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Inhalt 02/2016

Die Lesezeichen-Ausgabe 02/2016 erschien am 11. Juli 2016.

In dieser Ausgabe:

Molly Bloom und ein Glas voller Luft, saure Brause für den Schlaf des Wissens, Jean Pauls Text-Jemand, Victor Vroomkoning und Louis Paul Boon, das Ich als DJ und seine Sam­mel­bil­der, Bergbäche, Schluchten und die Romane Mary Wesleys, Rap-Workshops in einem Café in Friedenau, die Kulturindustrie und zwei Gläschen Ninno-Wein, unbekannte Musen in Besitzstandswahrungsgesellschaften, Leszek Możdżer, Iiro Rantala, Michael Wollny und Maria Callas … uvm.

INHALT:

Was ich noch sagen wollte und schon mal gesagt habe

Ich mag es, wenn sie mir spätabends im Bett einen Kuss gibt und viel Spaß beim Träumen wünscht, „.. oder was auch immer du so treibst, wenn du gleich die Augen geschlossen hast.“

Ich mag Popsongs, die sich voranschleppen wie ein Tag, an dem man es schwer hat, und am Abend ist die Sache ausgestanden.

Ich mag es, den Sachen nahe zu kommen, denn je näher man den Sachen kommt, desto eher verschwinden sie auch wieder und sind fort und erledigt – für immer.

Ich mag die Szene, wo der ältetste der drei Rocketta-Brüder mit zwölf Monaten Mietrückstand und einem gewaltigen Hexenschuss nach Hause gehumpelt kommt, zwei Pullen Zuckerrohrschnaps unterm Arm. Er wird bereits erwartet von Gerichtsvollziehern, Handwerkern und der Polizei, bleibt aber höflich. „Hereinspaziert, die Herrschaften“, ruft er und zählt erstmal durch. „So, sechs Mann sind am Start. Wer will alles ein Schnäpschen?“ Die Zwangsräumung verläuft in gelöster Stimmung.

„Ich mag Nullen, die haben ganz schön Kraft, im Hinblick auf die Nullen, die an einer Million hängen.“ (Die Gräfin)

Ich mag meine innere Stimme, meinen besten Außendienstmitarbeiter.

Ich mag Maria Callas. Dass ich Maria Callas mag, liegt daran, dass Maria Callas Blues singt.

Ich mag es mein Gegenüber zu fragen, „sag mal, wann fängt das Kino an, um acht oder viertel nach acht?“ und mein Gegenüber antwortert, „och, weiss nicht, so um acht, viertel nach acht.“

Ich mag es in einer anstrengenden prallvollen Zeit zu leben, wo jedes neue Nichts mit lautem leutseligen Halloo begrüßt wird, während alles, was leise ist und mit zartem Strich rüberkommt, übersehen wird. („Das magst du doch nicht wirklich, du alter Pampahasenforscher!“ „Na, und ob ich das mag!“)

.., die Leute mit der Wahrheit reinzulegen, das ist besonders perfide.

Ich mag Genialität, die darauf beruht, nein zu sagen zur Gesellschaft und ihr dennoch alles zurückzugeben.

Ich mag dieses unbestimmte, niemals verstummende Gefühl von Weltende, das mich schon als Teenager im Griff hatte, als ich die Schule schwänzte, im Stonns Fuot am Tresen hockte und mit meiner Zeit nichts anzufangen wusste, ausser am Tresen sitzen und darauf warten, dass die Welt untergeht.

Ich mag den Anblick von Bodybuildern, von furios triefenden Gebirgen aus Muskelsträngen und Posing-Öl und untenherum eine winzige Ausbuchtung, als stünde eine einzelne Kaffeebohne im Höschen – quer.

Abends mag ich es, wenn sich eine Bande dunkler Gesellen rund um den Kaugummiapparat sammelt und Rififi über den Dächern plant.

Ich mag John Lennons Give peace a chance, den Rhythmus, der wie eine Schlaghose daherkommt.

Ich mag den Bossa Nova Beat, mit dem die Debüt-Single Break on through to the other side der Doors beginnt, und dann setzt der Basslauf ein, gestohlen von der Butterfield Blues Band, und die Nummer nimmt ordentlich Fahrt auf, voller Diebesgut und Klauaktionen.

Ich mag sofortige Wiederbelebung durch Kunst.

Ich mag es auf meinem eigenen Erbgut zu leben.

Ich mag Romane, die heftig gelesen werden und aussehen wie ein seit Monaten ungemachtes Bett.

Ich mag den Inhalt eines typischen Männerhandtäschchen der Achtzigerjahre: Einwegfeuerzeug, Schachtel Kippen, Glas Bier.

Ich mag Rückwärtsgehen, es fühlt sich so schön verkehrt an – man geht, aber man geht nicht drauf zu. Wirklich fort geht man auch nicht. Wer eine Zeitlang einer bestimmten Sache nachgelaufen ist, wer sich lange sehr zielorientiert bewegt hat, der sollte einfach mal eine Minute rückwärts gehen. Es fühlt sich so schön voll verkehrt an. Weg von sich, weg von allem. Hin zum Anderen.

„Ich will nicht immer nur ich sein müssen! Ich will als jemand sterben, der auch die andere Seite kennt..!“ (Die Gräfin)

Richtig. Ich mag es Kaffeebohnen von Hand zu mahlen. Wenn ich mal keine Lust habe, weil es mir zu lästig ist, zehn Minuten lang die Kaffeemühle zu drehen, halte ich kurz inne und denke an Pozzo di Borgo, einem Querschnittsgelähmten, einem Tetraplegiker, der im Rollstuhl sitzt: „Ich wäre schon froh, wenn ich nur den kleinen Finger bewegen könnte.“ Und in Windeseile zählt Kaffeemahlen mit der Hand wieder zu den schönsten Sachen der Welt.

Angenommen, die Sonne explodiert, dann dauert es 8 Minuten bis die Auswirkungen die Erde erreichen und das Licht wegbricht, 8 Minuten, Zeit für eine letzte Photosynthese, ein letztes Mal Chlorophyll und dann ab ins Bett, es wird eine lange und unruhige Nacht – ob ich das mögen werde? Ich weiss nicht.

Ich mag das sogenannte Handicap-Prinzip der Natur: Wer sich einen Nachteil leisten kann, wird von Feinden als besonders stark wahrgenommen.

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Ich mag es, auf Schleichwegen zu mir selbst unterwegs zu sein, das hab ich von der Gräfin gelernt.

Ich mag es, wenn sie die Nährwerttabelle auf der Nudelpackung laut vorliest. Es sind chinesische Nudeln. „Pro Portion 350 Kalorien! Das ist kulinarische Kriegsführung! Die Chinamänner wollen uns kugelrund füttern, damit wir aus Europa nicht mehr rauskommen! Damit wir hier versauern im eigenen Nudelfett, und die machen sich den Rest der Welt untertan! 350 Kalorien! Ich glaub, es hackt!“

Ich mag Lieder, die sich selbst singen, das ist für alle Mann die beste Lösung.

Ich mag es, wenn ihr in der Küche beim Anmachen des Möhrensalats aus einem Meter Höhe ein Gummiring vom Gewürzboard in die Salatschüssel fällt und sie spontan „Gummi im Salat!“ anstimmt, nach der Melodie von You’re the one that I want von Olivia Newton-John und John Travolta, incl. Hüftschwung und schmierigem Grinsen.

Ich mag Geschichten, die das Leben besser nicht geschrieben hätte.

Ich mag Dichter sind heilig und Klos sind dreckig, na und?!, das hat Lena mal gesagt, fand ich gut.

Ich mag jeden richtig gewählten Zeitpunkt, weil hinter jedem richtig gewählten Zeitpunkt mindestens sechzig falsche auf der Bank sitzen, die nur darauf brennen, endlich zum Einsatz zu kommen und den Gegner zu düpieren.

Ich mag Sätze, die einen anknallen wie erstklassiges Koks, die dampfen und zischen wie Brandzeichen, die aufbrausen wie Hitzköpfe, kurzum – die ein für alle Mal die Dinge auf einen magischen Nenner bringen, in schwarz geteerten Blockbuchstaben und mit doppeltem Ausrufezeichen:

SHINDIG!

Ich mag Litfasssäule, Tischfeuerwerk, NASA-Rakete.

Ich mag literarische Vergleiche, die ein paar Meter weit humpeln und mit schiefgelaufenen Absätzen mausetot zusammenbrechen.

Sie mag das Licht der ersten Frühlingstage, sie würde am liebsten den Pinsel rausholen und rüberlaufen an die Staffelei.

Tut sie auch. Ist ja klar.

Ich mag Neugeborene, sie sind so runzlig und krebsrot wie besoffene alte Männer, es ist ein verstörend schöner Anblick.

