Archiv der Kategorie: Ausgabe 01/2016

Inhalt 01/2016

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2016 erschien am 11. April 2016.

In dieser Ausgabe:

Hanns Dieter Hüsch und der Niederrhein, Jean Paul und Friedhelm Rathjen, Dr. Dre & Ice Cube, die Liebe als Struktur, Ossama Moham­med und Wiam Simav Bedir­xan, Hyazinthen und Rotmilane, Benzin und Möwen, Hans Castorp versus Gregor Lanmeister, ein Bra, Kiefer und Baselitz, Pillen und Gewaltphantasien, die Wahl der Würmer, Schwäne, Brunnen, Kritteleien und Schwarzwälderkirschtorten … uvm.

INHALT:

Farah Days Tagebuch

Samstag, 2. April 2016

Band, Lind, Tatzel:

Die Wahl der Würmer.
(Wie viele Unterarten es wohl gibt? Keine Ahnung. Alles, was allzu leicht gegoogelt werden kann, langweilt mich.)
Ich mag Würmer, auch glitschige. Mäandernde sowieso.
Menschen, die sich (aus welchen Gründen auch immer) in welche transformen, widern mich allerdings an. Bin gliedmaßenfixiert, schon immer. Mit Betonung auf dem Plural; am Rumpf muss einfach was schlenkern. Zupacken. Sich aufrichten.
Einem Wurm zu sagen er sei einer, da fühlt der sich nicht beleidigt.
So what?!? wird er nur fragen. Mit so einer fieseligen Stimme.
(Wollte das nur mal kurz loswerden.)

Eigentlich will ich übers Vermissen schreiben. Jemand muss eh anfangen, also kann ich’s auch gleich selbst tun. Im Anfangen bin ich gut, Kontinuität ist nicht so meine Stärke.
Grundsätzlich hab’ ich derzeit vergessen, was meine Stärken sind, nur diese eine ist mir noch bewusst, ich kann aus dem Stand loslegen. Brauch’ dazu auch keinen Pfeil. Keine Markierung. Ich fang’ einfach irgendwo an.
Auch beim Schreiben. Ich meine, ein Gedanke oder ein Satz beginnt ja auch willkürlich da oben: Niemand im Gehirn sagt ihm, wo dafür der richtige Platz ist.

Meins wurde kürzlich gescannt. Mein Gehirn, ich hab’ jetzt Aufnahmen davon. Scheint alles in Ordnung zu sein.
Also hat dieses andauernde Brummen in meinem Kopf keine körperliche Ursache, sagte ich zur Ärztin.
Die zog die rechte Braue hoch. Wer soll’s denn sonst machen, wenn nicht Ihr Körper?!
Oh, sagte ich. Natürlich, wie dumm von mir.
(Man muss dazusagen, die Ärztin ist alte Schule und fackelt nicht rum. Seitdem sie weiß, dass ich Künstlerin bin, lässt sie sich freien Lauf.)

Eben ist die Kogge gelandet. So hat LeBlanc ihn getauft. Meinen Tauberich. Weil er so schwer ist.
Die Kogge ist ein prächtiger Vogel und kein bisschen fett.
LeBlanc sieht das anders.
Er denkt, er sei eine Meise, spottet er.
Wie kommst du denn darauf?
Na, weil er sich immer auf die dünnsten Ästchen deiner Birke niederlassen will, die, auf denen die Meisen sitzen. Natürlich halten die Ästchen sein Gewicht nicht aus, aber er versucht es immer wieder.
Er glaubt, er sei schlank und grazil, sage ich, ein hübsches Ding, das überall landen kann. Er versucht es immer wieder, weil er gar nicht weiß, dass es ein Versuch ist! Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit.
Tja, sagt LeBlanc.

Ich frage mich, womit man die bessere Landung erzielt: mit dem Bewusstsein, dass man etwas riskiert, oder mit dem, dass eh klar ist, dass man gut landen wird.

(Vertrauen.
Ich vermisse Vertrauen.
In mich.
Anderen vertraue ich grundsätzlich und lande prima damit.)

