform des Namens: Lastotschka) nennt und ihr das verschweigend schreibt vom langsamen Scheiden aus dem Leben. Vom Tode also, von dem wir laut einem gregorianischen Choral „media in vita“ schon umfangen sind.

Gregor Lanmeister, der gealterte Mann, ehedem Handlungsreisender in dubiosen Geschäften, „ein echtes Arschloch eigentlich“, nunmehr als einer der 144 Todgeweihten auf der „Barke“ durch die sieben Weltmeere schippernd (er weiß nicht mehr, wie lange schon – und wie lange noch), ist der Protagonist, genauer genommen Chronist eines zeitlos Gewordenen, in Alban Nikolai Herbsts beim Hamburger mare Verlag erschienenem Roman „Traumschiff“. Als „Sterbebuch der Extraklasse“ bezeichnete die FAZ jüngst das Werk, das zwar allegorienreich um das Thema „Tod“ kreist, aber eigentlich ein Buch über das Leben ist. Und ein Großentwurf, wie beide, Tod und Leben, ineinander übergehen und einander wechselseitig dialektisch bedingen. A propos Großentwurf: Als „überinstrumentiert“ bezeichnen einige der (bisher viel zu raren) Kritiken solchen und ziehen Parallelen zum „Zauberberg“. Auch wenn Herbst sie ablehnt – Thomas Mann verabschiede ein ganzes Zeitalter und das stilistisch deutlich manirierter als man es Herbst zwischen den Zeitungszeilen nicht erst beim „Traumschiff“ vorwirft – sind sie naheliegend: Clawdia Chauchat versus Lastotschka, Hans Castorp versus Gregor Lanmeister, Kreuzfahrtschiff auf der weiten See versus Berghof in der Weite der Alpen. Nicht zu schweigen davon, dass bei Mann wie Herbst die metaphorischen Namen des Figurenkabinetts sie als (Arche-) „Typen“ auszeichnen.

Doch solche eitle Rezensentenfreuden am Ent- und Aufdecken von Kassibern, die den Text zwar spielerisch (man könnte auch sagen: poetisch) durchziehen, die ihn aber nicht ausmachen, schon gar nicht (er-) klären, führen in die Irre, hört und sieht man Herbst live lesen. Etwas steif wirkt er in seinem distinguierten Outfit, tiefdunkelbrauner Anzug, Krawatte bis über den Kehlkopf gebunden, wie er da vor der Lesung freundlich Freunde oder aus dem Netz gut Bekannte wie mich begrüßt. Die Dampfwolken aus seiner E-Zigarette sind so beredt wie seine herzlichen Begrüßungsworte. Traumschiff-Abendanzug in der Raucherecke? Wiedergänger Lanmeisters, der nicht sein Alter Ego ist – oder doch? Und jetzt gleich eine eigentlich schon tote „Wasserglaslesung“ …?

Nichts dergleichen. Herbst lässt das Wasserglas unberührt, schenkt sich (mehrmals und zum Lesefluss dramaturgisch passend) Wein ein – weißen wie der Seeschwalben Federkleid, nicht sterbensblutroten. Hängt das Jackett schwungkunstvoll über die Lehne, befreit seinen Hals von der knebelnden Krawatte, knöpft das Hemd auf, krempelt die Ärmel hoch … Und beginnt mit einem Gedicht aus „Der Engel Ordnungen“, in dem den „Versen der Sehnsucht“, die Lanmeister fortan weitersingen wird, mal komisch, mal verklärt, nicht von ungefähr das Adjektiv „morsch“ vorangestellt ist.

Schon dieser Auftritt ist eine Entgegnung dem ganzen Vanitas-Zusammenhang, der hier aufscheint, das „Sterbebuch“ zwar prägt, aber den es zugleich konterkariert. „Ohne ihre Banalität sind die Menschen nicht zu verstehen“, flüsterte Lanmeister sein schon längst als Leiche von Bord gegangener Freund zu. Und genau so ist es: Leben wie Tod sind einerseits banal, andererseits sind sie ganz großes Welttheater auf der kleinen Barke, Rettungsboot …

Meinem (Facebook- und litblogs.net-) Freund ANH traue ich zu, dass er auch seine Lesungen so präzise inszeniert wie seine Romane, Hörstücke und Gedichte. Nicht zuletzt in seinem literarischen Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, wo man vor vier Jahren sein Ringen um den damals noch als „Totenschiff“ betitelten Text verfolgen konnte, macht er deutlich, dass pralles Leben und dessen Kondensation im (toten?) Text dialektisch sind, dass man im und mit Text nicht nur lebendig wird, sondern auch neues Leben erzeugt – über den Tod, der uns alle irgendwann ereilt, hinaus.

„Lastotschka“, vor mir in der Reihe sitzend, hat sich jetzt einen Schal um den Hals gewunden. Will sie sich verbergen vor meinen und Gregors sehnenden Blicken? Oder – und das ist das Leben, von dem wir nah dem Tode so poetisch zärtlich umfangen werden –, fröstelt sie ob beider nur?

ANH liest aus „Traumschiff“ am Literaturtelefon Kiel

4 Sektig

Das sektige Gefühl im Bauch, diese auffressende Säure.
Das Völlegefühl in Anbetracht dieser Harmonie verbreitenden Paare. Paare in der Silvesternacht. Noch weit von den kommenden Trennungen entfernt.
Machen sich Handzeichen über die Tanzfläche hinweg, während sie sich langsam, fast lethargisch zu „I Can Change“ von LCD Soundsystem bewegen.
Alles Lüge, niemand ändert sich hier.

Eine bleiche Frau, fast albinohaft. Mit wasserblauen Augen hinter einer runden Brille mit hellem, brauntönigen Rand.
Die Frage nach der Arbeit. Die Frage der Arbeit. Im Radio wünschen sie sich, weniger arbeiten zu müssen. Alle wollen weniger arbeiten. Weniger Arbeit. Die Hälfte der Arbeit, das doppelte Gehalt. Man kommt auch schlechter in die Arbeit, je länger man fortgeblieben ist.
Wir nehmen uns weniger Pädagogik vor. Weniger Pädagogik und weniger Arbeit.
Sie ist etwas verhuscht, etwas schüchtern. Da ich sie will, da ich sie wirklich will, komme ich mit meiner eigenen Schüchternheit besser zurecht.