Ich mag es, Studenten beim Telefonieren im Intercity zu belauschen: „Wenn ich die nächste Klausur verscheisse, hab ich verkackt.. ja, endgültig.. ist so. Wenn ich ein verschissenes Gefühl hab, verkacke ich jedes Mal.. genau“, ohne mich umzudrehen. Bringt ja nichts. In diesem Falle.

Ich mag es, mein Leben als Glumm Revue passieren zu lassen, denn wo ich auch hinsehe, nichts als clevere Schachzüge, obwohl das Wort Glumm, veraltet, trübe bedeutet. Du trübest das Wasser mit deinen Füßen, und machest seine Ströme glumm, Ezech. 32, 2. (Ein anderes Wort ist das Meklenburgische Glumm, für ein unter der Asche glimmendes Feuer .)

„Ich mag es, am Abend im Bett zu liegen und meine Lieblingsserie zu gucken. Das ist das gleiche, als kämen gute Freunde zu Besuch, aber man kann sie leiser stellen, wenn sie nerven.“  – Die Gräfin –

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Ich mag es, meine eigene Soko zu sein. Ich wurde speziell zusammengestellt für mein eigenes Leben.

„Ich mag es nach dem Essen erstmal eine Weile blöd zu sein, weil der ganze Körper mit dem Verdauungsvorgang beschäftigt ist, inklusive Gehirn.“ – Die Gräfin –

Ich mag die Idee des Lebens, allein geboren zu werden, allein zu sterben, und zwischendurch trifft man ein paar Leute – wenn man Glück hat, nette.

Ich mag Jammern, Wehklagen und Meckern, und das ist erst der Anfang, das können wir Deutsche noch viel besser, und jetzt alle. (Man soll ja immer das tun, was man am besten kann.)

Ich mag Neugier als ersten Wohnsitz.

„Ich mag Obst und Gemüse vom Bauern nebenan, weil es die gleiche Luft atmet wie wir.“  (Die Gräfin)

Ich mag den gut strukturierten Muskelschlamm im Oberkörper von Iggy Pop und ich mag die roten Bäckchen im Kripogesicht meines alten Freundes Karlos, (du alte Tiefsee-Meduse, du Röhrenwurm!), die mich an romantisches Ballonglühen auf dem Flugplatzfest erinnern. (Sich umzubringen im Kreise seiner Freunde – was gibt es Größeres, solange es Freunde gibt.)

Ich mag es, wenn mich alle im Stich lassen, wenn keiner mehr an mich glaubt, wenn alle sagen, näh, dä Typ dä krisste wirklich nit mie hin, dann dauert es nicht mehr lange und ich kann kommen. (Eine Situation, die man gelegentlich künstlich herbeiführen muss, wenn es partout nicht anders geht.)

Was ich an Typen wie Donald Trump und Berlusconi mag, ist ihre kompromisslose „Ich kacke so viel in den Sandkasten, wie ich will!“-Haltung.

Ich mag Persischen Tee am Abend, danach bin ich richtig rollig geworden, wie eine Katze, die auf Baldrian schläft.

Ich mag es nicht zu scheißen und dann muss Hulk groß.

Ich mag achtlos weggeworfene leere Zipperbags, die überall herumliegen, mit winzigen Anhaftungen von selbstgezüchtetem, leichten, die Seele öffnenden Mariuhana und nicht diesen chemischen Pfusch aus niederländischen Krafthäusern. (Beim heutigen THC-Gehalt im Gras ähnelt Kiffen mehr einem Sturzbesäufnis als dem gemütlichen Ablachen früherer Zeiten.)

Ich mag Verlierer, ich hab ein Faible für Gesockse und andere verkommene Subjektive, ich mag skurrile Gewinner und weiteres Personal. Das muss nicht notwendigerweise skurrile Namen tragen, das ist nicht nötig. Die Leute können ruhig, sagen wir, Orion Specht heißen. Oder Herr Billwitz. Randolph Stuttgard. Kinkerlitzchen Carmichael. Donna Littchen. Batzen Dill. Alles kein Problem.

Siegesgewiss in die Schlacht ziehen und 0:10 auf die Mütze kriegen, das finde ich gut. Mit Mitte Vierzig vor lauter Lachen in die Hosen machen und dann mit kleinen Schritten nach Hause staksen, damit auch ja keinem der riesige Pissfleck ins Auge fällt, das geht in Ordnung. Sehr gut sind alle Sachen, die nicht so laufen wie geplant, die kommen immer gut. Nein, nicht immer, natürlich. Null zu zehn untergehen ist wahrlich kein Coup. Aber notwendig. Bisweilen.

Ich mag das Unterwegssein in der Welt, das Suchen, was gibt es schöneres, solange man es nicht findet.

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Wach werden und die Freundin pult dir im Auge herum, weil sie einfach mal nach dem Rechten sehen will, “wie es eigentlich dahinter aussieht, wenn du schläfst”, das tut weh, geht aber in Ordnung. Super Sache.

Steh ich jetzt nicht so drauf.

Den ganzen Tag mit dem Geschmack eines Traumes durch die Gegend laufen, mit dem man früh am Morgen wach geworden ist, an den man aber ansonsten keine Erinnerung hat, finde ich von der Atmosphäre her gelungen.

Ich liebe diese Szene im Finale der Fußballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko-Stadt, als Diego Maradona nach einem gelungenen Sololauf abrupt stehen bleibt, sich bückt und den eigenen Füßen Szenenapplaus spendiert, eine tolle Szene, auch wenn anscheinend nur ich das gesehen hab am Fernsehapparat, niemand sonst.

Ich mag defekte Lämpchen in all dem Glitzer.

Ich mag es am Hintern einen Pickel wachsen zu lassen, damit er artgerecht rausgelutscht werden muss.

Ich mag es, zum Soundtrack eines Ballerfilms aus Hongkong rhythmisch korrekt mit dem Kugelschreiber zu quietschen.

Ich mag es neben Karlos an der Bar zu sitzen und blöde Sätze zu sagen wie „es wird immer härter, echt“, worauf Karlos trocken entgegnet, „soll es immer weicher werden oder wie?“

Ich mag es, früh am Tag die Haustüre zu öffnen und der Rubel rollt zur Stube hinein bis ich mit erstickender Stimme nöle, „is gut, Sergej..! Lass gut sein.”

Ich mag den Moloch New York mit all den vielen Schluchten, es ist der gelungene Versuch, den Grand Canyon in Glas und Beton nachzubauen.

Ich mag Leute, die gleichzeitig reden und rauchen können. Das sieht cool aus, wenn man etwas erzählt und dabei rotiert die Kippe wie ein qualmender kleiner Schraubenschlüssel. Mein alter Kumpel Pudding war ein Meister darin, ein Lucky Luke der alten Schule, ich weiss nicht, was mit ihm geschehen ist. Er läuft mir nicht mehr über den Weg, seit geraumer Zeit schon nicht mehr, Mensch, was ist bloß mit dem guten alten Pudding los..

Pudding, Susanne Eggert, 2007

Ich mag es, im Bus Platz zu nehmen und der Fahrer tut etwas, was ich lange nicht gehört habe: Er pfeift ein Lied. Er pfeift Volare, er pfeift es laut und vernehmlich, er pfeift die Sonne in den Bus. Nächste Station:

Hoffnung.

Ich mag lebenslänglich Klappehalten ohne Bewährung.

Ich mag Flure und Dielen, denn Flure und Dielen sind die Zwischenwelten einjeder Wohnung, es sind die Orte, wo die Ahnen um Mitternacht zusammenkommen und auf die Pauke hauen.

Ich mag Come as you are, die düstere Basslinie, die das Unheil ankündigt, Nirvana, du weißt schon.. Wenn einem in den Neunzigern etwas schlimmes widerfuhr, hatte man automatisch Come as you are im Kopf, die Hymne, das Unglück, die Verschmelzung von schwarzer Magie und Pech an vorderster Front.

Ich mag Schornsteine im Winter, aus denen der weiße Rauch aufsteigt, als habe jedes kleine Haus seinen eigenen Papst gewählt.

Ich mag dieses neue große superleichte Kopfkissen. Wenn ich in darin versinke, habe ich das Gefühl, adieu zu sagen.

Ich mag diesen russischen Gitarrenspieler in der Fußgängerzone, mit dem wir uns eine Weile unterhalten und am Ende sagt er zur Gräfin, „.. so Frau wie du kann man nicht mit Taschenlampe finden!“

Ich mag Gott. Ich weiß nicht, ob Gott existiert. Ich glaube nicht. Aber ich hätte es gern. Ich fände es besser, wenn es Gott gibt. Ich würde mich für einen Mann entscheiden, als Gott. Ein Mann mit kanariengelber Fliege. Keine Frau. Oder doch eine Frau, eine vornehme Frau mit teurem Zobel und ungeduldigen Fingerschnippen, wenn es ihr unten auf der alten Erde wieder einmal zu trödelig vonstatten geht. Zu wenig schick. Ist Gott aber ein Mann, was ich vermute, dann ist Gott Österreicher – ein österreichischer Metzger, 47 Jahre alt, der sein Stammcafe hat und ein gewaltiges Methadonproblem am Hals, er nuschelt ein wenig wie alle Wiener. Keine große Sache.

