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Inhalt 02/2015

Die Lesezeichen-Ausgabe 02/2015 erschien am 13. Juli 2015.

In dieser Ausgabe:

Gescheitelte Sterne, Jäger und Stapler, Maschi­nen­stimmen und Botox-Bakterien, Molly Bloom, Caspar David Friedrich und vollkommen schiefe Mauern, frei schwebende Erzählfäden, das Geheimwissen des Fritz J. Raddatz und gemachte Schularbeiten, konkret-poetische Montagearbeiten, Jodmangel, lederne Wamse und Augenmasken, Sprachpakete, die nicht ankommen, Mircea Cărtărescu … uvm.

INHALT:

Unter dem Radar

Aus seiner Generation sei er im Grunde der einzig Übriggebliebene, erzählte er. Die anderen hatten sich entweder rechtzeitig in eine bürgerliche Existenz gerettet, oder hatten sich zu Tode gesoffen. Oder sich sonstwie umgebracht. Als Schriftsteller erfolgreich wurde eigentlich niemand. Jetzt sei er stets der Älteste, was vielerlei Vorteile hätte: Es gebe keinen ökonomischen Druck mehr, sagte er, es fallen die üblichen Intrigen wegen ausgespannter Sexualpartner, Posten und Stipendien aus – braucht er alles nicht mehr – und es gebe folglich keinen Neid. Höchstens Schmunzeltum.

Klapse, sagte er noch als weitere Alternative. Freitod, Alkohol, Klapse. Das wären so die Optionen.

Der Langzeitstudent ist ja auch schon lange ausgestorben.
Fackeln.
Sprachpakete, die nicht ankommen.
Die Kunst des ausgehenden 21. Jahrhunderts ist reiche Kunst von reichen Künstlern für Reiche.

Schnarchende Frauen. Halbstarke Erotik.
Leben in der Cloud. Besser wäre es tatsächlich, nackt auf einer Kugel zu sitzen. Einer Abrissbirne.

Zwei Absagen an einem Tag. Ich bin sowas von am Rand des Literaturbetriebs, ich bin eigentlich schon fast draußen. Vielleicht auch mal wieder ein Fall von Schicksal eines Handwerkersohns, eines Zugezogenen, eines Studienabbrechers. Andererseits, mit Peter Rühmkorf: „Wir sind … nur Arbeiter und können uns unsere Fabrik nicht aussuchen.“

Eine Schreibmaschine sein wie Dietmar Dath. Der Schreibmaschinist. Drei Romane pro Jahr, ein zusätzliches Buch, mindestens vierzig Artikel, wenn’s läuft, noch eine Platte, ein, zwei Theaterstücke, dazu Podien, Rockkonzerte, Interviews. Ich möchte die Sekretärinnen kennen lernen, mit denen er so schläft.

Am selben Tag, vielleicht sogar in derselben Minute, den Fahrradschlüssel verloren. Was soll mir das sagen? Keine Ahnung. Ich finde ihn nicht, ich kann mir sein Verschwinden nicht erklären. Nachts nach zwei Stunden von einem Traum aufgewacht, in dem es darum ging, mit den Freunden ein Rätsel zu lösen. Die Analytikerin zu finden, die gleichzeitig C. ist (also eben 30 Jahre jünger). Wie ist die Lösung? Ich finde sie nicht. Daraufhin vorerst nicht mehr eingeschlafen, da seltsames Geräusch im linken Ohr. Wie ein leiser Fernseher, ein Fernseher aus dem unteren Stock, aber da ist nichts zu hören. (Wenn die Geräusche zu Worten werden, bin ich dann wohl schizophren, dachte ich.)

Am nächsten Tag verwirrt. Mutter ruft an. Ich mache ein Spaziergang, stecke mir zwanzig Euro ein, die später ebenfalls verloren sind. Rätsel, rätsel.

Ihre Ehe mit dem General war in der Krise, und der General war bereits mit anderen, vornehmlich jüngeren Frauen gesehen worden. Es wurden Bilder veröffentlicht, auf denen eine ehemalige Kindergärtnerin, die durch Beziehungen schnell zu einer Leiterin wurde, leicht bekleidet an seinem nackten Zeh saugte. Poröse Gesichter, abblätternde Haut. Das Gespenst reagierte auf die aristokratische Art: nämlich vorzugsweise gar nicht. Sie dementierte nicht, sie kommentierte nicht, sie ließ sich auch nicht mit getrockneten Tränen erwischen. Sie zog sich nur zurück. Ob sie Vergeltungswünsche hegte, wusste man nicht. Aber ich war bereit, Nachforschungen anzustellen.