Dann kam tatsächlich eine Kaltfront.
Ich las Anke Stelling, um mich von DeLillo („Underworld“) zu erholen.
Progression und Behaarung.
Ich griff wieder zu DeLillo, um mich von Anke Stelling („Bodennahe Fenster“) zu erholen.
Ganz vergessen, wie kalt es in Berlin sein kann. Schneidiger Wind. Plümmelmütze. Schal.
Jetzt gehen wir in eine Kunst.
Jean Dewasne, die Entdeckung der Würth-Sammlung.
Gut, ich hatte meinen Presseausweis. Dennoch: Diese Würth Gruppe hat soviel Kohle, sie sollte ihre gesammelte Kunst grundsätzlich umsonst zeigen.
Vielleicht tut sie das auch, und das Museum ist das, was Geld verdienen muss.
Kiefer und Baselitz: Vorurteile wieder voll bestätigt.
Kein ausgestellter Künstler – Künstlerinnen waren eh an einer Hand abzuzählen – war jünger als ich.
Ich glaube, irgendsoein Skulpturenmacher hatte das Geburtsjahr 1965. Er war der jüngste.
Die Menschen in der Ausstellung sahen auch wieder überkomisch aus.
Menschen im Durchschnitt: nicht schön.
Hockney und Richter in einen Raum zu stecken ist auch keine gute Idee. Ich mag Hockney. Aber zu Richter passt er leider so gar nicht.
Richter fast allen wieder haushoch überlegen. Warhol: lustig. Picasso: auch sehr lustig. Magritte: doch wieder schön. Mein Ex-Lieblingsmaler, immer noch weit oben auf der Liste.
Schön auch: Es gab einen Nay zu sehen, und schön auch vor „Mono Gold“ von Klein zu stehen.

LSD, Ostern ’78

Wer LSD nimmt und auf den Horror kommt, hat zuletzt nur noch einen Wunsch: dass in Gottes Namen alles wieder so wird, wie es einmal war. So normal und vertraut, wie man es gekannt hat, bevor die Säure das Bewusstsein kaperte und alles durcheinander brachte.

Gegen einen Horrortrip erscheint ein Albtraum geradezu luftig und leicht, wie Zuckerwatte. Hält ein Albtraum noch die Möglichkeit offen, schweißgebadet aufzuwachen und durchzuatmen, ist ein Horrortrip ein Schockzustand, aus dem man auf Stunden nicht herausfindet. Es ist, als würdest du dir selbst nachwinken, während du krachend in die Tiefe stürzt und dich nur noch danach sehnst, dass alles wieder so wird, wie du es gewohnt warst. Du möchtest mit Freunden zusammensitzen, in eine Tüte Colorado greifen und eine TV-Serie anschauen, du möchtest die normalsten Dinge der Welt tun und glücklich sein.

Dummerweise ist ein schlechter LSD-Trip so unerbittlich, so rigoros und potent, dass man sich die Verrichtung alltäglicher Dinge kaum noch vorstellen kann. Es fühlt sich unerreichbar an. Und je länger dieser Zustand andauert, desto weniger glaubt man daran, dass ein Zurück überhaupt möglich ist. Oder ob man nicht schon zu tief drin steckt im Mutterkorn..

Dabei ist LSD in der richtigen Dosierung am richtigen Ort zur richtigen Zeit eine Erfahrung, die einem das Leben in dieser Klarheit vielleicht nur einmal genehmigt. Vermutlich gibt es auf Erden kein chemisches Material, das einen näher an die Ursprünge der eigenen Existenz führt. Ein guter Trip ist deine eigene Schöpfungsgeschichte, ein guter Trip ist deine Indianererfahrung.

Ein schlechter Trip hingegen klemmt wie ein schwarzer Schatten über deinem weiteren Leben.

 

Jesus Christus, Susanne Eggert

 

Wenn die Rede auf Acid kam, sprachen wir von Linsen. Linsen galten als Könige unter den Drogen, sie herrschten unangefochten über die Subkultur. Gegen eine gute Linse stand jede andere Droge auf verlorenem Posten. Ob Marihuana oder Heroin, ob Koks oder Speed, allen Stoffen fehlte das gewisse Etwas der Linse, der dunkle Zauber des Unwägbaren.

Die erste Linse teilte ich mir im Frühsommer 1977 mit Pepe, eine Yellow Sunshine. Es war nicht nur die erste, es war auch die bei weitem beste Linse, die ich je eingeworfen hab. Danach hätte ich meine LSD-Experimente eigentlich einstellen können. Was auch besser gewesen wäre.

LSD ist ein Spiel mit dem Feuer, im Mikrofunkenbereich. Eine Messerspitze zu viel oder zu wenig kann darüber entscheiden, ob dir muckelig warm zumute ist wie am idyllischsten Lagerfeuer der Menschheitsgeschichte oder ob du dich im Wahn selbst entzündest und plötzlich Feuer fängt. Es gibt keinen Löschzug für einen schief laufenden LSD-Trip, die Brandwehr rückt erst gar nicht aus. Und die Substanz legt dich innerlich in Schutt und Asche. Oder wie Albert Hofmann, Entdecker von LSD, im Alter erschüttert meinte: “Ich glaubte nie, dass ein Stoff mit dieser Kraft auf der Strasse landen könnte..” Nein, das hatte er nicht gewollt.

Das konnte er gar nicht gewollt haben.

*

Wir waren seit Monaten hinter einer Yellow Sunshine her, doch Pepes großer Bruder hielt uns hin.

“Ein Trip ist nicht wie Kiffen, Jungs. Das kann schwer ins Auge gehen. Man muss mit jemanden zusammen sein, dem man blind vertrauen kann. Wartet einfach noch ein bisschen. Wenn ich eine Yellow Sunshine in die Finger kriege, denk ich an euch. Versprochen.”

Yellow Sunshines, soviel hatten wir schon gehört, waren legendär. Sanft und lang anhaltend in der Wirkung, wenig Halluzinationen, kaum Speed. “Was denn, was denn, keine Hallus..!?” sagten wir verstört. Was zum Teufel sollten wir mit einem Trip, der keine Hallus bescherte? Pepes Bruder lachte nur. “Wartet ab.” Na schön. Was blieb uns auch anderes übrig.

Pepe war dafür bekannt, gut sitzende Blue Jeans zu tragen, immer die neueste Importware aus den USA. Sein von Selbstbräunern maskierter Vater, Inhaber mehrerer Herrenmodegeschäfte sowie einer Jeansladen-Kette, wollte Pepe frühzeitig zum Junior-Chef aufbauen. Der ältere Bruder wurde hauptsächlich als Fahrer eingesetzt, ab und zu er durfte im Zentrallager kommissionieren, wenn die Bestellung nicht über zehn Rifle-Jeans hinausging.

Pepes Bruder war ein lieber Kerl, nicht der gescheiteste, etwas weich in der Birne. Er war ständig auf Pille und bekifft und kicherte und verrechnete sich auf der Arbeit, er brachte alles durcheinander und wenn die Bestellscheine aus den anderen Filialen mit Fragezeichen verziert retour kamen, machte er eine Woche blau, schmiss Pillen ein, kiffte und kicherte.