Gott eben.

Ich mag es, wenn die Gräfin im Dunkeln zu mir ins Bett steigt und den Fleck vom Kopfkissen schnippen will, doch der Fleck erweist sich als hartnäckig, er lässt sich nicht fortwischen, es ist ein sehr heller Fleck, natürlich! es ist das Mondlicht, das durchs Fenster fällt.

Ich mag die Liebe zum Detail, es ist wie ein zartes Hackebeil.

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Ich mag es, der Gräfin vom Einkauf eine Riesenextratüte Salzige Chips mitzubringen, wenn sie ihre Tage hat, Darling, deine Periodenkartoffeln! – logisch, ich meine, welche Frau würde das nicht mögen.

Ich mag es, wenn im Leben plötzlich etwas passiert, wofür man gar nichts kann, das ist schön.

Ich mag Menschen, dieses kurze Winseln im All.

Ich mag Magie, manchmal merke ich nichts davon.

Ich mag mein Zuhause. Männer sind immer nur so gut wie ihr Zuhause. Auch unterwegs, beim Zelten.

Ich mag kalte Wintertage, wenn Kondensstreifen kreuz und quer am eisig blauen Himmel stehen, wie Sirtaki tanzende, aus den Händen gefallene Schreibstifte.

Ich mag Gedanken, die durch den Kopf eilen wie Vagabunden.

Ich mag Menschen, in denen sich die Ruhe der ganzen Welt breit macht.

Ich mag es, wenn die Gräfin beim Sonntgagsspaziergang einmal mehr im Mittelpunkt meiner Öffentlichkeit steht und ich das Notizbuch so oft zücken muss, dass wir in zwanzig Minuten nicht einen Meter vorankommen, nur weil sie stets einen neuen Satz erfindet, den ich mir nicht entgehen lassen kann – beziehungsweise, ich wäre ja schön blöde.

Ich mag es, mitten in der Nacht die Brille aufzusetzen, damit ich was zu sehen kriege im Traum und nicht etwa jemanden grüße, den ich gar nicht kenne, womöglich.

Ich mag Tage, an denen ich an mir herunterschaue und denke, Junge, hast du große Füße heute.

An den Hundstagen mag ich solche Schlagzeilen:

Ich mag Männer im Unterhemd. Sie sind stets auf dem Sprung.

An späten Sommernachmittagen mag ich den Klang alter Propellerflugzeuge, die in dreihundert Metern Höhe träge ihre Runden drehen, weil es keinen Klang gibt, der die Hitze eines späten Sommernachmittags besser ausdrücken könnte.

Ich mag die Tatsache, dass einem die wichtigsten Dinge im Leben stets erst dann klar werden, wenn sie irgendwer beiläufig erwähnt.

Den ganzen Tag vor sich hinsummen, als habe man eine gut bestückte original Wurlitzer-Musikbox verschluckt – kann gut sein, muss nicht. Eine Innenstadt-Taube, die beschwipst durch die Fußgängeroase torkelt wie eine Weinkönigin – knorke, keine Frage. Schummrige Wangen bekommen, nur weil man dieses eine Wort hört, Marrakesch – Klasse. Oder Terpentin.

Gut finde ich auch die Einsamkeit, mit der manche Leute Dinge tun, die andere Leute nicht tun, nicht mal in Gesellschaft. Zum Beispiel: Heimlich ne Wolke essen. Macht satt, sieht gut aus.

Ich mag die Idee, dass das Leben eingeschnappt ist, wenn es ungehuldigt bleibt.

Ich mag es, wenn einem mitten im Pfiff die Luft ausgeht und man noch einmal ansetzen muss, weil einem danach vielleicht der Pfiff der Jahrhunderte gelingt, kann doch sein, wer weiß das schon.

Ich mag es, das Notizbuch eng am Mann zu führen wie in den Jugendtagen den Fußball.

Sachen, die die Gräfin sagt, finde ich per se nicht schlecht. Nein, sie hat keine Angst vor der Zukunft, sagt sie, auch nicht vor der Gegenwart. “Ich hab Angst vor meiner Vergangenheit.” Ich schreibe den Satz auf. Es sind drei Sätze. Was meint sie damit? Ich weiß es nicht genau. Ich frage sie nicht. Sie hat es schon mehrfach gesagt. Lassen wie es doch so stehen.

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Ich mag es, Junkies in der Stadt zu begegnen, das ist immer ein bisschen wie früher auf dem Schulhof, wenn wir Fußballbildchen tauschten. Erstmal zeigen!

Außerdem mag ich: Doppelpunkte. Ein Doppelpunkt hat etwas Militärisches, hat etwas von Krieg, von STILL GESTANDEN! Das ist manchmal nötig, auch wenn es keinem gefällt.

Ich mag Mütter, denen klar geworden ist, dass sie idiotische Söhne in die Welt gesetzt haben, doch was sollen sie tun, die Pille für 20 Jahre danach ist weiterhin nicht in Sicht.

Ich mag es, wenn jemand ein Schoss raus hat, die Hochparterre und die zweite Etage incl. Sonnen-Loggia, es hängt alles reichlich schief im Wind.

Ich mag die große linke Tour, weil kleingedruckt lügen lohnt nicht.

Ich mag Geschichten vom räudigen Leben, der Wucht und dem Nimbus, ich mag Geschichten vom schneidigen Supervogel Pubertät und der alten Krähe Erwachsenwerden.

Ich mag die ewige Suche nach dem angenehmsten Zustand, keine Frage, das Optimum sollte es schon sein, was soll es denn sonst.

Ich mag es, aus dem Schatz zu schöpfen, ohne ihn ganz und gar zu heben.

Ich mag es im Herbst aus der Haustüre zu treten und von einem Geruch empfangen zu werden, als habe ein dicker Hund Gold gefrühstückt und in der Folge mehrfach aufgestoßen.

Ich mag den Anblick 16jähriger Jungs, das blonde Haar auf struppig gegelt. Sie sehen aus, als wären sie eingefroren in einer Windböe.

Ich mag den fröhlichen Friedhof von Sapanta in Rumänien in der Region Maramures, wo auf Grabkreuzen Bildergeschichten an das Leben der Toten erinnern. Die Bilder werden gemalt und geschnitzt, und der Dorf-Schnitzer sagt: „Ich liebe alle Menschen. Die guten und die schlechten.“ So soll es sein. Danke dafür.

 Ich mag den Trommelwirbel in Hound Dog von Presley, ich mag guten alten Rock’n Roll. Ich mag schon seit langer Zeit Curtis Mayfields People get ready in diversen Versionen und bin stolz darauf, dass es die Urversion der Impressions auf Rang 24 der 500 Greatest Songs of All Time geschafft hat, gewählt vom Rolling Stone.

Ich mag es den Hund im Wald auszutricksen, indem ich einen Stöckchenwurf nach links antäusche, den Übersteiger bringe, in falschen Zungen rede und dabei vergesse, was ich dem Hund eigentlich sagen wollte.

Ich mag es eine Dose Bier aufzureissen und eine schöne Frau guckt mir dabei zu.

Was ich nicht mag ist Wohlstand, der macht gehässig, und Pillen, die man einnimmt und ist satt für ein Jahr. (Kommt bald.)

Außerdem mag ich es, so lange wie möglich zu existieren, ohne durchzudrehen.

Und ich mag Sommerpause.

III,64 – hébété … u.a.