Monsieur Crépon erkundet das Elsaß

Mit Marcel Crépon ist es ein wenig wie mit dem Teufel an der Wand. Kaum machen wir uns Gedanken, es sei an der Zeit, einmal wieder nach Monsieur Crépons Befinden zu fragen, langt elektronische Post aus kaum betretenen, beinahe schon klandestin zu nennenden Gebieten der rheinischen Sferiferie bei uns ein. Monsieur Crépons aktueller Bericht stammt aus dem elsässisch-badischen Grenzgebiet, dessen Trennlinie der bisweilen geradezu beängstigend begradigte Oberrhein markiert. Der Bericht indessen ist so reichhaltig an tief in die Lokalhistorie vordringenden Informationen in Wort und Bild, daß wir ihn – um unsere Leserschaft zu bannen und vor dem Wundscrollen ihrer bevorzugten Finger zu bewahren – auf eine Serie verteilen, die wir in den kommenden Tagen in loser Folge präsentieren wollen. Hier nun Teil 1:

“Liebes rheinsein,

Die Frage der Welterfassung nach objektiver oder subjektiver Art hat, seit sie formuliert wurde, nichts an Aktualität eingebüßt. Ja, wir tun uns manchmal immer noch schwer, uns zurecht zu finden. Täuschen wir uns ausnahmsweise nicht selber, kümmern sich darum Geräte, die uns eigentlich Hilfe leisten sollten. Damit wurde ich bei meinem letzten Ausflug konfrontiert.

Kaum losgefahren war es unverkennbar, daß mein alter Hermes-Navigator über Wege und Umwege, verschwundene oder neugebaute Straßen kaum Bescheid wußte, sodaß er jede sich bietende Chance ergriff, mich in die Irre zu führen. Eine Beschreibung aller befolgten Windungen und erlebten Widrigkeiten erspare ich Ihnen und komme direkt auf diese Neben-Nebenstraße, auf der ich, indem ich die Orakel meines orientierungslos gewordenen Hermes zu dechiffrieren versuchte, weder hinten von vorne, geschweige denn links von rechts zu unterscheiden wußte.

Welch eine Ouvertüre, werden Sie schmunzeln. Beruhigt im Wissen, daß Sie es nicht böse meinen, sondern vielmehr nachsichtig, fahre ich fort: vor mir stand plötzlich ein Mann, den einzuschätzen ich Schwierigkeiten hatte – abgesehen von eindeutigen Merkmalen, die über Jodmangel in seiner frühen Kindheit Auskunft gaben, die aber keineswegs, einem alten Glauben zufolge, regelmäßigem Trinken von Rheinwasser zuzuschreiben waren. Der Mann war weder ländlich noch städtisch bekleidet; weder ging er einer Beschäftigung nach, noch vermittelte er den Eindruck eines einfachen Spaziergängers.

Auf meine Frage ”Frankreich?” antwortete er mit einem Kopfnicken, verstärkt durch eine Handbewegung, wobei der Zeigefinger auf den Boden wies. Die Geste machte mich stutzig, denn ich konnte mich nicht entsinnen eine Brücke überquert zu haben, welche mich von der rechten auf die linke Rheinseite gebracht hätte. Wohl wissend, daß mein Akzent scharf genug war um jeden Verständigungsversuch zu zerbröseln, wiederholte ich meine Frage und bekam unverzüglich die gleiche Antwort. Und weg war der Mann.

Que diable venais-je faire sur cette route?”, fluchte ich in Zweifelslaune, wobei ich ”étais-je venu” hätten anwenden sollen: auf dieser Straße war ich schon seit einer Weile angekommen. Nun, was helfen grammatische Feinheiten, wenn rechts und links nichts als Felder zu sehen sind, die entweder bereits abgeerntet sind, oder noch darauf warten abgeerntet zu werden? Wenn das stumme Hinten dem nichtssagenden Vorne gleicht? Wenn die Nacht auf verheerende Weise eingebrochen ist wie sie es nun war? (…)” (Fortsetzung folgt)

Notizen zu „Recycling Le Tour de France“

 

[rltdfdok, deckblatt tl. 2: Notizen zu „Recycling Le Tour de France“]
Fortgesetzt als Serie Recycling Le Tour de France: Dokumentation & Materialien (rltdf)

 

 

Notizen zu „Recycling Le Tour de France“
Komposition für drei Soundboards, eine Yamaha PSR-420
und diverse, künstliche Stimmen

Dokumentation & Materialien

 

 

“…da spielen so viele Rollen einen Faktor,
dass es fast manchmal unmöglich ist, zu sagen,
was wirklich geschieht …”
Tony Rominger

 

 

 

Nach verschiedenen früheren konzeptuellen Arbeiten (1) rund um die Bereiche Recycling / Entsorgung (Erinnern / Vergessen) bzw. der Arbeit am Autorschafts- und Werkbegriff nimmt diese Arbeit das Recyclingthema wieder auf – in seiner wortwörtlichsten Bedeutung, allerdings.