Gestern, zum ersten Mal seit Monaten, lief ich wieder durch meinen Park, mehr oder weniger mühelos. Erstaunlich leichtfüßige acht Kilometer, eigentlich, in Anbetracht dessen, was ich vermisse. Morgen werden es schon wieder zehn sein.
Kraft ist reichlich vorhanden. Dreimal in der Woche stemme ich mich gegen die Eisen, mein genialer Coach bellt mich zu Höchstleistungen.
Für die dünnen Ästchen bin ich dennoch zu schwer.
Ich bin so verdammt hungrig.
Wenn der edle Lebenshunger nicht gestillt werden kann, schalten die Synapsen bei mir auf primitiv: Essen hilft, viel essen hilft mehr.
(Komisch, dass man Bissen wiederholen muss, ist doch immer der gleiche Geschmack(?!) Wie oft muss dieses Aha-Signal im Hirn ankommen, bis etwas sagt, man könne jetzt aufhören zu essen? Bei mir passiert erst einmal gar nichts, nachdem ich das Gericht erkannt und gewürdigt habe,
dafür brauch’ ich eh nur einen Bissen.
Esse dann weiter, bis ich satt bin. Immer noch kein Signal. Also weiter, bis nichts mehr auf dem Teller ist. Signal manchmal immer noch keines, also neuer Teller. Erst, wenn etwas einsetzt, das ich Betäubung nennen würde, leg’ ich die Gabel weg.
Ich sag‘ ja – Einfachmodus.
Muss wieder aufhören mit dem Taubessen. Zu psycho. Nur richtige Tauben kommen damit zurecht.)

Also, mein Gehirn ist in Ordnung, ich hab’s offiziell auf CD.
Kostenfreies Patienten-Exemplar, für Kopien wird eine Gebühr erhoben.
Steht drauf.
Kein Leck, kein Tumor, kein gar nichts. Ein prima Gehirn. Kann sein, es braucht einfach ein paar Tropfen imaginäres Öl, damit das Brummen aufhört.
Vielleicht aber auch etwas ganz anderes.

19/16-Soleur//Materialien


Ein Arbeitsheft: 27.2.16, Nachtrag vom 7. 1. 2016 // Protokoll // Gefäss, Raum, Ausdehnung, Geschehnis, Geheimnis, Prozess, Entschlüsselung; Koordinaten, Rhythmus, Bedingtheit; materielle Strukturen, Ordnungen, Wiederholung und Variationen. Paläste und Gärten // Fortsetzung und steter Anfang: Regen fiel. Mit dem Schnee webte er einen feinen Eisschneeschleier über die Landschaft. Die Hügel blieben fern. Die Stimmen. Die Möwen. Die Luft vibrierte. Zwischen hohen Gräsern glitt der Tag mit den Schwänen in die Dämmerung. Die Lichter leuchteten. Die Sprache, zögerlich, besorgt um jedes Wort, das nicht in das Stückwerk der Stunden passte. Die Gedanken trieben auseinander. Eine Ahnungen von Frühling. Das Notieren im Gehen war in dieser Kälte nicht möglich. Kleine Splitter nieselten über die Hände und Wangen. Niemand spazierte dem Ufer entlang. Die Möwen riefen. Die Stille schwieg. Die Gedanken verfielen. Im Zustand des Träumens zog ich mit den Schwänen zum andren Ufer. Das Bild sollte zeitlos bleiben. Das Wort. Im Augenblick des Zusammentreffens und Überschneidens beider, geschahen die Geheimnisse.

portato via …

portato via
dal pozzo davanti
alla porta
(vom brunnen vor
dem tor)
grosso come cor
fattosi pietra
– all’ombra del tiglio –
a srotolare
ciottolino ciottolone
“kümmerli- kümmerliweis”
miser in fondo al
miser tu dici ruscell’

mondo foresto : entrasti
mondo foresto : non n’uscisti
(kein schöner land …)

Emmerich (2)

emmerich_eimerich
Emmerichs Name soll auf eine Villa Embrici zurückgehen. Das Stadtwappen ziert ein Eimer. Emmerichs Historiker rätseln bis heute über seine Bedeutung. Fünf Erklärungsansätze gebe es, hörten wir, doch keiner davon sei wissenschaftlich haltbar. Am ehesten wahrscheinlich sei die Erklärung, daß der Eimer es als Hochwasser-Schöpfgerät ins Stadtwappen gebracht habe, im Grunde liege die Verbindung zwischen Eimer und Stadt jedoch im Unklaren. Auf die Frage, wie die lokale Aussprache für Eimer laute, bekamen wir zur Antwort: “Emmer”.

