Archiv der Kategorie: Ausgabe 02/2015

Einige Worte über den Regen

Es ist noch weit
und der Himmel reißt,
dieses Tuch mit gemalter
Sonne, Wolken, Sternen.

Wie wäre es,
durch die Luft zu fliegen,
nicht mit jedem Schritt
Staub aufzuwirbeln –

wer bin ich denn noch,
wenn hinter dem Horizont
nur ein weiterer wartet?

Aber der Regen kommt,
ich öffne den Mund,
lasse die Wörter trinken,
so dass sie zueinander finden,
Sätze bilden, von mir erzählen.

Jetzt tanzt er auf meinem Scheitel,
tropft in meine Gedanken;
mein Kopf läuft voll – ein Ozean,
in dem sich die Knoten lösen,
in dem die Erzählfäden frei schweben.

Seht, ich gehe mit dem Regen fort,
weit weg, an einen sicheren Ort.

(Anuradhapura, Januar 2015)

Der Merkel-Putin-Pakt, Mircea Cărtărescu und tausende von anspruchsvollen Lesern

Soeben bekam ich einen sonderbaren Anruf. Ich vernahm eine von einem technischen Fiepen untermalte, ja fast schon durch eben dieses Fiepen übertönte weibliche Stimme. Der Merkel-Putin-Pakt, hörte ich, sei nun abschließend erfolgreich verhandelt, die letzten strittigen Punkte also geklärt. Die Frage wäre nur, ob diese Vereinbarung zum jetzigen oder erst zu einem späteren Zeitpunkt an die Öffentlichkeit gelangen solle, wenn denn überhaupt. Wenn man so wolle, sei allein dies noch in der Schwebe. Ich müsse das aber so oder so schnellstmöglich recherchieren und für den Fall der Fälle den Vorentwurf eines Artikels schreiben. Da ich schwieg und auch die Anruferin nichts mehr sagte, lag sekundenlang nur dieses Fiepen in der Luft, dann hörte ich vom anderen Ende der Leitung ein „Kahlmeier (oder Kallmeier?), hören Sie mich?“, dann wieder dieses Fiepen, dann war die Leitung tot. Verwählt offensichtlich. Egal. Ich glitt zurück auf meinen Barhocker, auf dem hockend ich gemeinhin zu lesen pflege, und widmete mich meiner Lektüre, dem ersten Band der „Orbitor“-Trilogie von Mircea Cărtărescu, Die Wissenden (so der eher unpassende deutsche Titel), ein Werk voller Phantastik und Sprachmagie – keine normierte, einem Schreibstudium entsprungene, quasi enthoppelte Literatur, sondern wahrhaft große Kunst. Mircea Cărtărescu, das fällt mir grad ein, sagte in einem Interview, in seinem Heimatland Rumänien gäbe es einen harten Kern von 50.000 Lesern und Leserinnen anspruchsvoller Literatur – ha, so dachte ich bei Entgegennahme dieser Information, ha!, das wären ja auf Deutschland hochgerechnet etwa 200.000 solcherart Leser! Niemals!, entfuhr es mir, ja eine Zahl von 20.000 wäre wohl schon zu optimistisch veranschlagt. Nun ja, gleichviel. Ich lese also weiter, Mircea, quasi der jugendliche Ich-Erzähler des ersten Bandes, ist wegen einer halbseitigen Gesichtslähmung im Krankenhaus und träumt nächtens heiße Träume von Krankenschwestern, während er tagsüber mit den anderen dort sogenannten „Kindern“ Karten spielt, nämlich 20-und-1, da geht wieder das Telefon. Ich melde mich, „Hallo!“, sage ich, wieder dieses Fiepen, die selbe weibliche Stimme, ich solle, das sei sehr wichtig, beginnt sie unvermittelt, den Anruf von eben und vor allem dessen Inhalt komplett vergessen und einfach weiter über Mircea Cărtărescu und anspruchsvolle Leser schreiben, ganz gleich, wie hoch deren Zahl wirklich zu veranschlagen sei. Sie selbst würde übrigens für den gesamten deutschsprachigen Raum eher von etwa 10.000 Personen ausgehen. Ich schwieg, während das Fiepen, ohne dass ich es hindern konnte, nun plötzlich unversehens an meinem Ohr vorbeischlüpfte und in mein Zimmer eindrang, in Blitzesschnelle jede Ecke und jeden Winkel erkundete und sich schließlich unter der Deckenlampe als Kreisel in den Raum setzte, kaum erkennbar, bis endlich die Stimme sich wieder zu Wort meldete. „Ich habe“, sagte sie, „übrigens bei Mircea Cărtărescu in Bukarest studiert und schreibe nun selbst Romane … Sie sollten dem Kerl nicht ein Wort glauben, vor allem nicht, wenn er …“ Dieses Mal bin ich es, der auflegt, ich lass‘ mir doch nicht in meine Lektüre hineinquatschen, denke ich, gleite wieder auf mein Sitzgerät und lese ruhig weiter bis zum Ende des Kapitels, wo es heißt: „… die Zeit reproduzierte sich selbst mit der Sanftmut eines niedrigen Wirbellosen, der zu drei Vierteln mit Eiern gefüllt ist …“ Ich atme auf. Dann wieder das Telefon. Ich lasse es läuten, derweil das Fiepen eine bläuliche Färbung annimmt und weiterhin wie ein kleiner, ruhigestellter Tornado gegen den Uhrzeigersinn unter meiner Deckenlampe kreiselt, die übrigens dem Mond zum Verwechseln ähnlich sieht, falls das jemanden interessieren sollte. Und nun weiter im Text …