III,64 – hébété

Vom Tabaccaio zurück bewegte sich im Windhauch ein leichter Plastikbeutel im Hofeingang, formte und verformte, hob und senkte sich, blieb dann wie ermattet liegen außerhalb des wahrscheinlichen Windkanals. Fünf Minuten vorher war er noch nicht dagewesen. Im Gegenzug ist Siope in der Zwischenzeit verschwunden, der am Nachmittag kurz hintereinander zwei mordshübsche Katzen/Kater eine kurze und sehr distanzierte Gesellschaft leisteten. Die mir zugewandte Hälfte des Platzes ist nunmehr autolos, zur Markierung sind vier Tische rechts und links aufgestellt. Peu a peu trudeln schon mal Leute ein. Vor dem Gang zum Tabaccaio mußte ich dauernd an das Wort “èbete” denken. In meiner Vorstellung drückte es den Zustand aus, in dem ich mich befand: wie weggewischt, vielleicht so wie einer, der Absinth getrunken hat (i.e. zwei Gläschen Ninno-Wein). Suchte andauernd Seiten auf, auf denen man sich T-Shirts selbst gestalten kann, als Motiv wählte ich die jeheimnisvollen Schriftzeichen in der Landschaft der Insel Tsalal (>>>> tsalal 5 (in die Suchmaske dann einfach “tsalal” eingeben, es werden dann sechs Texte in Serie erscheinen), pappte diese Zeichen auf T-Shirts mit kurzen Ärmeln, verwarf alles, verließ die Seite. Zehn Minuten Stirnrunzeln. Dann zum nächsten Anbieter, diesmal mit einem Sweater probiert. Dann mit einem langärmeligen T-Shirt. Immer mit von Unglauben geprägten Pausen. Was sich auszuweiten anfing auf den Film heute abend, den ich wahrscheinlich nicht werde verkraften können (‘Mr. Nobody’), nachdem ich nachgelesen. Und, wie gesagt, dann dieses Wort “èbete”. Klang mir auch recht angenehm. Man hört es nur sehr selten. Und bei so selten gebrauchten Worten lege ich mich manchmal selber rein: es heißt ‘schwachsinnig’, aber vielleicht krieg’ ich’s hingebogen mit einem ‘blöde’ in der alten Bedeutung von ‘schüchtern, ungeschickt’. Das französische ‘hébété’ kommt dem Bedeutungshof allerdings schon sehr viel näher. Fensterzwang jetzt: auf einem Tisch da draußen liegt bereits Essen: zwei Tüten Kartoffelchips. Zu morgenzünftiger Zeit endlich zur Post, dann zum Samstagsmarkt im Chiostro Boccarini: Kartoffeln und mittlerweile versaftete Kirschen. ‘Titanic’ mit Di Caprio wäre auch eine Möglichkeit. War schon immer neugierig auf diesen Film, nachdem ich Nettelbecks schmeichelhafte Besprechung in der ‘Republik’ dazu gelesen.

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II,70 – Fliegenkuß

Eher Ohr jetzt und per Assonanz auch ein bißchen >>>> Ohre. Auch, weil die Anspannung des Tages nicht mehr da ist (3 Texte korrekturgelesen und abgeliefert, Neues kam hinzu, das meiste davon für spätestens den 7. (und fast alles, was ansteht, geht derzeit im Endeffekt nach Bozen), Klavierspiel, Wesseltoft (‘Playing’), Landschaft, die aus dem Gedächtnis entsteht. Gelegentlich diese Nostalgie: meine einstige Fähigkeit, während des Dösens am frühen Nachmittag mich recht plastisch als fliegend zu denken. Flappsig könnte man sagen: Echt in 3D. Die Tanzleute scheinen mittlerweile untereinander warm geworden zu sein, und so führte der Umstand, daß es heute im Gegensatz zu gestern bloß noch sporadisch tröpfelte, dazu, daß man auf dem Platz schon am Nachmittag anfing zu klampfen und dazu zu singen. Auf italienisch. Und hatte somit etwas Typisches: wie oft schon hört’ ich Freundinnen hier irgendwelche Schlager oder Lieder gemeinsam singen (Flashback Spoleto in dem einen Restaurant: „Non voglio mica la luna“). Im Moment dudelt nur irgendwas aus Lautsprechern. Bis der eine Neffe eintrat, zünftig in der Dämmerung mit Sonnenbrille, diesmal ohne Freundin. Hatte wieder mal seinen Schlüssel vergessen, aber den neulich abgeholten noch nicht zurückgebracht. Ob er wirklich Wirtschaft studieren wolle. Er glaube schon. Fliege jetzt, die nicht fliegt, sondern spaziert neben “Ziegenhimmel” und Maus, graue Ahnung auf schwarzer Schreibtischplatte: “Ziegenhimmel, der die Sohlen krümmte / und fast mit Nachdruck schon verhieß: Nichtwissen / und gebrannte Erde.” (Rosselli). Die Selbstausschaltung des Druckers gliedert sich jetzt fast perfekt in den Jazz ein, ein Spinnchen gebärdet sich frei schwebend unter der Schreibtischlampe… Ich werde bald hinuntergehen: Geld ziehen und ein bißchen der Big Band zuhören, die im Chiostro Boccarini spielt. Zu allem Überfluß ist die Spazierfliege mir beim Austrinken des Weinglases auch noch an die Lippen gekommen, in dem sie mittlerweile unbemerkt verendet… P.S. Sie lebt noch.

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III,84 – Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung

Die Oberarmmuskeln anspannen, die Finger an den knapp nach vorn in Brusthöhe geworfenen Händen auseinanderspreizen und verkrampfen, ein paarmal mit den Muskeln zucken: es bedarf solcher Übungen, um sich darauf vorzubereiten, etwas Unwichtiges zu schreiben. Wir sehen gerade durch, und die Gegenstände reihen und ordnen sich von selber. Wie zu Beginn meines mittäglichen Ganges zur Apotheke: eine Jemandin von hier geht vor mir und mir wird das Entgegenkommen der Ukrainerin willkommen, da konnt’ ich dann stehenbleiben und verhindern, die Einheimische, die vom Sehen ich sehr wohl kenne und der ich auch mal gegenübergesessen beim jährlichen Nachbarschaftsessen in der Gossen, im Zeitlupentempo zu überholen, denn ich ging nur ein ganz klein bißchen schneller, weil ich nicht gewußt, was sagen. Wir sehen das Entferntere nicht unmittelbar, sondern durch das Nähere. [Was die Bürgermeisterkanditaten von Rom und Mailand am liebsten lesen… solch ein Betreff jetzt: amazon-Mail]. Kurz, in der Nähe erweist sich die Ferne. Mich der Apotheke nähernd winkt von Ferne dann l’ami belgique, der frische Vater. Komisch, daß wir beide das gleiche Ziel hatten: die Apotheke. Das Entferntere scheint uns nur klein in Vergleichung mit dem Nähern – oder, in so fern wir es uns, wie auf der Fläche eines Gemäldes, eben so nahe wie das Nähere denken; oder es mit dem Nähern gleichsam in eine Reihe stellen. So daß wir, nachdem wir uns einander genähert, in der Apotheke in eine Reihe stellten. Man wolle nächste Woche für drei Wochen nach Belgien fahren: gut, also dann morgen die der Mutter versprochene Teatime. Daher kommt es, daß die Ferne zusammendrängt. Gut, daß er nach der Erledigung in die andere Richtung mußte, ich hatte es eilig, war unter Arbeitsstreß heute. Auch am Zweithandklamottenladen ging ich vorbei. Auch da war ich froh, daß L. zwar in der Tür stand, die linke Hand mit der Zigarette nach draußen haltend, aber sich ansonsten einem Herrn im Innern zuwandte, sonst hätte ich kurz stehenbleiben müssen. Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung immer mehr der bloßen Idee von den Gegenständen; das Gesicht nähert sich immer mehr der Einbildungskraft, je weiter der Gesichtskreis wird. Am Metzgerladen vorbeigehend, wunderte ich mich, daß diesmal keine Porchetta im Schaufenster zu sehen war, schlug dann wie üblich den Panoramaweg ein. Daher sind wir im Stande, uns die Gegend wie ein Gemälde, und das Gemälde wie die Gegend zu denken. Grün indes die Suppe des weit unten stille stehenden Wassers mit dem Namen ‘Rio Grande’ inmitten der Baumreihen. Wir wandeln die Allee hinunter; das Zusammengedrängte erweitert sich, wie wir uns nach und nach ihm nähern; die Wirklichkeit tritt wieder in ihre Rechte. Aber dann wieder die Gasse, die sich scheinbar nach außen wölbenden Mauern. Wo das Auge durch nichts gehindert wird, da sehen wir Wölbung und Fläche. – Und wieder angekommen in der sich kurz wölbenden Erschöpfung wurde vorm Wiedereinstieg ins Wörterproduzieren die Zigarette zum Platzhalter der Nichtlust. Das Höchste, was uns erscheinen kann, ist die Wölbung – über diese kann uns nichts erscheinen; denn die Wölbung ist über allem. – Die sich tatsächlich arg in den Tag hineinwölbte. Aber auch Deutschland und Polen haben hart aneinander gearbeitet. Um es mal so zusammenzufassen. Heute aber ist kein Fußball vorgesehen. Das Kursive gibt vollständig wieder: K. Ph. Moritz, —> Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, in: Magazin für Erfahrungsseelenkunde, Siebenten Bandes drittes Stück, 1789, S. 81 f.