emmerich_schlemmerich
Dementsprechend, lautet unser gänzlich unwissenschaftlicher Blitzgedanke, könnte Emmerich von Eimer abgeleitet sein, mithin eigentlich Eimerich bedeuten, das Ich und den Eimer als Wortbestandteile verknüpfend, die den existentiellen Kampf des Individuums mit seinem wasserfassenden Werkzeug gegen den übermächtigen Gottvater Rhein repräsentieren oder die Selbsterkenntnis, die auf dem Grund eines mit Wasser gefüllten Eimers liegen mag, der die weiten niederrheinischen Himmel und darin das Gesicht des Betrachters spiegelt. Solche Gedanken werden in Emmerich jedoch nicht gepflegt – vielleicht nicht zuletzt, weil gängige Claims der vom Tourismus profitierenden Branchen bei stärkerer Eimergewichtung in unerwünschte Richtungen kippen könnten.

emmerich_glück_hüsch
Mit dem Wesen des Niederrheiners (“weiß nix, kann aber alles erklären”) hat sich wie kaum ein anderer der im Jahre 2005 verstorbene Kabarettist Hanns Dieter Hüsch befaßt. In Emmerich klebt sein Foto in mehreren Schaufenstern. Falls wir die Bildmotive richtig interpretieren, dürften sie bedeuten: “Hier kaufte Hüsch etwas ein” oder “Hier hat Hüsch sich die Auslage angeschaut”. Hüschs Gedicht “Glück ist ein Geschenk”, in dem Gottes Feriendomizil in der Gegend erwähnt wird, ist hingegen unmißverständlich in die Uferpromenade eingelassen.

 

zur Kritik

Kritik im Sinne eines akademischen oder feuilletonistischen Krittelns kümmert mich herzlich wenig. Sie wendet sich ihrem Gegenstand nicht zu, sondern neigt sich, in ihrem Selbstvertändnis, und nur da, zu ihm hinab, hält sich für klüger.Sie ist keine Kritik, weil sie ihre Ausgangsposition nicht verlässt.

Dass heisst nicht, dass Kritik ihren Gegenstand nicht überschreiten darf. Die Fähigkeit dazuu aber hat sie nicht, sondern gewinnt sie in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Kritik, wie ich sie verstehe, heißt Verstehen zu lernen. Sie verändert das Werk nicht, sie verändert den Kritiker.

(Gut und Schlecht sind tölpelhafte Kategorien)

Du Kunst Mich Mal Folge IV


Wir waren in China! Dort haben wir die Unterschiede zwischen fernöstlichen und einheimischen Schwarzwälderkirschtorten vermessen und andere bahnbrechende Kultur-Experimente veranstaltet, um dem Phänomen der Fremde nah zu kommen. Nicht so nah, als dass man uns mit gebratenem Reis verwechseln könnte, aber doch nah genug, um bereits erste körperliche Anzeichen einer Chinarisierung zu zeigen. Oben sieht man das Beweisfoto. Ob das nun gut oder schlecht ist, darf auf keinen Fall montags beurteilt werden, wenngleich Aufmärsche zur Abwehr derselben wohl vorerst nicht zu befürchten sind.
Wer nun denkt, das seien Klischees, der hat vielleicht recht, ist aber zu beglückwünschen, da er überhaupt was gedacht hat. Wir bewundern Denker in jeglicher Form, vor allem die, die vorher denken und dann sprechen, die nur noch getoppt werden von denen, die nur denken und gar nicht sprechen. Auch das eine Lehre, die wir aus unserer Reise in das fernöstliche Land der unendlichen Weisheit gezogen haben.
Wir selbst sind eindeutig noch nicht so weit selbst diesen Pfad zu beschreiten. Noch zu stark ist unser abendländischer Drang zur Mitteilung in jeglicher Form. Eine Form ist unser nächster Film, den wir ganz unchinesisch unbescheiden großposaunig ankündigen und hiermit zum Ansehen empfehlen.
Wie immer ist der Film auf unserem Youtube-Kanal zu sehen, wo wir beharrlich gegen den Strom schwimmen, um wenn möglich auf der anderen Seite anzukommen, die vorher noch kein Mensch betrat..