Unter dem Radar

Aus seiner Generation sei er im Grunde der einzig Übriggebliebene, erzählte er. Die anderen hatten sich entweder rechtzeitig in eine bürgerliche Existenz gerettet, oder hatten sich zu Tode gesoffen. Oder sich sonstwie umgebracht. Als Schriftsteller erfolgreich wurde eigentlich niemand. Jetzt sei er stets der Älteste, was vielerlei Vorteile hätte: Es gebe keinen ökonomischen Druck mehr, sagte er, es fallen die üblichen Intrigen wegen ausgespannter Sexualpartner, Posten und Stipendien aus – braucht er alles nicht mehr – und es gebe folglich keinen Neid. Höchstens Schmunzeltum.

Klapse, sagte er noch als weitere Alternative. Freitod, Alkohol, Klapse. Das wären so die Optionen.

Der Langzeitstudent ist ja auch schon lange ausgestorben.
Fackeln.
Sprachpakete, die nicht ankommen.
Die Kunst des ausgehenden 21. Jahrhunderts ist reiche Kunst von reichen Künstlern für Reiche.

Schnarchende Frauen. Halbstarke Erotik.
Leben in der Cloud. Besser wäre es tatsächlich, nackt auf einer Kugel zu sitzen. Einer Abrissbirne.

Zwei Absagen an einem Tag. Ich bin sowas von am Rand des Literaturbetriebs, ich bin eigentlich schon fast draußen. Vielleicht auch mal wieder ein Fall von Schicksal eines Handwerkersohns, eines Zugezogenen, eines Studienabbrechers. Andererseits, mit Peter Rühmkorf: „Wir sind … nur Arbeiter und können uns unsere Fabrik nicht aussuchen.“

Eine Schreibmaschine sein wie Dietmar Dath. Der Schreibmaschinist. Drei Romane pro Jahr, ein zusätzliches Buch, mindestens vierzig Artikel, wenn’s läuft, noch eine Platte, ein, zwei Theaterstücke, dazu Podien, Rockkonzerte, Interviews. Ich möchte die Sekretärinnen kennen lernen, mit denen er so schläft.

Am selben Tag, vielleicht sogar in derselben Minute, den Fahrradschlüssel verloren. Was soll mir das sagen? Keine Ahnung. Ich finde ihn nicht, ich kann mir sein Verschwinden nicht erklären. Nachts nach zwei Stunden von einem Traum aufgewacht, in dem es darum ging, mit den Freunden ein Rätsel zu lösen. Die Analytikerin zu finden, die gleichzeitig C. ist (also eben 30 Jahre jünger). Wie ist die Lösung? Ich finde sie nicht. Daraufhin vorerst nicht mehr eingeschlafen, da seltsames Geräusch im linken Ohr. Wie ein leiser Fernseher, ein Fernseher aus dem unteren Stock, aber da ist nichts zu hören. (Wenn die Geräusche zu Worten werden, bin ich dann wohl schizophren, dachte ich.)

Am nächsten Tag verwirrt. Mutter ruft an. Ich mache ein Spaziergang, stecke mir zwanzig Euro ein, die später ebenfalls verloren sind. Rätsel, rätsel.

Ihre Ehe mit dem General war in der Krise, und der General war bereits mit anderen, vornehmlich jüngeren Frauen gesehen worden. Es wurden Bilder veröffentlicht, auf denen eine ehemalige Kindergärtnerin, die durch Beziehungen schnell zu einer Leiterin wurde, leicht bekleidet an seinem nackten Zeh saugte. Poröse Gesichter, abblätternde Haut. Das Gespenst reagierte auf die aristokratische Art: nämlich vorzugsweise gar nicht. Sie dementierte nicht, sie kommentierte nicht, sie ließ sich auch nicht mit getrockneten Tränen erwischen. Sie zog sich nur zurück. Ob sie Vergeltungswünsche hegte, wusste man nicht. Aber ich war bereit, Nachforschungen anzustellen.