Pepe hingegen machte etwas her, hatte vom Vater die Durchsetzungskraft geerbt. Hätte Pepe länger gelebt, aus ihm wäre noch ein richtig strammer Kapitalist geworden. Das mitfühlende, beinah feminine Herz seiner Jugend, gepaart mit der späteren Knast-und Heroinerfahrung, es wären sicher nicht die schlechtesten Voraussetzungen für eine Businesskarriere gewesen, hätte das Pulver ihn nicht dahingerafft, mit 25, auf einem Wirtshausklo in München.

So wie sein Vater nichts anderes im Sinn hatte als Geld, galt Pepes Interesse ausschließlich Drogen. Die beiden lagen gar nicht so weit auseinander, wie sein enttäuschter Herr Vater wohl annahm, als er während der Beisetzung seines ältesten Sohnes, der zwei Jahre nach Pepe ebenfalls einer Überdosis erlag, seine von ihm geschiedene Ex-Frau anherrschte, “ich habe niemals Söhne gehabt, meine Liebe!” Worauf er sich umdrehte, in die wartende Limousine einstieg und nie wieder einen Fuß auf den Friedhof setzte.

*

An einem Frühlingstag war es endlich soweit. Eine Lieferung Yellow Sunshine war angekommen. Pepes Bruder hielt sein Versprechen. Wir zahlten 15 Mark für die kleine orangefarbene Tablette.

“Bleibt auf jeden Fall zusammen, egal was passiert, und geht raus in die Natur”, gab uns Pepes Bruder noch mit auf den Weg. “Bleibt bloß nicht auf dem Zimmer hocken.”

Dann wünschte er seinem kleinen Bruder und mir einen angenehmen Flug.

Jedes Mal, wenn ich eine Droge neu ausprobierte, war Pepe mit an Bord. Das war Gesetz. Der erste Trip, das erste Mal Heroin, das erste Mal Koks, selbst beim ersten Mal Kiffen war ich mit Pepe zusammen. Es war spätabends vor der Kirche Unter St. Clemens. Nach der zweiten Purpfeife hockten Pepe und ich auf den Treppenstufen der katholischen Innenstadt-Kirche und staunten in den Straßenverkehr. Wir ergötzten uns an den warmen Wechselfarben der Ampelschaltungen, an den roten Rücklichtern der Mopeds und dem Sound dahinjagender Ambulanzwagen. So homogen schien alles, so perfekt, als hätte jemand zu unseren Füßen die grosse Elektrische aufgebaut, nur eben in lebensecht: vor unseren Augen präsentierte das Haschisch seine große Märklin-Show. Und wir beide saßen unvermittelt an der Trafostation, Pepe und ich, und ließen es laufen.

Mit Pepe konnte man die Dinge ganz wunderbar laufen lassen.

*

Die Yellow Sunshine genehmigten wir uns nach kurzer Überlegung am Hippergrund, dem Landschaftsschutzgebiet, in dessen Nähe ich heute noch wohne. Und ab und zu, wenn ich am nahen Treppenbach stehe, sehe ich uns noch vor mir, Pepe und mich, wie wir die Linse brüderlich in zwei Hälften teilen und entspannt durch den Wald spazieren, Seite an Seite.

Es dauerte über eine Stunde, und nichts passierte. Als wir uns schon beinah verschaukelt fühlten, vom Geheimnis entkoppelt, ging es, leicht noch zunächst, los. Ein erster sachter Einschlag. Wer LSD nicht kennt, wer es nie ausprobiert hat, der erwartet alles mögliche, Krimi, Totschlag, Sensationen, (oder wenigstens drei Stunden lang wie ein Hund hören und riechen zu können, Explosionen in blau und ein inneres Orchester), aber eines bestimmt nicht – dass man sich fühlt wie ein unaufdringlicher Gast an einem milden Apriltag. Ja, man weiß anfangs nicht einmal, bin ich schon auf Acid? Ist das schon die Linse?

Angenehm, das Licht.

Und erst dieses organische Federn..

(LSD war das Geheimnis der großen Brüder. Wir hörten so viel, sie erzählten so wenig. Sie behielten es für sich. Es war ihr letzter Trumpf. Yellow Sunshine. Eine funkelnde kleine gelbe Sonne. Wir hatten regelrecht betteln müssen, bis wir sie endlich in den Händen hielten. Und nun steckte sie in unserem Kopf, und es geschah – nichts.)

Und urplötzlich ist man mittendrin. Ohne viel Worte. Wie immer, wenn es wichtig wird im Leben, wenn es wirklich drauf ankommt, sind Worte nichts als tapsige Urlauber, die im falschen Augenblick durchs Bild rennen. Man kann auf sie verzichten. Man kommt ohne sie besser klar. Niemand braucht so was.

(Das irrste Erlebnis auf LSD, wenn auch auf einem späteren, mehr von Speed dominierten Trip: Wie der jüngere Bruder vom dicken Hansen und ich nebeneinander auf dem Scheisshaus hockten und uns eine Klobrille teilten. Wir mussten beide zur selben Zeit: GROSS! Es war, als wollte der Stuhlgang überhaupt nicht enden, als würden wir ganze Planeten ausscheiden.

“Boh..”, grunzte der Bruder vom dicken Hansen.)

Wir flanierten den Panoramaweg entlang. Eine dicht bewachsene Talsenke, wo die Sonne unerbittlich knallt, weil kein Baum Schatten spendet, obwohl genug Bäume herumstehen. Sie weigern sich, Schatten zu werfen. Es sind eigensinnige Bäume. Wir spenden nicht, sagen sie. Im Sommer ist der Boden von der Glut der Sonne so trocken und rissig, als laufe man in Kuba über ausgerupfte Tabakblätter.

Am Zedernweg, wo sich Feldwege und Pferdewiesen kreuzen, ließen wir uns im Gras nieder. Wir streckten uns lang aus, die Ohren nah am Bachlauf, am eben noch blassen Frühlingstag. So mächtig kam der Klang des kleinen Wasserlaufs, so unmittelbar, als senkten sich gewaltige Tonarme in die Rille einer Geräuscheplatte. Es flogen Wassertropfen durch die Luft, wie von Ping Pong-Schlägern geschmettert pfiffen und giggelten sie uns um die Ohren, wir beobachteten Finger, die von Norden kommend durch geweihtes Wasser schlenderten. Geweihte Finger. Aprilrote Hände.

Doch kaum nahmen wir die Ohren vom Bachlauf und legten uns ins hohe Gras, machte sich Ruhe breit. Ein blauer Nachmittag nahm seinen Anfang. Wenn die Lichtgeschwindigkeit eine Milliarde Stundenkilometer schnell ist, beträgt die LSD-Innengeschwindigkeit genau Null, aber man bleibt nicht stehen. Man wandert einfach weiter, in die Geborgenheit hinein.