“Recycling Le Tour de France” versteht sich als konkret-poetische Montagearbeit, die aber auch überkommene Text-, Hard- und Softwareformen, d.h. Sprache, Sound und Technik zerlegt, anwendet, rekombiniert und daraus neue, ästhetische Gebilde formt.

 

 

—————————————-
(1) “jetzt ist es ein kunstwerk” – 100 Flooksbooks nach Sam Kautsch (2012), “The Chomskytree-Haiku (Rhizome(Rhizome)) / TCT-H (R(R))” (2011), “Ueberich I. Datenbank der Realfiktionen / Database of real fiction 1(2)” (2011).“ikindle” (2011), “ONPOS – Wörter, die es gar nicht gibt” (2010), “Das blaue Buch der Weissheit.” (2010), “Bibliotheca Caelestis. Tiddlywikiroman.” (2008)

 

9783905846294

 

Farah Days Tagebuch, 31

Freitag, 29.Mai 2015

mein leben als stapel
ich bin so groß. doch so gut ich mich auch schichte, die hohlräume werden nicht kleiner.

: wie gewandt der fremde mit den kids umging, da konnten wir uns alle ein blatt rausnehmen. die kriegten sich kaum noch ein!
einer kleinen, pickeligen, die sich weigerte, lieh er seinen kopf wie eine vorratskammer:
s o macht man das.
hat ihre abwehr notiert, als ob sie ein text wäre und ihre abwehr wurde ein text und sie schrie: „das dürfen sie nicht aufschreiben, was ich schreie“ und er ließ sich gar nicht beirren, notierte auch das, gab ihr das blatt und sie zappelte und las und sagte schließlich:
„okay.“

– geht’s denn je um etwas anderes? sich sein blatt zu eigen machen. darum drehen wir uns. jenen, die’s nicht können, leihen wir unsere köpfe als zwischenlager.
wir sind jäger und stapler.

mein leben als stapel begann vor langer zeit, da war ich noch nicht hoch; seitdem wachse ich. ich seh‘ viele von meiner art. nur wenige von uns sind stabil.
ich selbst hab’ gewellte blätter, auch demolierte; auf kante kriegt man mich nicht mehr.

die hölle, das sind die anderen: die noch dazwischenzukriegen. aus liebe oder solidarität. andere gründe lasse ich nicht gelten.
stapelleute, die alles auf kante haben, weisen die Gewellten natürlich zurück. könnte was durcheinanderkommen, ihr wollt nicht neu gemischt werden, stimmt’s? ein anständiger stapel tut sowas nicht.

ihr müsst aber.
sonst lebt ihr im rechteck.
ich sag’ euch das nicht gern.

also, weiter. an meiner verständlichkeit muss ich noch arbeiten, weiß ich. ich hab mich nass gemacht, meine schriften vermengen sich, gefühle pappen aufeinander als gehörten sie zusammen. das ist euch doch nicht fremd?

ich mag mein leben als stapel nicht mehr, will in die fläche.
fläche
(komm‘ doch mit. breite dich aus.)

nur noch ein einziges, riesiges blatt.

TROMPETER

Trompeter ist kein Einbildungsmann.
Ich sah ihn zum ersten Mal im Hegelhof.
Vielleicht hatte Hegel keine Trompete, auch
keinen Hof, der Mann hatte keine Hegeltrompete.

Kehle und Unterleib erfüllt aber Trompeter
in seiner spontan inszenierten competition
mit seinen Doppelgängern. Die vielen jungen Männer,
wie sie so enggedrängt und äußerst aufmerksam

zur Tür hin schauen, auch auf den Kreis
in der Mitte, wo nur Trompeter steht,
alle andern, auch der mögliche Schlagzeuger,
stumm und ganz Ohr. Es gibt nur Trompeterton,

der sie alle trifft, das Kommando
zum Lauschen und Sitzenbleiben, eine zutiefst
befriedigende, noch unsichtbare Lähmung.
Trompeter scheut wie so oft das Licht,

berührt den Sampler mit seinen nackten Zehen,
wird nicht frieren. Er beugt sich nach rechts
und nach links; in gewissen Abständen tropft dann
Speichel ab, für die meisten nicht wahrnehmbar.