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Motherfucking Nightmare

Ich hatte immer eine Unbekannte, der ich Briefe schrieb. Wie andere eine Muse haben, hatte ich also eine Unbekannte. Anders wie jene, an die man sich bewusst wendet, weil man weiß, wer er sie ist, bleibt die Unbekannte unbekannt, weil man nie wissen wird, ob man es mit derselben Unbekannten zu tun hat. Es gibt keine Hochrechnung des Unbekannten. Unbekannt kann jede sein – und gleichzeitig sind es alle, die man nicht kennt.

Ich habe irgendwo gelesen, dass man Briefe nur an sich selbst schreibt, und Gedichte ja eigentlich auch. Vielleicht weiß man es inzwischen: es ist nicht wahr.

Aus dem Unbekannten, das man beschwört, schält sich hin und wieder ein Gesicht; ich habe es noch nie gesehen, aber ich kenne es gut und vergesse es gleich wieder. Ich versuche stattdessen, Hände wiederzuerkennen, wenn sie mir ein Stück Kuchen reichen oder das Wechselgeld zurückgeben. Aber Hände kenne ich nicht. Ich entdecke alles zum ersten Mal, je vertrauter es mir wird.

Es könnte also vorkommen, dass ich neben einer Unbekannten aufwache und mich nicht wundere, mit ihr vertraut zu sein. Aber wie gesagt: das Vergessen liegt näher. Was bleibt, ist die Erinnerung an etwas, das vermutlich nie geschehen ist.

I still see you without eyes / I still hear you without eyes / I still feel you without eyes / I still hear you without eyes / Cold whore’s hair / Motherfucking nightmare

Chronisch akut

Resümieren klingt immer seltener nach einer guten Ausgangsposition. Diese Unart, eigenes Empfinden und Wahrnehmen andauernd in Relation zu setzen! Kein Recht mehr auf Niedergeschlagenheit, während es anderen doch so viel schlechter geht, vor allem so unmittelbar. Wer traut sich denn noch, anhaltend Verlust zu artikulieren, oder Leid, wenn nebenan in der Welt tausendfach jemand vertrieben, gedemütigt, geschändet wird? Dazu die subcutane Scham, in einer dieser Besitzstandswahrungsgesellschaften zu leben, unablässig in Trance gesurrt von Bildern und Konsum.

Das Chronische kommt gegen das Akute nicht an. Niemals. Jene, die um ihr Überleben kämpfen, scheinen immer mehr im Recht zu sein als jene, die schon ein kalter Regentag depressiv machen kann, oder ein Leben als solches. Subjektiv aufgeladener Schmerz an der Welt ist moralisch nicht mehr tragbar, wirkt narzistisch. Also drückt man’s weg. Dabei hat mich Stillhalten noch nie motiviert, geschweige denn auf neue Ideen gebracht.
Langsame Reduktion auf die moralischen Grundwerte ist wie Marmelade einkochen: duftet unwiderstehlich, während es passiert. Als Belohnung hat man dann Etiketten auf Gläsern.
Marmelade hab’ ich schon immer gehasst.

Stimmengewirr im Kopf, Entfremdung. Werde ich durchscheinender? Egaler? Ich zeige anderen, wie man sich an die große Glocke hängt, helfe ihnen, sich im Spotlight nicht wegzuducken. Da bleibt nicht viel Drang, abends in die Vollen zu gehen. Menschen, die sich zu Scheinwerfern machen, bleiben selbst gerne im Dunkeln.
Höchstens mal ’ne Kerze, wenn’s schön sein soll.

So auf Antiextravaganz festgezurrt. Katalysator:innen müssen nicht kämpfen, nur sein. Sollen die Auserwählten doch den Kampf um Anerkennung im Haifischbecken austragen, die Panikattacken und ihre Narben. Darf eine dennoch trauriger werden und müder, ohne ihr Leben riskiert zu haben – oder zumindest ihre Reputation? Vielleicht ist die Sehnsucht, anderen zu helfen, doch nur Feigheit angesichts der Alternative, aus voller Kraft künstlerische Spuren zu hinterlassen: sein Unwesen zu treiben. Als Aufstand gegen die moralische Diktatur des Wesentlichen.

FALLING FOR LOVE. CONTRAPUNTALLY.

FALLING FOR LOVE. CONTRAPUNTALLY. Gegen korrekte Gefühle und für weibliche Freiheit.

Die Romane Mary Wesleys

 „You can´t insure an emotion, it´s a pleasure like eating or drinking.“

Quelle: https://victoriacorby.wordpress.com/tag/mary-wesley

Worüber sie schrieb: Die Freiheit der Frauen im Krieg. Dass Liebe und Monogamie nicht miteinander identisch sind. Aber Liebe stets wehtut. Schwerer, einen Mann zu ertragen, den eine nicht mehr riechen kann, als einen, der sie schlägt. Mary Wesleys Schreiben kennt keine Korrektheiten des Gefühls. Ihre Protagonistinnen sind treu, obwohl oder gerade weil sie nicht nur einem Mann angehören. Sie gehen stur ihren Weg, einen der weder moderne Selbstverwirklichung sucht, noch Selbstverleugnung notwendig macht. Versprechen, die diese Frauen geben, halten sie. Aber sie geben nicht allzu viele. Sie stammen aus zerrütteten Verhältnissen und sogenannten guten Familien. Verwundete Kinderseelen, die zu Frauen werden, die putzen, kochen, huren, um Geld zu verdienen. Denen die Unterscheidung zwischen Gabe und Tauschhandel zentral bleibt, die das bürgerliche Bewusstsein stets verwischt, indem es die Tauschbeziehungen zu moralischen Schuldverhältnissen auflädt. Die tun, was verlangt wird, aber keine Gefühle heucheln. Die viel schweigen und wenig preisgeben. Geheimnisvolle Schattenexistenzen im Dienstleistungsgewerbe oder im Schein-Scheinwerferlicht des bürgerlichen Lebens.

Mary Wesley veröffentlichte ihren ersten Roman „Jumping the Queue“ mit 71 Jahren. Sie stammte aus der englischen Oberklasse und wurde als Mary Mynors Farmar 1912 geboren. In ihrer Kindheit wurde sie von 16 verschiedenen Gouvernanten betreut. Als sie ihre Mutter einmal fragte, warum die Betreuerinnen so häufig wechselten, antwortete diese: „Weil sie dich alle nicht leiden können.“ Sie hatte Kinder von drei verschiedenen Vätern, einem Baron, einem tschechischen Kriegshelden und mit ihrer großen Liebe, dem versoffenen Schriftsteller Eric Siepmann, den sie kurz nach dem 2. Weltkrieg heiratete. Siepmann starb 1970 und ließ seine Frau völlig mittellos zurück. Erst nach seinem Tod begann Wesley ernsthaft zu schreiben. In den 80er und  90er Jahren veröffentlichte sie kurz hintereinander sieben Romane. (Patrick Marnham hat eine sehr lesenwerte, noch von Wesley selbst autorisierte Biographie geschrieben: Wild Mary. A Life of Mary Wesley, VintageBooks, London 2006)

Man hat Mary Wesleys Romane als „Jane Austen with sex“ bezeichnet, was sie lächerlich fand. Ihre scharfen Beobachtungen erinnern tatsächlich an Jane Austen. Wenig haben jedoch ihre verschachtelten, vielschichtigen Plots, die große Zeiträume abdecken und mehrere simultane Handlungsstränge entwickeln, mit Austens stringenter, zielstrebiger Handlungsführung zu tun. Auch erweist sich Wesley als sehr zurückhaltend, wenn es um die Nutzung der Mittel des auktorialen Erzählens geht. Zwar wechselt sie die personalen Perspektiven, aber sie rückt ihren Figuren nicht auf die Pelle. Sie spiegelt vielmehr deren Zurückscheuen vor Nähe und Selbstrechtfertigung in der Erzählhaltung wieder. Es gibt kaum Sätze nach dem Muster von „Sie dachte…“, „Er hoffte,…“. Wesley lässt die Figuren entweder unmittelbar aussprechen, was sie denken, oder überlässt es den Leserinnen, ihre eigenen Schlüsse aus deren Handlungen zu ziehen. Die Schärfe der Dialoge erinnert dabei bisweilen auch in ihrer fast schon sarkastischen Komik an Ivy Compton-Burnetts Romane. Während sich bei Austen stets der Plot wiederholt (ein paar Familien auf dem Land, Heiratskandidatinnen und –kandidaten, das Finden des „richtigen“ Paars), durchziehen Wesleys Romane, die ganz unterschiedliche Geschichten erzählen, sich wiederholende Motive: zwei Männer und eine Frau, dysfunktionale Familien, unklare Vaterschaft, große Altersunterschiede zwischen Paaren, Inzest, Abtauchen in beinahe unsichtbare, aber selbstständige Existenzformen wie Haushaltshilfen, Putzfrauen, Köchinnen. Wesleys Figuren verhalten sich dabei häufig widersprüchlich, ohne unglaubwürdig zu werden. Es ist möglich einen zu lieben und dennoch einem anderen zu verfallen. Eine kann an etwas glauben und dennoch zur selben Zeit etwas anderes für richtig halten. Mary Wesley hat dieses Denken und Handeln in einem ihrer Roman „contrapuntually“ genannt. Auch und gerade ein Leben, in dem eine sich um Treue (zu sich selbst und ihren Versprechungen) müht, verläuft nicht geradlinig. Wesleys Romane erzählen von der Rücksichtslosigkeit der Jugend, der Trauer und den Verlusten des Älterwerdens, den Veränderungen, die an Menschen und Orten zu beobachten sind, gerade jenen, die wir am meisten geliebt haben.