*

Höhepunkt: Wie Pepe und ich Schulter an Schulter auf der Wiese stehen und zur Sonne aufblicken. Wir schoben den blassen Bombenkopf am Himmel entlang, platzierten ihn neu am Firmament, fixierten ihn, ließen ihn kopfüber abtropfen, liessen ihn purzeln, tanzen, glühen – mit der bloßen Kraft des Hinguckens. Egal, was der eine auch vor hatte, der andere folgte und machte es nach. Wir spielten großes Sonneverschieben. Blickte Pepe nach links, rückte die Sonne nach links, blickte ich nach rechts, rutschte der gesamte Himmel nach rechts. Ein Wimpernschlag reichte..

“.. und meine Sonne schlägt Rad”, rief ich.

“Kuselkopp”, schäumte Pepe. “Meine macht Kuselkopp.”

Mit einer Genickstarre wie im Kino, erste Reihe, Hauptfilm, schlenderten wir weiter; die Eidechsen am Strassenrand, in tiefer Aufmerksamkeit,

grüßend.

Gezwitscher ging auf uns nieder, wie Landregen. “Vögel sind freundliche Menschen”, sagte jemand. Wir beobachteten Eichhörnchen, die sich von Baum zu Baum jagten und die überhängenden Zweige als Zubringer nutzten, da war ein Rascheln im Wald, das Gehuste einer alten Hexe. Der Trip dauerte bis in den frühen Abend. Nur allmählich leierte das chemisches Band aus und wir erreichten die Hofschaft Theegarten, wo Sonnenblumen ihre Köpfchen ausstreckten wie Richtmikrofone, die alles aufzeichneten für die Ewigkeit.

(Kann gar nicht sein, sagte einer.)

*

Spätere Trips, mit Speed gepanscht, gingen hauptsächlich in die Beine, stifteten Unruhe. Einmal steppten wir zu fünft die Wupperstrasse hoch, den schläfrigen Basslauf von “Clever Trever” von Ian Dury in den Oberschenkeln, eine Prozession dynamisch-bekloppter Beine. Nicht übel, aber flüchtig. Speedig. Kein Vergleich mit der inspirierten Ruhe einer Yellow Sunshine.

*

Zuletzt bröselte Pepe einige Cracker, die er in der Hosentasche hatte, in den Bach, und wir schauten versonnen den Krümeln hinterher, ihrem Verschwinden.

*

Ostern 1978. Die große Patti Smith gastierte in Düsseldorf. Sie war so populär geworden, dass wir die Karten im Vorverkauf besorgen mussten. Zwar war das neue Album Easter nicht so gut wie Horses und Radio Ethopia, aber es enthielt Because the Night, ihren ersten echten Single-Hit.

Horses, das Debüt, war eins meiner absoluten Lieblingsalben. Das Stück Birdland, eine sechsminütige Landschaft aus Baum und Bass, sowie ihre rauh und sexy hingerotzte Einleitung zu Gloria, “Jesus died for somebody’s sins but not mine”, hatte ich so oft gespielt, dass die LP an diesen Stellen wie ein Scheiterhaufen knisterte. Eine verdammte Jesusverbrennung. Patti Smith war meine erklärte Heldin, ich war angesteckt von ihrer fiebrigen weissen Energie. Sie war eine Druidin, und ihr Zaubertrank wurde auf Vinyl ausgeschenkt. (Dummerweise ist ihr Name für mich bis heute mit meinem grössten Desaster verbunden.) (Auch wenn ich andererseits vermute, dass ich schon mit einem Nervenscharren zur Welt kam.)

Einen Tag vorm Konzert rief Pepe an und meinte, er könne für Patti Smith etwas Acid klar machen.

“Ein Konzert auf Linse..?! Bist du übergeschnappt?”

“Keine normale Linse”, meinte Pepe fröhlich, “eine Yellow Sunshine..”

Das war was anderes, auch wenn man sich nie sicher sein konnte, was man da schluckte. Weil der Markt illegal war, konnte jeder alles zusammenpanschen und unter Phantasienamen verkaufen. Niemand garantierte einem, dass in einer Yellow Sunshine das drin war, was man von einer früheren Yellow Sunshine kannte und erwartete.

Ich hatte kein gutes Gefühl, von Anfang nicht. Zumal eine Linse definitiv nicht in die Konzerthalle gehört, sie gehört in die Natur, nach Faustregel Nummer 1: Keine Wände! Nichts, was dich irgendwie einkesseln und beschränken könnte! Ich beging einen Riesenfehler damals: Ich hatte eine Befürchtung, und ich ignorierte sie.

Eine fatale Entscheidung.

*

Wir waren vorm Mumms verabredet an diesem Samstag, Pepe und ich sowie drei oder vier andere Leute, die ihre Karte für Patti Smith schon in der Tasche hatten. Pepe nahm mich beiseite.

“DieYellow Sunshine hat sich erledigt”, sagte er, und ich war schon fast erleichtert, “aber mein Bruder hat eine Red Star abgedrückt.”

Am liebsten hätte ich die Sache auf der Stelle abgeblasen, doch Pepe wollte das Konzert unbedingt auf Linse erleben, das brachte mich in einen Konflikt. Es war nicht nur ungeschriebenes Gesetz, einen Trip in der Natur zu schmeissen, man liess auch einen Freund nicht allein auf Linse. Soweit nachvollziehbar. Warum wir den Red Star aber, einen gezackten roten Stern, der wie ein mit Zuckerglasur überzogener winziger Kirmesapfel funkelte, in zwei Hälften aufteilten und einwarfen, anstatt ihn erst mal zu vierteln und eine halbe Stunde abzuwarten, dafür gibt es im Nachhinein nur eine einzige Erklärung: Wir waren 17.

Ich seh uns noch vorm Mumms stehen, an den Parkscheinautomaten gelehnt. Wie Pepe den Stern in der hohlen Hand entzweibricht und jeder seine Hälfte schluckt, Schluck Bier hinterher, und wie der dicke Hansen Wind von der Sache kriegt und neugierig angeschlichen kommt, von hinten.

“He! Was pfeift ihr beide euch denn ein? Ne Linse?”

“Was? Nee”, sagte Pepe.

Auch ich schüttelte nur den Kopf. Der dicke Hansen auf Drogen, das bedeutete bloß  Scherereien. Und was kann man auf Acid partout nicht gebrauchen? Scherereien. Dafür ist LSD nicht gebaut.

Wir fuhren mit zwei Wagen nach Düsseldorf.

Ich stieg beim Schuh ein, im roten Kasten-R4, Pepe im Wagen dahinter. Schuh, ein charmanter langer Schlaks, der stets skeptisch in die Welt guckte und mich mit “He, du Spezialist” zu grüßen pflegte. Schuh war nicht nur ein paar Jahre älter, er fiel schon von der ganzen Ausstrahlung in die Kategorie Großer Bruder, auch wenn er Einzelkind war.