Trompeter streckt die Trompete dem Mikro entgegen,
dreht sie nach oben, über den Kopf hinweg,
das alles beinahe in völliger Dunkelheit,
als wär die unbemerkt von der Decke herabgesunken.

Trompeter ist eine Weile nur Nachbild,
während das Raue, der Stoß, die Stoßfolge
durch den Sampler vorbereitet wird auf viel sanftere
Weise als beim noch unbegleiteten Stück.

Nur kurz ist Trompeter allein mit seinem Instrument.
Danach tritt die Trompete vielfältig
aus allen Lautsprechern hervor, als wär sie
eine fremde, aus der Ferne herbeigeholt.

Trompeter gibt sich am Ende die Gelegenheit,
seiner Trompeterstimme zu antworten, mit einem Dauerton,
zu dem er sich Luft holt aus beiden Backen,
während ganz von allein die Nase weiteratmet

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Geschichten aus einem buddhistischen Kloster

1.

“Wenn wir essen, sollten wir schweigend essen, um es auch wirklich genießen zu können. Wir reden ja auch nicht während eines Konzerts”, sagte Meister Tan Ze eines Tages zu uns.
Beim nächsten Essen schwiegen wir. Alle 200 Mönche. Es war nur das Schlucken und Schlürfen, das Kauen, Schmatzen und Rülpsen zu hören.
“Vielleicht sollten wir doch lieber wieder reden”, sagte Meister Tan Ze nach dem Essen.
Wir dachten lange über diese widersprüchliche Lehre des Meisters nach, kamen aber wie immer zu keinem Ergebnis.

2.

Eines Tages zeigte uns Meister Tan Ze, wie man einen Garten pflegt. Er nahm eine Liege und legte sich mit geschlossenen Augen für mehrere Stunden in die Sonne.
“Habt ihr gesehen, wie man es macht?”
Wir waren alle sprachlos, denn er hatte ja nichts getan.
“Oh doch”, sagte Meister Tan Ze, der uns wohl an den Augen ablas, was wir dachten. “Ich habe sogar viel getan, nämlich nichts, was schwierig genug ist.”
Am nächsten Morgen meldeten wir uns alle mit unseren Liegen zur Gartenarbeit.
Da wusste ich wieder einmal, dass es richtig gewesen war, in dieses Kloster zu kommen.

3.

Eines Tages erklärte uns Meister Tan Ze die Unsinnigkeit von Geld.
“Stellt euch vor, dass wir statt Geld Schulranzen als Währung hätten. Dann hätte ein Millionär eine Millionen Ranzen. Und wäre er glücklich? Nein! Denn er könnte ja auch eine Milliarde Schulranzen besitzen. Oder jemand könnte im Lotto Ranzen gewinnen. Und das, obwohl er gar keine schulpflichtigen Kinder hat. So viele Ranzen würden ihn unter Druck setzen. Er würde unglücklich. Deshalb strebt nicht nach Ranzen, denn sie wären nur ein Ballast für euch.”

4.

Eines Tages sprach Meister Tan Ze über die Angst. Darüber, wie unsinnig sie sei.
“Ihr wisst nicht, was kommt. Es kann schlimm werden, z.B. wenn ihr wegen Zahnschmerzen zum Zahnarzt müsst, aber es kann auch viel, viel schlimmer werden. Warum also darüber aufregen? Eure Angst war völlig umsonst bzw. gar nicht groß genug. Versteht ihr?”
Da verstand ich ihn wieder einmal nicht, aber ich blieb.

5.

In meinem ersten Jahr sagte Meister Tan Ze eines Tages zu mir: “Peter, baue eine Mauer für unser Kloster.”
Ich ging also hin und errichtete eine Mauer, die so schief war, dass man sie kaum ansehen wollte.
“Oh, Meister”, sagte ich, “die Mauer ist vollkommen schief.”
Meister Tan Ze betrachtete mein Werk und sagte: “Warum siehst du nur die 998 schiefen Steine und nicht die zwei, die fast gerade gesetzt sind?”
Da verstand ich ihn wieder einmal nicht, aber ich blieb.

6.

“Wenn wir eine Entscheidung treffen wollen, sollten wir uns in Geduld üben”, sagte Meister Tan Ze eines Tages. Er saß vor einer Schale mit Nudeln. “Ich weiß nicht, ob ich diese Nudeln essen sollte.”
Meister Tan Ze saß stundenlang, schließlich wochenlang vor der Schale.
“Seht ihr”, sagte er, “ich habe gewartet, welche Lösung das Schicksal für mich findet. Jetzt sind die Nudeln so verdorben, dass ich sie nicht mehr anrühren möchte. Die Zeit hat für mich entschieden.”
Da verstanden wir ihn wieder einmal nicht, aber wir blieben.