Monsieur Crépon erkundet das Elsaß

Mit Marcel Crépon ist es ein wenig wie mit dem Teufel an der Wand. Kaum machen wir uns Gedanken, es sei an der Zeit, einmal wieder nach Monsieur Crépons Befinden zu fragen, langt elektronische Post aus kaum betretenen, beinahe schon klandestin zu nennenden Gebieten der rheinischen Sferiferie bei uns ein. Monsieur Crépons aktueller Bericht stammt aus dem elsässisch-badischen Grenzgebiet, dessen Trennlinie der bisweilen geradezu beängstigend begradigte Oberrhein markiert. Der Bericht indessen ist so reichhaltig an tief in die Lokalhistorie vordringenden Informationen in Wort und Bild, daß wir ihn – um unsere Leserschaft zu bannen und vor dem Wundscrollen ihrer bevorzugten Finger zu bewahren – auf eine Serie verteilen, die wir in den kommenden Tagen in loser Folge präsentieren wollen. Hier nun Teil 1:

“Liebes rheinsein,

Die Frage der Welterfassung nach objektiver oder subjektiver Art hat, seit sie formuliert wurde, nichts an Aktualität eingebüßt. Ja, wir tun uns manchmal immer noch schwer, uns zurecht zu finden. Täuschen wir uns ausnahmsweise nicht selber, kümmern sich darum Geräte, die uns eigentlich Hilfe leisten sollten. Damit wurde ich bei meinem letzten Ausflug konfrontiert.

Kaum losgefahren war es unverkennbar, daß mein alter Hermes-Navigator über Wege und Umwege, verschwundene oder neugebaute Straßen kaum Bescheid wußte, sodaß er jede sich bietende Chance ergriff, mich in die Irre zu führen. Eine Beschreibung aller befolgten Windungen und erlebten Widrigkeiten erspare ich Ihnen und komme direkt auf diese Neben-Nebenstraße, auf der ich, indem ich die Orakel meines orientierungslos gewordenen Hermes zu dechiffrieren versuchte, weder hinten von vorne, geschweige denn links von rechts zu unterscheiden wußte.

Welch eine Ouvertüre, werden Sie schmunzeln. Beruhigt im Wissen, daß Sie es nicht böse meinen, sondern vielmehr nachsichtig, fahre ich fort: vor mir stand plötzlich ein Mann, den einzuschätzen ich Schwierigkeiten hatte – abgesehen von eindeutigen Merkmalen, die über Jodmangel in seiner frühen Kindheit Auskunft gaben, die aber keineswegs, einem alten Glauben zufolge, regelmäßigem Trinken von Rheinwasser zuzuschreiben waren. Der Mann war weder ländlich noch städtisch bekleidet; weder ging er einer Beschäftigung nach, noch vermittelte er den Eindruck eines einfachen Spaziergängers.

Auf meine Frage ”Frankreich?” antwortete er mit einem Kopfnicken, verstärkt durch eine Handbewegung, wobei der Zeigefinger auf den Boden wies. Die Geste machte mich stutzig, denn ich konnte mich nicht entsinnen eine Brücke überquert zu haben, welche mich von der rechten auf die linke Rheinseite gebracht hätte. Wohl wissend, daß mein Akzent scharf genug war um jeden Verständigungsversuch zu zerbröseln, wiederholte ich meine Frage und bekam unverzüglich die gleiche Antwort. Und weg war der Mann.

Que diable venais-je faire sur cette route?”, fluchte ich in Zweifelslaune, wobei ich ”étais-je venu” hätten anwenden sollen: auf dieser Straße war ich schon seit einer Weile angekommen. Nun, was helfen grammatische Feinheiten, wenn rechts und links nichts als Felder zu sehen sind, die entweder bereits abgeerntet sind, oder noch darauf warten abgeerntet zu werden? Wenn das stumme Hinten dem nichtssagenden Vorne gleicht? Wenn die Nacht auf verheerende Weise eingebrochen ist wie sie es nun war? (…)” (Fortsetzung folgt)

Notizen zu „Recycling Le Tour de France“

 

[rltdfdok, deckblatt tl. 2: Notizen zu „Recycling Le Tour de France“]
Fortgesetzt als Serie Recycling Le Tour de France: Dokumentation & Materialien (rltdf)