Nach nicht mal einer halben Stunde setzte die Wirkung ein – mitten auf der Autobahn Richtung Oberbilk. So rasch hatte es mich noch nie erwischt. Ich konnte kaum stillhalten, die Füße drängelten unterm Sitz hervor wie Flöze. Ich war heilfroh, als wir endlich in den Parkplatz vor der Philipshalle einbogen.

Kaum war ich aus dem Wagen gestiegen, stürzte Pepe auf mich zu.

“Alter, was.. ist das denn..?!” zischte er, unterfüttert von einem in die Breite blubbernden Grienen, das ich so noch nie gesehen hatte, weder bei Pepe noch bei irgendwem sonst, doch ich konnte nichts erwidern. In meiner an Strommomenten nicht gerade armen Drogenkarriere steckte ich im funkelndsten aller Strommomente fest – und hatte keine Worte dafür.

(Zumal LSD keine Droge ist. Es ist eine Form von Wahrheit.)

Im gleißenden Flutlicht der Laternenmasten marschierten Pepe und ich Seite an Seite über den Parkplatz der Philipshalle, Stars auf schwarz geteerten glänzenden Bühnenbrettern. Ein rot glitzernder Aufgalopp.

Als in meiner Nähe jemand versehentlich den Schlüsselbund fallen ließ, schepperte es in meinen Ohren, als stürzten riesige Stahlträger in einer leeren Fabrikhalle zu Boden. Ich duckte mich erschrocken, während Pepe lässig weiter stolzierte, hin zum Gemurmel der Halle, zum Gelächter der In-Crowd, die, zurecht gemacht fürs Konzert, den Kassenbereich ansteuerte.

“Guck dir all die Gockel an”, hörte ich jemand kichern.

Umtost vom Hupen ankommender Autos und dem Club-Sound schwerer Motorräder verschmolz alles zu einem einzigen großen pulsierenden Super-Ereignis. Willkommen auf dem Acid-Trip, machs gut, Kamerad, verlier mich nicht.

Das Universum erklärt sich immer dort, wo man sich gerade aufhältst. Nur dort entfaltet es sämtlichen Glitzer.

Ich holte Pepe ein. Wir blickten uns an, halb irre schon (Innerlich noch am wegducken, ich.)

“Shit, ist das hell hier”, hörte ich Pepe, während ich mich schon sorgte, was denn erst drinnen werden sollte, in der Philipshalle. Zusammengepfercht, unter Tausenden Leuten. Und richtig mulmig wurde mir, nachdem ein Ordner unsere Eintrittskarten abgerissen hatte und wir die Vorhalle betraten, das Reich der Bierstände, der T-Shirt-Verkäufer, und wo mir schlagartig bewusst wurde, dass ich für die nächsten Stunden hier gefangen sein würde. Dass es kein Entrinnen geben würde aus diesem flachen Betonquader.

Jeder Acidhead kannte einen Acidhead, der einen Acidhead kannte, der hängen geblieben war auf Acid, nicht mehr zurückgekehrt war, der es nicht mehr geschafft hatte.

Der in der Klapse gelandet war.

*

(Bernie Wester hatte sich im Übermut eine Handvoll Trips in den Mund werfen lassen, wie verdammte M&M’s. Einige spuckte er wieder aus, andere nicht, sie rollten in sein Hirn. Es hieß, seine Augen wären damals fast geplatzt, vor lauter Innendruck, die Ärzte hatten ihre liebe Mühe, sein Augenlicht zu retten. Er blieb zwölf Monate im Landeskrankenhaus. Der nette Bernie Wester.)

*

Bedrängt von Fans in speziell punkigen Patti Smith-Capes, die sich nach vorne kämpften, um die besten Plätze zu ergattern, schoben wir uns in den Innenraum der Philipshalle. Aus Bühnen-Boxen, zu Türmen übereinandergestapelt, dröhnte Miss you von den Stones. Miss you mit dem rollenden Disco-Basslauf und der fröhlichen Mundharmonika, Miss you, gerade überall Nummer 1 – und dieses eine Mal noch grinsten wir uns verschwörerisch an, Pepe und ich, ein letztes Mal, bevor wir uns für den Rest des Abends aus den Augen verlieren sollten.

Unterhalb der Tribüne bildete sich eine Gasse, in der das Publikum hin und her strömte, hin zu den Bierständen, zurück zu den teuer erkauften Plätzen. In diesen Gesichtern begann der Horror. Fratzen, breit wie Brotkästen, das Maul eingekleistert, bebuttert, mit blutig geratschten Augen. Ich blickte in Schlachthof-Visagen, teigige Fleischwunden. Als mampften alle aufgeweichtes Krepp.

Ich hatte auf Acid Hallzuninationen gehabt, doch dieses Fratzenhafte, Zerstörte sprengte alles bislang Gesehenes und war eine Dimension näher am Irrsinn, ich bewegte mich auf Stromschnellen und das Schlimmste: ES würde anhalten, so schnell würde ES keine Erlösung geben, mein Zustand, diese LSD-Vollvergiftung, würde noch eine ganze Weile anhalten, (und niemand gab mir die Gewähr, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte): Das Weiterschwappen der Acidsäure durch alle Schichten war längst durchprogrammiert, da kam ich nicht mehr heraus – es WAR ZU SPÄT ZUM RÜCKKEHREN.

Eine Angst, wie ich noch nie Angst verspürt hatte, umfing mich. Ich suchte Pepe, fand ihn nicht. Ich fand niemand von meinen Leuten.

Ich schloss die Augen, versuchte mich dem Schwarz anzufreunden, doch da war ja noch das Speed in den Beinen, das mir keine Ruhe liess. Säure schoss die Beine hoch, ich lief wie auf aussuppenden Batterien umher, mit Augen, die sich nicht trauten, in entgegenkommende Gesichter zu blicken, weil dort Fratzen warteten. Unmöglich, irgendwo anzuhalten. Luft zu holen. Zu überlegen.

Ich

fand niemanden von meinen Leuten; ich mied Gesichter – inmitten siebentausend Gesichtern.

*

Einmal stand der dicke Hansen neben mir und brüllte etwas in mein Ohr, ich verstand ihn nicht, ich starrte nur zu Boden, um seiner Fratze zu entgehen.

“Keine Vorgruppe..”, wiederholte Hansen, und ich floh aus dem Innenraum.

Als ich die Gasse unterhalb der Tribüne erreichte, wo man etwas Platz hatte, blickte ich hinauf zu den Rängen, und jetzt geriet meine Wahrnehmung komplett durcheinander. Die Bewegungen der Menschen, die auf der Tribüne ihre Plätze einnahmen, deutete ich falsch. Ich glaubte, das Publikum sei in Panik. Ich sah Menschen fliehen, über die Sitze stolpern, ein einziges großes Gewimmel war es, was sich dort oben abspielte. Und das schlimmste – es interessierte niemanden. Um mich herum war alles wie zuvor. Leute kamen mit Bier, Leute gingen neues Bier holen.