#MarianneBlum #GuidoRohm #DuKunstMichMal #ChinafürKulturidioten #Stäbchensprung #UnsinnaufReisen

Kamera: Arthur Blum, Dennis Steib
Schnitt: Arthur Blum
Tontechnik: Lean Jöckel
Wir danken: Marina Gajda und ihrem unmöglichen Hund
Wir empfehlen aus vollstem Herzen das Peking Restaurant im CineStar, Löherstrasse 39, Fulda

Samuel Beckett, die Dortmunder Nordstadt, das Bier und die Frauen

Die Verbindung zwischen Samuel Beckett, dem Dortmunder Bier und der Linienstraße in der Dortmunder Nordstadt gehört sicherlich weder zum Grundwissen von Literaturwissenschaftlern noch von Braumeistern – und doch gibt es diese Verbindung! „Dortmunder“, eines der Gedichte des 1935 in Paris erschienenen Bandes „Echo’s Bones“[i], sei jedenfalls, so Samuel Beckett selbst, unter dem Einfluss von Dortmunder Bier entstanden. Zwischen 1928 und Anfang 1930 unternahm Beckett mehrere Reisen von Paris nach Kassel[ii], in Dortmund musste er auf der Hin- und Rückfahrt jeweils umsteigen. Der Hauptgrund seiner Reisen war seine Cousine Peggy Sinclair, in die er sich 1928 in Dublin verliebt hatte und die nun mit ihren Eltern, die dort einen Kunsthandel betrieben, in Kassel lebte. Beckett begann also eifrig Deutsch zu lernen und machte sich auf den Weg.

Samuel Beckett

Stellen wir uns einen jungen Iren Anfang zwanzig vor, der Ende der 1920er Jahre am Dortmunder Hauptbahnhof aus dem Zug steigt. Er ist etwas müde und hat nun eine ganze Weile Aufenthalt bis zur Abfahrt seines Anschlusszuges. Warum also, wird er sich gleich beim ersten Mal gedacht haben, nicht mal das hiesige Bier probieren und sich die Stadt ansehen. Eine Offenbarung war ihm Dortmund aber wohl nicht, denn er ist seit kurzem Englisch-Lektor an der École Normale Supérieure in der Weltstadt Paris. Ende Oktober 1928 war er dort eingetroffen und hatte sich schnell das Ausgehen und vor allem das Trinken angewöhnt, wobei der Alkohol, so der Beckett-Kenner Friedhelm Rathjen, nicht zuletzt die Funktion hatte, seine Scheu im Umgang mit Menschen, die er nicht gut kennt, zu überspielen.[iii] Beckett jedenfalls mag das Derbe und das Bodenständige, Bars und Kneipen und überhaupt die einfachen Lustbarkeiten, die er schon als Student in Dublin durchaus nicht verachtete, während er in seiner Schulzeit noch abstinent gelebt hatte, ganz noch im Sinne seiner streng protestantischen Mutter, die jede Form der Ausschweifung als Sünde ablehnte.

Samuel Beckett ist aber durchaus nicht der einzige Schriftsteller der Literaturgeschichte, der mitunter der berauschenden Wirkung des Bieres eine Idee, ein Gedicht oder gleich ganze Romane verdankt. Johann Paul Friedrich Richter, genannt Jean Paul und einer der berühmtesten Zeitgenossen Goethes, wählte sogar seinen Wohnort nach der Qualität des Bieres aus. Aber der gute Jean Paul trank nicht (nur) um des Vergnügens willen, sondern brachte sich ganz bewusst in eine ganz bestimmte Schreibstimmung. Und auch ihm verwandelte sich die Welt im Bierrausch, schrieb er doch in einem Brief im Jahre 1803: „Ich kenne keinen Gaumen-, nur Gehirnkitzel; und steigt mir eine Sache nicht in den Kopf, so soll sie auch nicht in die Blase“.[iv] Über das Berliner Bier wusste er übrigens nichts Gutes zu berichten, denn dies fehle dort ebenso wie die Berge.[v]