 

 

Notizen zu „Recycling Le Tour de France“
Komposition für drei Soundboards, eine Yamaha PSR-420
und diverse, künstliche Stimmen

Dokumentation & Materialien

 

 

“…da spielen so viele Rollen einen Faktor,
dass es fast manchmal unmöglich ist, zu sagen,
was wirklich geschieht …”
Tony Rominger

 

 

 

Nach verschiedenen früheren konzeptuellen Arbeiten (1) rund um die Bereiche Recycling / Entsorgung (Erinnern / Vergessen) bzw. der Arbeit am Autorschafts- und Werkbegriff nimmt diese Arbeit das Recyclingthema wieder auf – in seiner wortwörtlichsten Bedeutung, allerdings.

“Recycling Le Tour de France” versteht sich als konkret-poetische Montagearbeit, die aber auch überkommene Text-, Hard- und Softwareformen, d.h. Sprache, Sound und Technik zerlegt, anwendet, rekombiniert und daraus neue, ästhetische Gebilde formt.

 

 

—————————————-
(1) “jetzt ist es ein kunstwerk” – 100 Flooksbooks nach Sam Kautsch (2012), “The Chomskytree-Haiku (Rhizome(Rhizome)) / TCT-H (R(R))” (2011), “Ueberich I. Datenbank der Realfiktionen / Database of real fiction 1(2)” (2011).“ikindle” (2011), “ONPOS – Wörter, die es gar nicht gibt” (2010), “Das blaue Buch der Weissheit.” (2010), “Bibliotheca Caelestis. Tiddlywikiroman.” (2008)

 

9783905846294

 

Farah Days Tagebuch, 31

Freitag, 29.Mai 2015

mein leben als stapel
ich bin so groß. doch so gut ich mich auch schichte, die hohlräume werden nicht kleiner.

: wie gewandt der fremde mit den kids umging, da konnten wir uns alle ein blatt rausnehmen. die kriegten sich kaum noch ein!
einer kleinen, pickeligen, die sich weigerte, lieh er seinen kopf wie eine vorratskammer:
s o macht man das.
hat ihre abwehr notiert, als ob sie ein text wäre und ihre abwehr wurde ein text und sie schrie: „das dürfen sie nicht aufschreiben, was ich schreie“ und er ließ sich gar nicht beirren, notierte auch das, gab ihr das blatt und sie zappelte und las und sagte schließlich:
„okay.“

– geht’s denn je um etwas anderes? sich sein blatt zu eigen machen. darum drehen wir uns. jenen, die’s nicht können, leihen wir unsere köpfe als zwischenlager.
wir sind jäger und stapler.

mein leben als stapel begann vor langer zeit, da war ich noch nicht hoch; seitdem wachse ich. ich seh‘ viele von meiner art. nur wenige von uns sind stabil.
ich selbst hab’ gewellte blätter, auch demolierte; auf kante kriegt man mich nicht mehr.

die hölle, das sind die anderen: die noch dazwischenzukriegen. aus liebe oder solidarität. andere gründe lasse ich nicht gelten.
stapelleute, die alles auf kante haben, weisen die Gewellten natürlich zurück. könnte was durcheinanderkommen, ihr wollt nicht neu gemischt werden, stimmt’s? ein anständiger stapel tut sowas nicht.

ihr müsst aber.
sonst lebt ihr im rechteck.
ich sag’ euch das nicht gern.

also, weiter. an meiner verständlichkeit muss ich noch arbeiten, weiß ich. ich hab mich nass gemacht, meine schriften vermengen sich, gefühle pappen aufeinander als gehörten sie zusammen. das ist euch doch nicht fremd?

ich mag mein leben als stapel nicht mehr, will in die fläche.
fläche
(komm‘ doch mit. breite dich aus.)

nur noch ein einziges, riesiges blatt.

TROMPETER

Trompeter ist kein Einbildungsmann.
Ich sah ihn zum ersten Mal im Hegelhof.
Vielleicht hatte Hegel keine Trompete, auch
keinen Hof, der Mann hatte keine Hegeltrompete.

Kehle und Unterleib erfüllt aber Trompeter
in seiner spontan inszenierten competition
mit seinen Doppelgängern. Die vielen jungen Männer,
wie sie so enggedrängt und äußerst aufmerksam

zur Tür hin schauen, auch auf den Kreis
in der Mitte, wo nur Trompeter steht,
alle andern, auch der mögliche Schlagzeuger,
stumm und ganz Ohr. Es gibt nur Trompeterton,

der sie alle trifft, das Kommando
zum Lauschen und Sitzenbleiben, eine zutiefst
befriedigende, noch unsichtbare Lähmung.
Trompeter scheut wie so oft das Licht,

berührt den Sampler mit seinen nackten Zehen,
wird nicht frieren. Er beugt sich nach rechts
und nach links; in gewissen Abständen tropft dann
Speichel ab, für die meisten nicht wahrnehmbar.