Vielleicht war auf den Tribünen ein Feuer ausgebrochen und jetzt kletterte alles wild durcheinander und stürzte Richtung Notausgang, dachte ich. Nur merkwürdig. Nirgends war ein Schrei zu hören, keine Hilfe-Rufe, es war eine lautlose Panik, die die Halle ergriffen hatte..  was zum Teufel war mit den Leuten um mich herum los, wieso gaben sich alle so unberührt? Sah denn wirklich niemand außer mir, was dort oben vor sich ging!?

JA, MERKT DAS DENN NIEMAND?

Erst als das Hallenlicht unter Gejohle erlosch und schrille Pfiffe den Beginn des Konzerts forderten, verschwand das Gespenst einer Massenpanik. Ich versuchte mir irgendwie klarzumachen, dass es Halluzinationen gewesen sein mussten, nur Hallus.

Dumm nur, dass auf LSD definitiv kein nur existiert. Alles ist gleichsam wichtig, man bewegt sich wie in tausendfacher Vergrößerung unterm Elektronenmikroskop, schwimmt auf der Pipette. Das Selbst ist gleichsam monströs groß und winzig und enthauptet. Es gibt kein Ich mehr.

Nur noch Ichs.

Auf Resten einer entglittenen Seele, niedergedrückte Versuche, mir zu entkommen, Abgrund überall, Wege weg vom Abgrund –

hier entlang!

Ich versuchte, Vorsprung zu gewinnen, Vorsprung vor mir selbst inmitten rempelnder Körper, einem brutalen MILLIARDENGEMURMEL, o Herr – hätte ich es doch nur ungeschehen machen können. Ich blieb wie zugeschnürt, randvoll pulsierend.

*

Auf der Bühne erschien Patti Smith, die sich feiern ließ für ein erbärmliches Gitarren-Solo. Eine Leinwand wurde runtergefahren, ein schwarz-weißer Undergroundfilm voller Ratten in New York und monotonen Maschinengewittern gab mir den Rest. Ich tigerte durch die Vorhalle, vorbei an den Ständen und Freßbuden, versuchte zu entkommen, den Fratzen, lief hin und her, ohne ruhige Sekunde, ohne sitzen bleiben zu können, versuchte es mit einem Bier, das ich irgendwie bestellt bekam am Bierstand, doch was den Lippen entgegenschwappte war nicht fluid, es waren Stoffbahnen. Ich trank an gegen Mäntel, nahm einen Schluck gegen Innenfutter. Ließ es sein. Den Becher stehen. Weiter. Wohin?

Einfach verschwinden, in die S-Bahn setzen, nach Hause fahren, alles, was im cleanen Kopf ein Kinderspiel gewesen wäre, schien unmöglich, ich würde es nicht packen. In meinem Körper riefen sie nach Selbstmord, nach Schluß damit, komm, spring.
SPRING!

Müder Beifall.

Der Vor-Film war zu Ende. Leinwand hochgezogen, die Patti Smith Group enterte die Bühne. Ich verzog mich hinters Mischpult, wo genug Platz war. Patti Smith spielte Ask the angels, ich versuchte zu tanzen, mich in die Musik einzugraben, einen Schutzmantel aus Noten um mich herum zu ziehen, doch ich fand mich nicht ein, konnte die Musik nicht spüren, es blieb ein fernes Hampeln, ich blieb auf der Pipette. Schief, verdreht, verwickelt. Gebet;

Herr!

Runterstürzen, irgendwo: Doch die Philipshalle, ein Flachbau ohne Treppengänge, ohne jedes Oben und Unten, nur flaches Geschoß, das keinen Sprung zulässt. Hängengeblieben, wickelte sich eine Schleife durch meinen Kopf, Hängengeblieben Hängengeblieben, HÄN-GEN-GE-BLIE-BEN.

 

Beifall brandete auf. Ich spürte die Musik nicht. Ich spürte mich nicht. Ich lief hin und her und wusste nicht weiter. Ich wusste nur eins: so schnell würde sich dieser Zustand nicht ändern.

Schuh begegnete mir an der Garderobe. Wir waren nicht gerade das, was man Freunde nannte. Was sagt man einem Bekannten, wenn einem die Seele gerade von zu starkem LSD zerschossen wird?

“Schuh.. ich bin auf Trip.. ich pack das nicht mehr..”, mehr brachte ich nicht heraus. Die Worte eines Hängenbleibenden. Nüchternes Zeugs. Doch Schuh zögerte keinen Moment.

“Lass uns hier verschwinden. Mir gefällt das Konzert eh nicht. Und ich hab einen dicken Brösel im Wagen.”

“Nein. Nicht kiffen”, sagte ich, “bloß nicht!”

Ich hatte Angst, dass mit Haschisch alles nur noch schlimmer werden würde, doch Schuh ließ sich nicht beirren.

“Auf Horror hilft nur viel kiffen, so viel wie möglich.”

In seinem R4 holte er ein Piece aus dem Handschuhfach, groß wie ein Hühnerei. Wir rauchten fünf oder sechs Joints, bis Schuh nicht mehr konnte und nur noch für mich drehte. Es war, als drückte das THC allmählich die Säure aus meinen Beinen, als würde sich mit jedem Zug aus der Haschischzigarette eine weitere leichte Decke über meine rohen Sinne legen, in der kühlen Stille des Renault. Wir sprachen kein Wort. Ich hatte keins, Schuh wollte nicht. Als der Brösel fast ganz aufgeraucht war, gaben die Dämonen allmählich Ruhe.

Schuh gähnte ausgiebig.

“Du Spezialist.”

ENTSAGUNG. ENTSAGUNG. ENTSAGUNG („Ich will mich im Eis ertappen.“)

20. Folge von „Ich küsse mein Leben in dich. Die Marten-Ehen“



 
„Dem Nordmeer entgegen“, so hatte sie geschrieben, die Schwesterliche. Das Fischweib in seine Kälte entlassend, schwimmend. Kein Ufer nirgends. Heilmann derweil, sich übergebend, am Boden, vernichtet, nach jener Nacht in der Fabrik der Engel, als er den sterblichen Sohn zu retten versuchte, durch das Opfer der Mutter. (Doch: War nicht längst geschrieben worden, anderswo: „Das Mutterhaus steht leer. Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band.“ Eine aber schrie, immer weiter, wieder: „Nein!„)  
 
Schließlich allerdings wäre auch diesmal beinahe alles wie immer gewesen, nur weniger tragisch, mehr Soap Opera. Er hätte, zweifellos, sich berappeln können, ein weiteres Mal, den hellen Anzug aus dem Schrank nehmen, die Brille zurechtrücken, das Strohhütchen auf den Kopf drücken und an Bord eines weiteren Schiffes gehen als Lebemann (wie einer ihn missbilligend einmal nannte) oder auch, nicht ohne Ironie, als das ewige Seufzen der gepeinigten Kreatur (?), die sich nicht erlösen kann. Und weiter im Text…Warum nicht? Es rumpelte alles dahin. 
 