Durch das vergangene Jahr haben mich die Romane Mary Wesleys begleitet. Ich bin dieser Autorin verfallen, wie nur wenige Male zuvor einer: Jane Austen, Virginia Woolfe, Barbara Pym, Alice Munro. Es ist vielleicht kein Zufall, dass alle diese Autorinnen weiblich sind und in englischer Sprache schreiben. Als der unwiderruflich letzte ihrer Romane von mir „ausgelesen“ war, fiel ich in ein tiefes Loch, fast wie nach dem Ende einer heftigen und verzehrenden Liebesleidenschaft. Erst jetzt, ein halbes Jahr später, habe ich eine Distanz gefunden, die mich über diese Romane schreiben lässt.

Als Appetizer ein paar „Klappentexte“ zu ihren Romanen (die der Vielfalt der Erzählebenen und der Ausgestaltung der verschiedenen Figuren sowie den erzählerischen Verschränkungen zwischen den Romanen keineswegs gerecht werden). Die Links führen jeweils zur E-Book-Ausgabe des Romans:

The Camomille Lawn (1984)

„´That´s were you´re wrong´, said Polly. We all lived intensly. We did things we never would have done otherwise. It was a very happy time.´“

Wesleys erfolgreichster Roman erzählt von den fünf Nichten und Neffen Richard und Helena Cuthbersons, die sich im Sommer 1939, kurz vor dem Beginn des zweiten Weltkriegs, ein letztes Mal bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Cornwall treffen. Erst im Jahre 1980 kommen sie zu einer Beerdigung wieder im Landhaus zusammen. Der Ausbruch des Krieges und das Chaos, das er verursacht, beschleunigen das Erwachsenwerden der jungen Menschen. Oliver ist hoffnungslos in seine Cousine Calypso verliebt. Polly liebt die Zwillingssöhne des lokalen Pastors, der ein deutsch-jüdisches Migrantenpaar aufgenommen hat, dessen Sohn in einem Konzentrationslager verschwunden ist. Sophy, die jüngste, schwärmt für Oliver, der sie kaum beachtet. Die Befreiung aus konventionellen Zwängen geht über Missbrauch, Begehren und Leichen. Die Tante wird sich den deutschen Musiker als Liebhaber nehmen, Polly schwanger werden und nicht wissen, von welchem der Zwillinge, Oliver wird desillusioniert aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurückkehren und Calypso wird sich in den gewalttätigen, reichen Ehemann verlieben, den sie nur um des Geldes willen genommen hat. Am Ende des Romans stehen Calypso und Sophy in der Küche und öffnen eine Flasche Wein. Calypso, die Schöne, „looked quite old but a lot more human since her stroke than the girl on the camomile lawn.“

Harnessing Peacocks (1985)

„´Why do woman always do expect this one-at-a-time business? It makes no sense.´“

In die „Bändigung der Pfauen“ steht Hebe im Mittelpunkt, die als Waise bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Auf Hebes Schwangerschaft reagieren die Großeltern, Onkeln und Tanten mit Empörung und der Organisation einer Abtreibung. Hebe verlässt jedoch vorher ihr Zuhause. Zwölf Jahre später lebt sie allein mit ihrem Sohn Silas im Westen Englands. Um ihrem Sohn den Besuch einer teuren Privatschule zu ermöglichen, arbeitet Hebe als Köchin in privaten Haushalten und schläft, um sich zusätzliche Einnahmen zu verschaffen, mit den Söhnen oder Schwiegersöhnen ihrer Kundinnen. Hebes Privat- und Arbeitsleben sind strikt voneinander getrennt; die Arbeitgeber kennen ihre Adresse nicht, sie vereinbart Löhne und Arbeitszeiten stets nur über eine Agentur mit ihnen. Dieses wohlgeordnete Leben gerät in Gefahr, als sich einer von Hebes Kunden in sie verliebt, ein anderer sich als Vater eines Schulfreundes ihres Sohnes herausstellt und gleichzeitig der leibliche Vater des Sohnes beginnt nach Hebe zu suchen. Die Bändigung der „Pfauen“, jener Männer, die Hebes erotische Dienste gekauft haben, aber glauben, sich mit diesem Deal auch die Realisierung ihrer gefühligen, romantischen Ausbruchsträume aus dem bürgerlichen Leben erworben zu haben, wird für Hebe im Verlauf des Romans immer schwieriger und für die Leserin immer komischer.

„The Vacillations of Poppy Carew“(1986)

„`I was under the delusion that what I wanted was a lover, a pleasure man. I thought I might try Victor or Fergus or both. (…) Stuck under that lorry I realised that it wasn´t just pleasure I wanted, I want the lot. Right?“

In diesem Roman geht es, wie der Titel schon sagt, um die Unentschiedenheit der Poppy Carew. Er beginnt mit dem Tod ihres Vaters, der sich lachend von ihr und dem Leben verabschiedet, als er hört, dass ihr Freund, den er nie leiden konnte, sie verlassen hat. Letzter Wunsch des Vaters war es, dass sie eine „lustige“ (fun) Bestattung für ihn organisieren solle. Sie findet ein seltsames Bestattungsunternehmen mit Pferden und altem Fuhrwerk, dass zwei junge Männer gerade gegründet haben. Es stellt sich heraus, dass ihr Vater ein Vermögen hinterlässt (beim Pferderennen und durch Erbschaften von reichen Liebhaberinnen erworben) und sie ihn kaum gekannt hat. Ihr Ex-Freund versucht sie zurückzugewinnen, um an das Geld zu kommen. Die beiden Bestatter verlieben sich in sie und ein junger, von der Liebe enttäuschter Schriftsteller, der seine Tante Calypso zur Beerdigung begleitet hat, kann Poppy nicht vergessen. Poppy lässt sich von ihrem Ex-Freund entführen, begleitet ihn auf eine Geschäftsreise in ein diktatorisch regiertes Land in Nordafrika, wo sie Zeugin einer Hinrichtung wird. Die meiste Zeit verbringt sie jedoch im Hotelzimmer, während ihr Ex-Freund mit seinem Geschäftpartner Bordelle besucht. Schließlich kommt es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung und Poppy flieht. Der Roman endet mit einem grässlichen Lastwagen-Unfall und einer Entscheidung.

„Not that Sort of Girl“ (1987)

„So you are married boring old Ned and are stuck with him and protect him and mother him and defend him from blackmail.“

Rose liebt den unvermögenden Mylo Cooper, aber heiratet auf Wunsch ihrer Eltern den Landbesitzer Ned Peel. Rose liebt den Mann nicht, aber den Landsitz „The Slepe“, der ihm gehört. 48 Jahre dauert Rose Ehe mit Ned und ihr Verhältnis mit Mylo. Niemand in Rose Umgebung, nicht einmal das bösartige, inzestuöse Geschwisterpaar Emily und Nicolas Thornby, ahnt in all den Jahren, dass die „anständige“ Mrs. Peel stets einen Liebhaber hatte. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter übernehmen nach Neds Tod „The Slepe“ und Rose verlässt den Landsitz mit ganz wenigen Besitztümern. In einem Hotelzimmer erinnert sie sich an die vergangenen Jahre und das Versprechen, das sie Ned in der Hochzeitsnacht gegeben hat: ihn niemals zu verlassen. Mit 67 ist Rose nun frei, aber sie hat keine Ahnung, was sie mit dieser Freiheit anfangen soll.