Doch zurück zu Samuel Beckett und seinem Gedicht „Dortmunder“. Der junge Schriftsteller ist also schwer verliebt und nicht minder verwirrt, denn seine Cousine Peggy hatte kess und nicht im mindesten schüchtern sexuell die Initiative ergriffen[vi]. Da lag es nahe, sich bei jeder Gelegenheit, bei der Frauen eine Rolle spielten, ordentlich Mut anzutrinken. Doch das Trinken ist für Beckett mitunter noch immer eine zwiespältige Angelegenheit, handelt er so doch all den protestantischen Prinzipien seiner Mutter entgegen. Das Bier und das Trinken als einer Sünde spielt auch in Becketts Romanen nicht selten eine Rolle, etwa in „Molloy“ (1951). Einer der beiden Protagonisten, Jacques Moran, ist ziemlich versessen darauf, immer Bier und am besten Pilsener im Haus zu haben. Aber auch er fragt sich, ob es nicht etwa doch Sünde ist, Bier zu trinken? Würde er zum Beispiel die Heilige Kommunion, den Leib Christi empfangen dürfen, wenn er einen Krug Pilsener intus hatte? Nun, der Priester würde nicht danach fragen, aber Gott würde es früher oder später erfahren, so überlegt er, doch vielleicht würde er ihm verzeihen. Aber hatte das Abendmal, wenn es auf Bier genommen wurde, überhaupt die gleiche Wirkung? Moran beschließt zunächst einmal, auf dem Weg zum Pfarrhaus ein paar Pfefferminztabletten zu lutschen.[vii] Am Ende kommt er dann zu der Erkenntnis, dass der Pater, wenn er um den Biergenuss weiß und ihn trotzdem kommunizieren lässt, aus dem gleichen Grunde sündigte wie er. Wenn es denn, die Frage bleibt, überhaupt eine Sünde ist![viii]

Samuel Beckett zieht also mindestens einmal, vermutlich aber doch bei mehreren Zwischenaufenthalten, durch die Kneipen und Tanzdielen der Dortmunder Nordstadt[ix], wo die Sünde quasi zuhause ist. Er trinkt natürlich einiges von dem guten Dortmunder Bier, bis er die ganze Welt buchstäblich in einem neuen Licht sieht und sie sich ihm ganz und gar verwandelt. Dementsprechend beginnt auch das aus diesem Erlebnis resultierende Gedicht „Dortmunder“ mit der Zeile Im Zauber das homerische Zwielicht / In the magic the Homer dusk. Zuvor wird er wohl in der „Roten Mühle“ im Fredenbaum-Vergnügungspark gewesen sein (nach dem roten Turm der Zuflucht / past the red spire of sanctuary), dann aber hat es ihn in die Linienstraße im Bordellbezirk am Steinplatz/obere Münsterstraße verschlagen, wo immer auch einige besserbetuchte Herren aus den bürgerlichen Vierteln der nahen Innenstadt ihr Vergnügen suchen. Im Gedicht heißt es:

hastend zu der violetten Lampe zur schwachen K’in Musik der Puffmutter  / hasten to the violet lamp to the thin K’in music of the bawd

Die Aussage Becketts, das Dortmunder Bier sei quasi mitverantwortlich für die Entstehung des Gedichts, ist also mehr als plausibel, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein stocknüchterner junger Mann im Bordell landet, ist im allgemeinen wohl eher ziemlich gering. Er geht also, die Hände tief in die Hosentaschen versenkt und mit gespielter Lässigkeit, durch die Linienstraße mit seinen erleuchteten Fenstern, wo die Huren ihre Dienste anbieten und sich in all ihrer Pracht und Verruchtheit präsentierten. Würde er den Mut haben, den Einflüsterungen einer der Schönen zu folgen? Denkbar, dass er eine Weile zögerte, ob er denn, weil er ja schließlich in Peggy verliebt ist, solch ein Haus überhaupt betreten durfte. Wäre das nicht eine wirklich schlimme Sünde, gar nicht zu vergleichen mit einem Bierrausch! In seinem im Sommer 1932 geschriebenen (und erst 1993 aus dem Nachlass heraus veröffentlichten) Roman „Traum von mehr bis minder schönen Frauen“ denkt der Protagonist Belacqua darüber nach, ob es denn statthaft und erlaubt sei, als verliebter Mann dennoch ein Bordell zu besuchen. Es heißt dort: „(…) wieso hätte denn eine vernünftige Bordellbenutzung (…) auch nur den geringsten Frevel darstellen können gegen die Empfindung, die er für seine ferne Blume – Licht, Melodie, Duft, Fleisch und Umarmung seines inneren Menschen – hegte? Aber: der innere Mensch, sein Hunger, seine Finsternis, sein Schweigen, blieb das alles gänzlich außerhalb des Bordells, nahm es an dem zwielichtigen Verkehr des Bordells gar nicht teil? Es blieb nicht, und es nahm teil. Noch einmal: Es blieb nicht, und es nahm teil.“[x] Ähnliche Gedanken wird der Autor des Romans wenige Jahre zuvor in der Dortmunder Linienstraße gehabt haben, schwankend zwischen Rausch und Lust auf der einen und anerzogenen moralischen Bedenken auf der anderen Seite.