 

Brezelautomat und Dominas

In dieser Stadt, so lasse ich mir sagen, müsse die Dose immer dicht am Fuß gehalten werden. Noch bin ich nicht streetwise und hardcore. Meine Röcke wippen, mein Brunnen wispert, mein Märchen beginnt immer : „Es war einmal eine Rapunzel und schor sich das Haar raspelkurz…“ Es gibt aber gar keine Märchen in Lack und Leder. Jedoch: Was lässt sich nicht sagen und schreiben? Beispielsweise: „Erzähl doch mal vom Brezelautomaten.“ (Schwör!)


Es war einmal ein Galanteriesattler, der hatte sieben Töchter, eine schöner als die andere. Die hob er, wenn ihre Röcke lang genug waren, hinauf auf die Ladenschilde und band ihnen die ledernen Riemchen an die Fesseln. So standen sie gülden und rötlich und braun und schwarz und gescheckt und warben für sein Geschäft.


Um die Ecke dort wohnen heutzutage Darth Vader und seine Kumpel. Der Herbst-Kaiser lebt Parterre. Das scheint mir eine Allegorie auf das Handwerk, die Kunst und das Leben. Oben wird’s derzeit düster und väterlich. Der Patriarch zieht die Treppe hinunter und richtet sich beschaulicher ein. Im Vorgarten werden derweil von Migrantengärtnern Palmenkübel aufgestellt. Die Gartenmöbel dazu wirken albern mediterran. Allerdings: Das Klima wandelt sich. (Schwör!)
 
 
Da kam ein Prinz geritten auf einem schäbigen Gaul vom Messegelände her. Die alte Mähre trug einen verschlissenen Sattel, doch der Prinz heroben machte eine stattliche Figur und warf seine dunkle Mähne verführerisch über die Schulter. Die Mädchenaugen zuckten und eine nach der anderen stiegen sie herab von ihren Schildern, um dem Gaul in die Zügel zu greifen und den Prinzen aus dem Sattel zu heben.


„Bitte haben Sie Geduld.“, mahnt eine blecherne Stimme aus der Wand des Süpi-Discount- Supermarkts. Grad werden die Brezeln gebacken. Immer frisch und frank. Dann öffnet sich das Schiebetürchen. Sie fallen, scheinbar, voll automatisch und hygienisch in den Greifschlitz: eins, zwei, drei, vier. Nur wer sich traut, tritt hinter die Wand und sieht die Einheimischen als Niedriglöhner die Teigwaren in die Ofen schieben. (Schwör!)
 
Da stand er nun, schön, stumm und ohne Penunzen. Aber die sieben Weiber überschlugen sich geradezu. Eine nach der anderen eilten sie in die Werkstätte, grapschten die Peitschen, die vergoldeten Sättel, die ledernen Wamse und Augenmasken, die Mieder und Handschuhe. So standen sie zuletzt vor ihm, dem schüchternen Prinzen und seinem elenden Pferd: Sieben Dominas in der Lederstadt und öffneten lüstern ihre Münder. 


Den Rest kann ich nicht entziffern. Im Bahnhof wirbt ein Gott ohne Telefonnummer um Anrufe. Er weiß: „Gut, dass ich dich nicht sehe, wenn das Licht ausgeht.“ Alles wird aus Versatzstücken wahllos zusammengepfercht. Nur so entsteht Schönheit. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Es kann die Kargheit sich nicht mehr attraktiv machen in unserer Zeit. 
 
Er stotterte, sie plapperten. Er zögerte, sie fassten zu. Halb zogen sie ihn, halb sank er hin. Als der Vater, der auf einem Kundengange gewesen war, zurückkam, war es längst um ihn geschehen. Nichts blieb dem Alten, als verzweifelt die geschundenen Gerberhände vors Gesicht zu schlagen. Den armen Prinzen hatten sie zwischen sich unter galanten Geschenken begraben, ach die ledrigen Luxusweiber. Als er sich nicht mehr rühren konnte, kletterten sie geschwind zurück auf ihre Schilde. Der alte Mann führte den klapprigen Hengst, der vor der Türe gewartet hatte, in seinen Stall und gewährte ihm fürderhin ein Gnadenbrot. 
 
Und wenn sie nicht gestorben sind, so lassen sie den Prinzen, der so dünne geworden ist wie seine Haartracht inzwischen, noch immer nach ihren Peitschen tanzen.
 
Die Gentrifizierung schreitet ungebrochen voran. Im Hafen wird wieder nach Gold geschürft.   Läuft doch. Happy End.(Schwör!)