„Second Fiddle“ (1988)

„There was nothing to build on except imagination.“

Der zwanzigjährige Claude Bannister schmeißt sein Studium hin und beschließt Schriftsteller zu werden. Nach einem Konzert wird er der 45jährigen Laura Thornby vorgestellt. Laura nimmt seine kindlichen Träume ernst, organisiert ihm eine Bleibe, liest seine Entwürfe, lässt sich von ihm anbeten und verführt ihn. Dabei bleibt sie stets reserviert, nimmt seine Liebesschwüre scheinbar ungerührt entgegen. Doch Laura, die bisher immer nur kurze Affären hatte, beginnt Claude zu lieben. Die Lektüre seiner Romanentwürfe zeigt ihr jedoch, dass seine weiblichen Hauptfiguren immer weniger ihrem Bild gleichen, dass sie die „zweite Geige“ wird, und er sich in seiner Imagination längst von ihr zugunsten einer jüngeren Frau verabschiedet hat. Ihr jedoch gelingt es nicht mehr, „to reduce Claude to similar, mangeable size, find a secure cubby-hole for him.“

„A sensible life“ (1990)

„In old age Flora would smile, remembering the child who believed that love was for one person, for ever, for Happy Ever After.“

Mitte der zwanziger Jahre verbringen Mr. und Mrs. Trevelyan mit ihrer zehnjährigen Tochter Flora ihren Urlaub an der bretonischen Küste. Die beiden verbergen weder vor dem Kind noch vor den anderen Urlaubern, dass sie die Tochter am liebsten los werden möchten. Sie planen eine Rückkehr nach Indien ohne das Kind, das sie in irgendeiner bezahlbaren Schule unterzubringen versuchen. Das kleine Mädchen verliebt sich in seiner Verlassenheit gleich in drei Jungen, die ebenfalls an der bretonischen Küste Urlaub machen und die sie in den folgenden Jahren immer einmal wiedersehen wird. Die nächsten sieben Jahre verbringt sie in einem Internat, mit siebzehn soll sie ihre Eltern in Indien besuchen, taucht aber unter und wird Hausmädchen in London. Sie führt ein zurückgezogenes, aber eigenständiges Leben als Hausangestellte und hat über die Jahre mit den drei Jungen aus der Bretagne bei verschiedenen Gelegenheiten Sex.

„A Dubious Legacy“ (1992)

„You can love after only one meeting.“

Das ist einer der düstereren Romane von Mary Wesley. Während des Weltkrieges hat Henry Tillotson eine unaustehliche Frau geheiratet, die er heimbringt nach Cotteshaw in Westengland. Später stellt sich heraus, dass sein Vater ihn in einem Brief gebeten hatte, diese Frau, die in Ägypten festsaß, sicher nach England zu bringen. Sie macht Henry das Leben zur Hölle, verlässt fast nie ihr Schlafzimmer, außer um ihn vor seinen Freunden zu blamieren. Henry verliert jedoch niemals die Geduld. Zwei Paare besuchen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Cotteshaw. Henry hat Affären mit beiden Frauen. Das Thema der Ehe, die um der Sicherheit willen geschlossen wird, durchzieht diesen Roman. Die beiden Paare heiraten aus einer Mischung aus Anziehungskraft, Machtansprüchen und Versorgungswünschen. Beide Frauen werden gleichzeitig (wahrscheinlich von Henry) schwanger.

„An Imaginative Experience“ (1994)

„It´s irrational, it was an obsession. I hated Giles, hated him, hated him; and Christy I loved. But he had Gile´s hair, Gile´s eyes, Gile´s mouth, Gile´s expression, his gestures! He was Giles in miniature. The likeness has grown in my mind until it is monstrous and I cannot see my little boy any more.“

Julia Piper hat Mann und Sohn bei einem Autounfall verloren. Später stellt sich heraus, dass der Ehemann Liebhaber ihrer Mutter war. Julia hat er vergewaltigt und die Schwangere dann in die Ehe gezwungen. Die Mutter gibt Julia die Schuld am Verlust ihres Liebhabers und ihres Enkels. Julia arbeitet als Putzfrau in London. Die Wohnungen putzt sie, wenn ihre Auftrageberinnen nicht anwesend sind, so dass sie fast keine sozialen Kontakte hat. Einer ihrer Kunden, Sylvester Wykees, hat Julia auf einer Zugreise zufällig gesehen, ohne zu ahnen, dass sie seine Wohnung putzt. Er ist fasziniert von ihr und versucht mehr über die junge Frau herauszufinden. Dabei lernt er einen Stalker kennen, der Julia mit nächtlichen Anrufen drangsaliert und bedroht.

„Part of the Furniture“ (1997)

„´Yes, yes, but she knows and he knows it was to repair the old ego when her husband strayed -´´And the husband?´´Oh, I expect he knew, they were all friends.“

Die 17jährige Juno Marlowe ist verliebt in die Brüder Jonty und Francis, bei deren Familie sie und ihre Mutter nach dem Tod des Vaters Unterschlupf gefunden haben. Beide werden zu Beginn des 2. Weltkrieges als Soldaten eingezogen. Zum Abschied haben sie gemeinsam Sex mit Juno, die sie danach einfach in London auf der Straße stehen lassen. Während eines Luftangriffs findet sie Unterschlupf im Haus von Evelyn Copplestone. Dieser stirbt an Herzversagen, als sie während des Angriffs bei ihm ist. Auf sich gestellt reist sie in den Westen Englands zu Evelyns Vater. Dort arbeitet sie als Erntehelferin und entdeckt schließlich, dass sie schwanger ist. Trotz des großen Altersunterschieds verlieben sich Julia und Evelyns Vater. Viele Jahre später trifft sie mit ihrer Familie in einem Restaurant Francis wieder, der sie einst als „part of the furniture“ bezeichnet hatte

***

Nach 1997 veröffentlichte Mary Wesley keinen weiteren Roman mehr. Als sie gefragt wurde, warum sie mit dem Schreiben aufgehört habe, antwortete sie: „If you haven´t got anything to say, don´t say it.“ Zwischen 1984 und 1997 hatte sie mehr zu sagen, als die meisten in einem langen Leben. Oder andersrum: Sie hatte sich die glücklichen und schmerzhaften Erfahrungen eines langen, wilden Lebens aufgespart, um in diesen wenigen Jahren Romane zu schreiben, die die Fülle ganzer Leben nicht ausbreiten, sondern aufscheinen lassen: Frauenleben jenseits von Klischees und Männerphantasien, bürgerlicher Sexualmoral oder ausgestellter Selbstermächtigungsbehauptungen. Jeder ihrer Romane ist auf diese Weise ein Plädoyer für weibliche Freiheit.

Mary Wesley starb am 30. Dezember 2002.

Sprühend vor Leben! ACTs Piano Night: ein Pianistengipfel.

 

Sprühend vor Leben! ACTs Piano Night: ein Pianistengipfel. Leszek Możdżer, Iiro Rantala und Michael Wollny in der Berliner Philharmonie. Jazz at Berlin Philharmonic XIII: am Dienstag, dem 31. Mai 2016.

 

Es hatten sich die dreie wohl geeinigt, den Affen Zucker zu geben, so daß der eines Tages wahrscheinlich legendär werdende Jazz at Berlin Philharmonic-Abend in eine Virtuosen-, ja, –Show, muß man wohl sagen, aus-, muß man sagen, –artete. Das war lustig und bekam die standing ovations, auf die sie auch abzielen sollte. So wird man wohl erst im Nachhören, wenn die Live-CD, hoffentlich bald, vorliegen wird, die musikalische Finesse voll erfassen können, die improvisationskompositorisch auch die als Trio gespielte Zugabe ausgezeichnet hat. Für die Musik selbst wäre es nicht nötig gewesen, fliegend im Flirt-à-trois die Klaviere zu wechseln, auch nicht, daß der eine mit der rechten Hand auf der Klaviatur des anderen mitspielt und dieser mit der linken auf der des ersten- und der dritte springt herbei und übernimmt den Part des zweiten. All sowas macht viel Freude, gehört aber, streng genommen, eher in einen Circus als in den Konzertsaal.
Doch Strenge war nicht angesagt; immerhin galt es, mehr als zweitausend Leute von den Stühlen zu reißen, darunter auch solche, die gewiß nicht zu Stammhörern des Jazz‘ gehörten, sondern sie waren, und hier zu recht, dem unterdessen massenmobilierenden Ruf der Events gefolgt; andererseits saßen im Publikum nur sehr wenig junge Leute, die meisten mochten zur HochZeit des europäischen Jazz jung gewesen sein, in den Sechzigern und Siebzigern also, bis etwa Mitte der Achtziger. Nicht dies, ihre seinerzeitige Jugend, sondern der Umstand selbst ist ein bißchen zu bedauern, daß die jazzguten Zeiten vorüber zu sein scheinen. Dennoch dampfte dieser lebenssprühende Abend kein Fähnlein Nostalgie aus.