Er geht also die Straße rauf und wieder runter, immer hin und her, nichtig fühlt er sich, während das „königliche Wrack“ (Ich nichtig sie königliches Wrack / I null she royal hulk) ihn weiterhin lockt mit ihrer Glut:

Sie steht vor mir im hellen Stall
hält hoch den Jadesplitter
das vernarbte Jungfernhäutchen stiller Reinheit
die Augen die Augen schwarz bis zum östlichen Gefilde
sollen lösen der langen Nacht Phrase.

She stands before me in the bright stall
sustaining the jade splinters
the scarred signaculum of purity quiet
the eyes the eyes black till the plagal east
shall resolve the long night phrase.

Am Ende dann tut er den Schritt und betritt das Haus der Sünde, hin zum Licht, hin zur ewigen Lockung des Weibes. Damit endet der Lautengesang des Gedichts:

Dann, gleich einer Schrift, aufgerollt,
und die Herrlichkeit ihrer Auflösung erhöhend
in mir, Habbakuk, Feldherr aller Sünder.
Schopenhauer ist tot, die Puffmutter
legt ihre Laute beiseite.

Then, as a scroll, folded,
and the glory of her dissolution enlarged
in me, Habbakuk, mard of all sinners.
Schopenhauer is dead, the bawd
puts her lute away.

__________________________________________

[i] Echo’s Bones and Other Precipitates. Europa Press, Paris 1935. [Echos Knochen/Gebeine und andere Sturzgeburten] Siehe dazu: Dougald McMillan III: Echo’s Bones: Ausgangspunkt für Beckett. In: Hartmut Engelhardt (Hg.): Samuel Beckett. Frankfurt am Main 1984 (st 2044). S.29-56.

[ii] Siehe dazu: Deidre Bair: Samuel Beckett. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1994 (rororo 12850). Kapitel III bis V.

[iii] Friedhelm Rathjen: Samuel Beckett. Reinbek bei Hamburg 2006. (rororo monographie rm 50678) S.22.

[iv] „Bier, Bier, Bier, wie es auch komme. Jean Paul und das Bier. Zusammengestellt von Wolfgang Hörner. Wehrhahn Verlag, Hannover 2006. S.50.

[v] „Bier, Bier, Bier, wie es auch komme. Jean Paul und das Bier. Zusammengestellt von Wolfgang Hörner. Wehrhahn Verlag, Hannover 2006. S.46.

[vi] James Knowlson: Samuel Beckett. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2001. S.148.

[vii] Samuel Beckett: Molloy. Frankfurt am Main 1995 (st 2406). S.134.

[viii] Samuel Beckett: Molloy. Frankfurt am Main 1995 (st 2406). S.140.

[ix] Siehe dazu: Geschichtswerkstatt Dortmund e.V.: „Den Gelegenheitstänzen ist besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden“. Tanz mit Musik in der 20er Jahren. In: Stadt Dortmund, Kulturbüro u.a.: Nordstadtbilder. Essen 1989. S.166-170.

[x] Samuel Beckett: Traum von mehr bis minder schönen Frauen. Frankfurt am Main 1998. (st 2883) S.56-57.

______________________________________

Samuel Beckett

DORTMUNDER
In the magic the Homer dusk
past the red spire of sanctuary
I null she royal hulk
hasten to the violet lamp to the thin K’in music of the bawd.

She stands before me in the bright stall
sustaining the jade splinters
the scarred signaculum of purity quiet
the eyes the eyes black till the plagal east
shall resolve the long night phrase.
Then, as a scroll, folded,
and the glory of her dissolution enlarged
in me, Habbakuk, mard of all sinners.
Schopenhauer is dead, the bawd
puts her lute away.

Samuel Beckett

DORTMUNDER
Im Zauber das homerische Zwielicht
nach dem roten Turm der Zuflucht
Ich nichtig sie königliches Wrack
hastend zu der violetten Lampe zur schwachen K’in Musik der Puffmutter.

Sie steht vor mir im hellen Stall
hält hoch den Jadesplitter
das vernarbte Jungfernhäutchen stiller Reinheit
die Augen die Augen schwarz bis zum östlichen Gefilde
sollen lösen der langen Nacht Phrase.
Dann, gleich einer Schrift, aufgerollt,
und die Herrlichkeit ihrer Auflösung erhöhend
in mir, Habbakuk, Feldherr aller Sünder.
Schopenhauer ist tot, die Puffmutter
legt ihre Laute beiseite.