Trompeter streckt die Trompete dem Mikro entgegen,
dreht sie nach oben, über den Kopf hinweg,
das alles beinahe in völliger Dunkelheit,
als wär die unbemerkt von der Decke herabgesunken.

Trompeter ist eine Weile nur Nachbild,
während das Raue, der Stoß, die Stoßfolge
durch den Sampler vorbereitet wird auf viel sanftere
Weise als beim noch unbegleiteten Stück.

Nur kurz ist Trompeter allein mit seinem Instrument.
Danach tritt die Trompete vielfältig
aus allen Lautsprechern hervor, als wär sie
eine fremde, aus der Ferne herbeigeholt.

Trompeter gibt sich am Ende die Gelegenheit,
seiner Trompeterstimme zu antworten, mit einem Dauerton,
zu dem er sich Luft holt aus beiden Backen,
während ganz von allein die Nase weiteratmet

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

F r i t z J. R a d d a t z. – Als Untriest 37 ein vielleicht, aber mir angemessenerweise, zu kleines Notat.

Arbeitswohnung, 8.54 Uhr.
Ich schreibe Dir, Liebes,gar nichts heute zu mir, und nichts zu meiner Arbeit. Denn zwar gestern schon rief der Profi an – aber ich scheute mich noch -, ich solle bitte die Nachrufe auf Fritz J. Raddatz lesen, der seinen Fortgang in Zeitpunkt und Art auf eine Weise selbst bestimmt hat, die uns allen zu wünschen wäre: daß sie uns nicht verboten wird, so daß man seine Zuflucht in der Behinderung oder gar Schädigung anderer nehmen muß wie einer jener hoch verzweifelten Leute, die sich vor Züge werfen. Freilich hatte Raddatz, anders als die, noch genügend Geld und, so zu tun, wie er nun tat, vor allem die Bildung.
Wir sind uns zweimal begegnet, einmal als Gäste einer Talkshow, einmal in halbprivatem Rahmen und hatten uns nichts zu sagen; er kannte mich nicht, bis jetzt zu seinem Tod; für mich war er allenfalls als ästhetisches Phänomen interessant, auch als Dandy, der sich durchzusetzen vermochte, aber eben in seiner solchen Erscheinung als Homosexueller akzeptiert war, wenn auch nicht unumstritten. Die Klarheit seiner Worte gefiel mir, seine radikale Offenheit gefiel mir, seine ätzende Kritik am Betrieb, dem er indessen zugehörte und zugehören auch wollte, dessen Weichen er aber auch jahrzehntelang mitgestellt hat. Ich kam da als Zug nicht vor, vielleicht auch meiner Homophobie wegen. Das tut hier alles nichts zur Sache.
Der Profi hat recht. Einen der besten Nachrufe, die ich heute früh las – erst heute früh, weil ich gestern instinktiv auswich – hat >>>>> in der FAZ Volker Weidermann geschrieben – wenn auch mit der euphemistischen Headline, er sei, also Raddatz, „gestorben“. Die Zeile ist bigott, dem Mann nicht angemessen, denn sie stützt ein Tabu, das dem Menschen die Würde der letzten eigenen Entscheidung nimmt. Weiterhin lesenswert ist >>>> das von der Süddeutschen Zeitung noch einmal ins Netz gestellte Gespräch, das Sven Michaelsen mit ihm geführt hat. Sehr wichtig darin scheint mir die Unterscheidung von Eitelkeit und Narzissmus zu sein.Wir hätten uns selbst dann, wäre meine Arbeit für ihn von irgend einem Interesse gewesen, wahrscheinlich nicht verstanden. Zwischen uns lagen verschiedene Herkünfte, verschiedene Vorlieben, von denen die sexuellen die mit bestimmendsten sind, verschiedene Generationen, verschiedene poetische Werte; verbunden hätte uns die Idee, das am Anfang all dessen, was wir groß nennen, die Leidenschaft steht: die Fähigkeit und vor allem Bereitschaft zur Hingabe, sowie eine radikale, nichtbürgerliche Offenheit, die sich gefährdet.

Raddatz ist nicht gestorben, sondern gegangen. Das ist, Geliebte, der Unterschied, den das Wort aufrecht markiert. Dessen wie seiner gedenke ich hier.

ANH, 28.2.2015
Berlin