Mit seinen virtuos-verspielten, das Konzert witzig einleitenden Improviationen auf Bernsteins Candide-Ouvertüre gab Iiro Rantala die Stimmung und vor allem das Tempo gleich vor, das den subjektiven Eindruck allenfalls einer Konzertstunde vermittelte. Mit Ausnahme von Lars Danielssons Africa aus dem Jahr 2008 und wenigen Passagen in Wollnys Wandererfantasie von 2005/2015, sowie Chris Beiers wunderschönem „White Moon“ (2007 – zwei Weingläser stehen umgekehrt auf den Saiten, die so, angeschlagen, sehr helle und ungefähre Flageoletti miterzeugten; neben Danielssons Komposition mein entschiedenes Lieblingsstück des Abends) – favorisierten Leszek Możdżer, auch Michael Wollny und sowieso Rantala das Presto; sehr innenkonzentrierte Musik, wie sie den späten Jarrett kennzeichnet, war nicht angesagt; ein wenig war‘s, als führte man vor, was man technisch kann – und dem sind allenfalls wenig, wahrscheinlich sogar gar keine Genzen gesetzt. Es wurde also, wie‘s nur geht, brilliert. Dabei wirkten Wollnys Stücke als dramaturgisch am tiefsten durchgehört – enorm ohrendeutlich übrigens der Einfluß des experimentellen Franz Liszts –, zumal er, Wollny, als erster auch den Innenraum der Klaviere nutzte; später tat dies Możdżer gleichfalls, und unversehens befanden wir uns in den verschoben-freien Tonalitäten des präparierten Klaviers und also außerhalb der gängigen Dur-moll-Räume mitten in der, fast muß man sagen: vergangenen Moderne. Das wurde dann besonders reizvoll, wenn die drei in ihren Duos und Trios spielten – eine ganz sicher nicht unbewußte Hommage an Petruccianis „100 Hearts“ von 1984, der dazu, Petrucciani, überdies pfiff:

Ich war mir aber nicht immer sicher, inwieweit sich der wirksame Effekt über die Essenz der Musiken stülpte, besonders bei Wollnys Wanderer, und bei derZugabe sowieso, diesem ausgelassen-hinreißenden Fandango, das Rantala denn auch mit einem clownesk gerufenen Olé beschloß. Daß bei den Soli je die anderen beiden Pianisten nach Flamencoart den Rhythmus klatschten, verwies abermals auf Petrucciani. Indes, vom eigentlichen Programm hängengeblieben – neben den schon genannten Stücken – sind mir besonders Możdżers von Anfang an mit Dissonanzen gleichsam impressionistisch spielendes She said she was a painter von 2013, Komedas allerdings schon fast vierzig Jahre altes Svantetic – vielleicht das konzentrierteste Stück des gesamten Konzertes – und die abschließende Improvisation auf Gershwins Summertime aus Porgy & Bess, bei der die persönlichen Handschriften jedes Pianisten – Rantala etwa betont gravitätisch die Themen – gleichsam in nuce vorgeführt wurden, bevor sie sich ineinandermischten – synkretistisch, nicht eklektizistisch, wie, meines Dafürhaltens nach falsch, das Programmheft behauptet. Richtig ist freilich, daß sich alle drei Pianisten nicht scheuen, das auch nicht sollten, ihre Inspirationen aus jedem Genre herzunehmen, das ihnen unterkommt und -kam. So kann es geschehen, daß ein ästhetisch ziemlich banaler „Song“ wie >>>> John Lennons Just Like Starting over zum Material großer Musik wird; zum Beispiel gestern bei Rantala. Freilich ist so etwas weder neu noch müßte es das sein, sondern war schon in der sogenannten Klassischen Musik gang und gäbe: Man nahm sein Material aus dem V/Folk und nimmt es heutzutage logischerweise aus dem, vor allem, Pop. Es ist geradezu eine liebensspöttische Ironie der Musikgeschichte, daß auf diese Weise selbst Leute wie ich, die den Pop nicht ausstehen können, weil sie das Gefühl haben, man stopfe ihnen permanent Buttercreme in die Ohren, eine abgefeimte Methode „soften“ Folterns – daß also selbst Leute wie ich ihn plötzlich genießen können – und wirklich hinhören können auf das, was gemeint gewesen war. Für mich persönlich ein irrer Gewinn.

Die Reihe Jazz at Berlin Philharmonic begann im Dezember 2012 mit einem Konzert als, erst einmal, Versuchsballon. Und zwar mit eben diesen drei Pianisten:

Kann ein Ballon „einschlagen“? Eigentlich nicht. Dieser tat‘s. Und viele der seitdem beteiligten Jazzmusiker, die allerdings in ihren Heimatländern meist schon bekannt waren, hat er fast unmittelbar nach ihren Berliner Konzerten in den auch internationalen Ruhm getragen. Der des Hauses, eben der Berliner Philharmonie, dürfte daran einigen Anteil haben – und somit daran, daß es um die Wahrnehmung des Jazz offenbar doch nicht so trübe bestellt ist, wie es seit zwei Jahrzehnten aussieht. Dank also an den Intendanten und der Stiftung der Berliner Philharmonie; Dank aber auch an >>> ACT. Das auf neuen Jazz spezialisierte Unternehmen scheint die tragende Rolle übernommen zu haben, die im Europa der Siebziger und Achtziger >>>> ECM innehatte. Möge sich der Erfolg damit messen können!
Wie auch immer, nun jedenfalls holte man die drei Pianisten abermals, um ein der Zahl nach ungewöhnliches Jubiläum zu begehen: Üblicherweise steht die 13 ja eher für Unglück. Wer allerdings die Hintergründe kennt, sieht dies anders. Es war die alte matriachale Jahresmonatszahl (13 x 28); die Christianisierung schlug das ebenso nieder, wie der Teufel seine Hörner bekam, die wiederum für den ab- und zunehmenden Mond standen und damit ebenfalls matriachal kommotiert gewesen sind. Damit machte das Patriachat, den Sexus diffamierend, Schluß. Vielleicht wissen sie es nicht, aber Leszek Możdżer, Iiro Rantala und Michael Wollny haben dem nun, unter überbordendem Jubel des großen philharmonischen Saales, lustvoll etwas entgegengesetzt, es gleichsam, wenn auch nur für diesen Abend, zurückgenommen.
Auch darum sei, wer nicht dabeiwar, betrübt.

JAZZ AT BERLIN PHILHARMONIC XIII
Piano Night

Leszek Możdżer
Michael Wollny
Iiro Rantala

Montag, der 31. Juni 2016

Die bisherigen Konzerte sind als CDs >>>> dort zu beziehen.

Klage

ich habe einen bekannten, der ist ein schwieriger mensch. er passt in keine community, er würde sich wahrscheinlich anpassen, wenn er könnte, aber er kann nicht. seine texte sind gut, aber er ist im herkömmlichen sinne wenig präsentabel. seine ansprüche sind hoch, daran wird er vermutlich scheitern. FUCK KULTURINDUSTRIIE: die selbst dort wirksam ist, wo sie sich als industrie kaum zu erkennen gibt.

Nijmegen

nijmegen_bombardement

In Nijmegen lassen sich, über die Stadt verteilt, aus verschiedenen Anlässen offiziell applizierte Gedichte entdecken. Nicht so viele wie in Leiden, wo über hundert muurgedichten als integraler Bestandteil des öffentlichen Raums fungieren. Aber doch eine erstaunliche Anzahl: die ersten drei fielen uns bei der Anreise mit dem Bus von Emmerich ins Auge. In einem Schaufenster bei einer Bushaltestelle war großflächig die “Route Brandhaarden Bombardement Nijmegen 22 Feb 1944″ annonciert, mit Begehungsplan und drei Gedichten, die auf das Ereignis Bezug nehmen. Die Bombardierung der Stadt, die an die 800 Menschenleben kostete, ging von amerikanischen Lufteinheiten aus, die Nijmegen mit der deutschen Nachbarstadt Kleve verwechselten.

nijmegen_maulwurf

Ein Gedicht von Victor Vroomkoning ist auf einer Wandtafel an der Außenmauer der Stevenskerk anzutreffen. Es stellt den heldenhaften Widerständler “tegen een onmenselijke staat” als nachtaktiven, namen- und gesichtslosen Maulwurf dar, der sich selbst keinesfalls als Held versteht, dieweil er sein Leben für die Freiheit der Stadt einsetzt.

nijmegen_mariken

Mit Mariken van Nieumeghen befaßt sich das Gedicht des Belgiers Louis Paul Boon, der zu den bedeutendsten Autoren niederländischer Sprache der Neuzeit gezählt wird. Mariken ist eine aus dem Mysterienspiel (hier der vollständige Text) bekannte Figur der Stadtgeschichte aus dem frühen 16. Jahrhundert. Nach einer Kränkung, die ihr zuteil wurde, verschreibt sich Mariken dem Teufel und sündigem Lebenswandel. Später findet sie auf den christlichen Weg zurück. Heute stehen gleich zwei Mariken-Skulpturen in der Nijmeger Innenstadt.

nijmegen_spielplatz

“wij willen een handvol kinderen, wijn, en / een speelplaats flink door de zon afgerost” (Gedichtzeilen an einer Spielplatzmauer von Hans Lodeizen)