Übersetzung: Norbert W. Schlinkert

2 übungen

übung in s/z

0

liebe als struktur

daten als passion

konzept als text

als als als

 

1

als als als

alz als als

alz alz als

alz alz alz

als alz alz

als als alz

als alz als

alz als alz

 

2

als als als 1

alz als als 2

alz alz als 3

alz alz alz 4

als alz alz 5

als als alz 6

als alz als 7

alz als alz 8

 

3

alz als alz 8

als als als 1

alz als als 2

alz alz als 3

alz alz alz 4

als alz alz 5

als als alz 6

als alz als 7

 

4

als s s

als z z

als z s

als s z

alz s s

alz z z

alz z s

alz s z

 

5

s s s 1

s z z 2

s z s 3

s s z 4

z s s 5

z z z 6

z z s 7

z s z 8

 

6

1 2 3 … 7 …

2 3 4 … 5

3 4 5 … 2

4 5 6 … 3

5 6 7 … 8

6 7 8 … 1

7 8 1 … 4

8 1 2 … 6

 

7

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8

2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 1

3, 4, 5, 6, 7, 8, 1, 2

…

7, 5, 2, 3, 8, 1, 4, 6

…

7a

1,2,3,4,5,6,7,8

2,3,4,5,6,7,8,1

3,4,5,6,7,8,1,2

7,5,2,3,8,1,4,6

 

8

12345678

23456781

34567812

75238146

 

9

 

10

787 523 814

6

 

übung in anklang

 

2

 

hodler

halter

mittler

haller

heller

kittler

 

sattler

widmer

stifter

basler

tifner

hefter

 

helfer

kufner

ittner

auler

gigler

tittler

 

wegner

weigner

wagner

wikler

wickler

sackler

 

mockler

metzler

hötzer

stiefner

drucker

drechsler

 

binzer

panzer

hinzer

kreutner

patner

hitzer

 

1

 

 

ein junge und seine leh­re­rin

2

sierra : 5.14 – In dem Doku­men­tar­film Selbst­por­trait Syrien von Ossama Moham­med und Wiam Simav Bedir­xan spa­ziert die kur­di­sche Künst­le­rin Wiam Simav Bedir­xan mit einem Jun­gen, den sie filmt, durch die bela­gerte Stadt Homs. Der Junge hüpft herum, wie es Kin­der tun, ent­deckt Blät­ter, die seine Mut­ter viel­leicht kochen könnte, und vor einer Häu­ser­wand eine rote Blume, die der Junge pflückt. Im Hin­ter­grund sind Deto­na­tio­nen zu hören, auch Vogel­stim­men. Als der Junge einen Platz erreicht, an wel­chen sich eine brei­tere Straße anschließt, fragt er die Leh­re­rin, wie sie wei­ter­ge­hen wer­den. Die Leh­re­rin sagt: Wie Du willst. Und der Junge hüpft voran, er nimmt eine Treppe, er sagt: Da vorne ist ein Hecken­schütze. Also will er dort nicht gehen, weil er weiß, was ein Hecken­schütze ist. Wenige Minu­ten spä­ter errei­chen die Leh­re­rin und der Junge eine wei­tere Straße, die sie über­que­ren wol­len. Es ist viel­leicht ein Ort, an dem schon viele Men­schen zuvor erschos­sen wur­den. Die Leh­re­rin ruft: Lauf! Ich sehe wie der Junge sehr schnell über die Straße springt, bis er den Schutz eines gegen­über­lie­gen­den Hau­ses erreicht, kurz dar­auf beschleu­nigt auch die Leh­re­rin ihre Schritte, das Bild hüpft auf und ab. Ich schloss in die­sem Moment die Augen, als ich sie wie­der öff­nete war eine Foto­gra­fie zweier Mäd­chen zu sehen, die in einen Foto­ap­pa­rat lach­ten, auf einer wei­te­ren Foto­gra­fie, die wenige Tage spä­ter auf­ge­nom­men wurde, lie­gen sie in sma­ragd­grü­nen Kleid­chen neben­ein­an­der auf den Boden und sind tot. Ich bin müde, ich muss bald prü­fen, ob ich erin­nert habe wie es war. – stop

drohne20