Doch dann kamen die Briefe. Diese Drohungen, die du der Schreibenden sandtest, als sei sie nicht Melusine, Drachenweib, fischig, sondern eine säugetierische Mutter, beheimatet in jener wirklichen Wirklichkeit, an die wir mit Gründen nicht glauben. WIR. Sie und Du, Heilmann, zu dem sie dich gemacht hatte: Heiler. Seher. Wissender. Doch machtest du dich klein mit deinen Worten, den ach so poetischen. Begannst die Geschichte in Geschichten zu zerlegen, wolltest ein Mann sein und HERR zugleich, als sei das möglich, ohne aus der Geschichte zu fallen. Wolltest lieben, Heilmann, du, und eine nur, eine nur, eine nur, als seist du nicht der Zampano, dem sie, nur sie, nur sie das Leben einhauchte, damit du es weiter küsst und küsst und küsst, der Nächsten und Nächsten und Nächsten ein und wiederum…:
 

 

„Ja, soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen

 

Die Sonne, die Sterne gehören doch auch allen.“

 

 
Wir waren nicht gemacht, Heilmann, für diese Story, die du dir erfandest, den Schmachtfetzen, die Geigen im Hintergrund, klagend:
 
Entsagung, Entsagung, Entsagung…
 
Ach hätten wir es vermocht, zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch vom Künftigen zu sprechen, sondern uns nur im Gegenwärtigen zu begegnen. Alles wäre noch einmal gut gegangen. Das war der Pakt, den wir brachen. 
 
Und dann deine Wut. Die Hiebe, die blutende Faust. (Meine Gewaltphantasien. Ich gebe das zu.) Keinen könnte ich lieben, dem ich nicht etwas Dunkles andichtete. (Dark Knight Darcy.) So viele Klischees haben wir aufgerufen, bevor du dir im Ernst und wirklicher Wirklichkeit die Pulsadern schlitztest. Oder zumindest damit drohtest. (Denn in der wirklichen Wirklichkeit, Heilmann, bist du ein Feigling. Wie ich.) Das Geschäft der Nixen hättest du auch mir überlassen können. Ich hätte dich tot gekitzelt. Denn ich war immer schon mehr für Komödie als für Tragödie als du. 
 
Warum konntest du nicht verstehen, was das Opfer ist? Eine Fiktion, die wir nicht übersetzen sollen in unsere Körper, sondern auf dem Papier stehen lassen. Weil wir niemanden mehr zerstören müssen. Weil wir ertragen und weiter tragen, dass wir nur Projektionen sind. So, nur so, konnten wir einem jedem und einer jeden eröffnen, was sie zu erfahren wünschten und zu ertragen vermochten. Warum hast du das vergessen?
 
Wenn du doch einmal schweigen könntest, Heilmann, statt jedes Gefühl zum Anlass zu nehmen. Du bist, warst immer, – die Melusine wollte sich nur drüber täuschen – , ein bloßer Fetischist, Heilmann: Das Wort betest du an und alles, alles wird dir nur wahr, wenn du es aussprichst. Wie sehr wünschte sie sich, dass du einmal für dich behieltest, wie innig du begehrst, wie tief du gefallen bist. Wenn du einmal, einmal nur wärest, statt dich entwürfest. 
 
Könnten wir dann zusammen zurück an den uferlosen See? In die Tiefen der Erscheinung, blaugrün, wie die Tür, durch die du sie führtest vor Jahren? 
 
Es zieht uns immer an Meer, beide. Doch wir verfehlen uns. Du suchst die Sonne, deren Schein die Oberfläche des Wassers erwärmt. Den schwitzigen Leib ins kühlende Nass stürzen von einem südlichen Strand willst du. Mich zieht es nach Norden. In die Fjorde. Durch meine Adern fließt ein anderer Saft. In der Sonne staut er, verdickt. Ich will mich im Eis ertappen. 
 
Es ist alles vergebens, vergeben. Es bleibt uns bloß noch, uns selbst zu zitieren:
 
Ich küsse mein Leben in dich. Marter-Mann.

Farah Days Tagebuch

Samstag, 2. April 2016

Band, Lind, Tatzel:

Die Wahl der Würmer.
(Wie viele Unterarten es wohl gibt? Keine Ahnung. Alles, was allzu leicht gegoogelt werden kann, langweilt mich.)
Ich mag Würmer, auch glitschige. Mäandernde sowieso.
Menschen, die sich (aus welchen Gründen auch immer) in welche transformen, widern mich allerdings an. Bin gliedmaßenfixiert, schon immer. Mit Betonung auf dem Plural; am Rumpf muss einfach was schlenkern. Zupacken. Sich aufrichten.
Einem Wurm zu sagen er sei einer, da fühlt der sich nicht beleidigt.
So what?!? wird er nur fragen. Mit so einer fieseligen Stimme.
(Wollte das nur mal kurz loswerden.)

Eigentlich will ich übers Vermissen schreiben. Jemand muss eh anfangen, also kann ich’s auch gleich selbst tun. Im Anfangen bin ich gut, Kontinuität ist nicht so meine Stärke.
Grundsätzlich hab’ ich derzeit vergessen, was meine Stärken sind, nur diese eine ist mir noch bewusst, ich kann aus dem Stand loslegen. Brauch’ dazu auch keinen Pfeil. Keine Markierung. Ich fang’ einfach irgendwo an.
Auch beim Schreiben. Ich meine, ein Gedanke oder ein Satz beginnt ja auch willkürlich da oben: Niemand im Gehirn sagt ihm, wo dafür der richtige Platz ist.

Meins wurde kürzlich gescannt. Mein Gehirn, ich hab’ jetzt Aufnahmen davon. Scheint alles in Ordnung zu sein.
Also hat dieses andauernde Brummen in meinem Kopf keine körperliche Ursache, sagte ich zur Ärztin.
Die zog die rechte Braue hoch. Wer soll’s denn sonst machen, wenn nicht Ihr Körper?!
Oh, sagte ich. Natürlich, wie dumm von mir.
(Man muss dazusagen, die Ärztin ist alte Schule und fackelt nicht rum. Seitdem sie weiß, dass ich Künstlerin bin, lässt sie sich freien Lauf.)

Eben ist die Kogge gelandet. So hat LeBlanc ihn getauft. Meinen Tauberich. Weil er so schwer ist.
Die Kogge ist ein prächtiger Vogel und kein bisschen fett.
LeBlanc sieht das anders.
Er denkt, er sei eine Meise, spottet er.
Wie kommst du denn darauf?
Na, weil er sich immer auf die dünnsten Ästchen deiner Birke niederlassen will, die, auf denen die Meisen sitzen. Natürlich halten die Ästchen sein Gewicht nicht aus, aber er versucht es immer wieder.
Er glaubt, er sei schlank und grazil, sage ich, ein hübsches Ding, das überall landen kann. Er versucht es immer wieder, weil er gar nicht weiß, dass es ein Versuch ist! Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit.
Tja, sagt LeBlanc.

Ich frage mich, womit man die bessere Landung erzielt: mit dem Bewusstsein, dass man etwas riskiert, oder mit dem, dass eh klar ist, dass man gut landen wird.

(Vertrauen.
Ich vermisse Vertrauen.
In mich.
Anderen vertraue ich grundsätzlich und lande prima damit.)

Gestern, zum ersten Mal seit Monaten, lief ich wieder durch meinen Park, mehr oder weniger mühelos. Erstaunlich leichtfüßige acht Kilometer, eigentlich, in Anbetracht dessen, was ich vermisse. Morgen werden es schon wieder zehn sein.
Kraft ist reichlich vorhanden. Dreimal in der Woche stemme ich mich gegen die Eisen, mein genialer Coach bellt mich zu Höchstleistungen.
Für die dünnen Ästchen bin ich dennoch zu schwer.
Ich bin so verdammt hungrig.
Wenn der edle Lebenshunger nicht gestillt werden kann, schalten die Synapsen bei mir auf primitiv: Essen hilft, viel essen hilft mehr.
(Komisch, dass man Bissen wiederholen muss, ist doch immer der gleiche Geschmack(?!) Wie oft muss dieses Aha-Signal im Hirn ankommen, bis etwas sagt, man könne jetzt aufhören zu essen? Bei mir passiert erst einmal gar nichts, nachdem ich das Gericht erkannt und gewürdigt habe,
dafür brauch’ ich eh nur einen Bissen.
Esse dann weiter, bis ich satt bin. Immer noch kein Signal. Also weiter, bis nichts mehr auf dem Teller ist. Signal manchmal immer noch keines, also neuer Teller. Erst, wenn etwas einsetzt, das ich Betäubung nennen würde, leg’ ich die Gabel weg.
Ich sag‘ ja – Einfachmodus.
Muss wieder aufhören mit dem Taubessen. Zu psycho. Nur richtige Tauben kommen damit zurecht.)

Also, mein Gehirn ist in Ordnung, ich hab’s offiziell auf CD.
Kostenfreies Patienten-Exemplar, für Kopien wird eine Gebühr erhoben.
Steht drauf.
Kein Leck, kein Tumor, kein gar nichts. Ein prima Gehirn. Kann sein, es braucht einfach ein paar Tropfen imaginäres Öl, damit das Brummen aufhört.
Vielleicht aber auch etwas ganz anderes.

19/16-Soleur//Materialien


Ein Arbeitsheft: 27.2.16, Nachtrag vom 7. 1. 2016 // Protokoll // Gefäss, Raum, Ausdehnung, Geschehnis, Geheimnis, Prozess, Entschlüsselung; Koordinaten, Rhythmus, Bedingtheit; materielle Strukturen, Ordnungen, Wiederholung und Variationen. Paläste und Gärten // Fortsetzung und steter Anfang: Regen fiel. Mit dem Schnee webte er einen feinen Eisschneeschleier über die Landschaft. Die Hügel blieben fern. Die Stimmen. Die Möwen. Die Luft vibrierte. Zwischen hohen Gräsern glitt der Tag mit den Schwänen in die Dämmerung. Die Lichter leuchteten. Die Sprache, zögerlich, besorgt um jedes Wort, das nicht in das Stückwerk der Stunden passte. Die Gedanken trieben auseinander. Eine Ahnungen von Frühling. Das Notieren im Gehen war in dieser Kälte nicht möglich. Kleine Splitter nieselten über die Hände und Wangen. Niemand spazierte dem Ufer entlang. Die Möwen riefen. Die Stille schwieg. Die Gedanken verfielen. Im Zustand des Träumens zog ich mit den Schwänen zum andren Ufer. Das Bild sollte zeitlos bleiben. Das Wort. Im Augenblick des Zusammentreffens und Überschneidens beider, geschahen die Geheimnisse.

portato via …

portato via
dal pozzo davanti
alla porta
(vom brunnen vor
dem tor)
grosso come cor
fattosi pietra
– all’ombra del tiglio –
a srotolare
ciottolino ciottolone
“kümmerli- kümmerliweis”
miser in fondo al
miser tu dici ruscell’

mondo foresto : entrasti
mondo foresto : non n’uscisti
(kein schöner land …)

Emmerich (2)

emmerich_eimerich
Emmerichs Name soll auf eine Villa Embrici zurückgehen. Das Stadtwappen ziert ein Eimer. Emmerichs Historiker rätseln bis heute über seine Bedeutung. Fünf Erklärungsansätze gebe es, hörten wir, doch keiner davon sei wissenschaftlich haltbar. Am ehesten wahrscheinlich sei die Erklärung, daß der Eimer es als Hochwasser-Schöpfgerät ins Stadtwappen gebracht habe, im Grunde liege die Verbindung zwischen Eimer und Stadt jedoch im Unklaren. Auf die Frage, wie die lokale Aussprache für Eimer laute, bekamen wir zur Antwort: “Emmer”.

emmerich_schlemmerich
Dementsprechend, lautet unser gänzlich unwissenschaftlicher Blitzgedanke, könnte Emmerich von Eimer abgeleitet sein, mithin eigentlich Eimerich bedeuten, das Ich und den Eimer als Wortbestandteile verknüpfend, die den existentiellen Kampf des Individuums mit seinem wasserfassenden Werkzeug gegen den übermächtigen Gottvater Rhein repräsentieren oder die Selbsterkenntnis, die auf dem Grund eines mit Wasser gefüllten Eimers liegen mag, der die weiten niederrheinischen Himmel und darin das Gesicht des Betrachters spiegelt. Solche Gedanken werden in Emmerich jedoch nicht gepflegt – vielleicht nicht zuletzt, weil gängige Claims der vom Tourismus profitierenden Branchen bei stärkerer Eimergewichtung in unerwünschte Richtungen kippen könnten.

emmerich_glück_hüsch
Mit dem Wesen des Niederrheiners (“weiß nix, kann aber alles erklären”) hat sich wie kaum ein anderer der im Jahre 2005 verstorbene Kabarettist Hanns Dieter Hüsch befaßt. In Emmerich klebt sein Foto in mehreren Schaufenstern. Falls wir die Bildmotive richtig interpretieren, dürften sie bedeuten: “Hier kaufte Hüsch etwas ein” oder “Hier hat Hüsch sich die Auslage angeschaut”. Hüschs Gedicht “Glück ist ein Geschenk”, in dem Gottes Feriendomizil in der Gegend erwähnt wird, ist hingegen unmißverständlich in die Uferpromenade eingelassen.