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ich spüre grenzen, wo du keine hast
und wo ich hinrühr, bist du längst gewesen
- von Phyllis Kiehl
in Tainted Talents
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ich spüre grenzen, wo du keine hast
und wo ich hinrühr, bist du längst gewesen

mein körper speichert echos: wusste ich und hab es unterschätzt.
er sagt, so einfach ist es nicht, du kannst nicht eine fremde hand
durch eine fremdere ersetzen. für beide zahlst du schließlich
und wenn die neuste dir über deine arme fährt (»ein-
atmen. ja, da.«), finger in deine misst, anweisung gibt
dann rufe ich was ab: bekannt ist nicht korrekt
vertraut ist nicht bekannt, ich schicke salz als reaktion
du zahlst mit allem, was du an kontrolle hast, und deinen
atem lass ich nicht in ruhe. so rachsüchtig wie ich
kannst du nicht sein, verscheuchst uns, was ich
brauchte, weil du glaubtest, mehr sei angemessen
nun hat die herde an gelegenheiten ein gerissnes
schaf im plus zu hüten, schick ich neue hunde
in deinen kreislauf morgens. bin eine höhle
hier bin ich, lern mit meinen echos rechnen.
Katharina Schultens
aus: »untoter schwan«
© 2017 kookbooks
••• Man könnte meinen, hier würden nur noch Geburten und Todesfälleannonciert. Tatsächlich habe ich schon überlegt, hier den Schlüssel umzudrehen wegen des anderen Schlüssels, dem »in meinem Rücken«.
ich habe nichts mehr übrig an weichheit über das hinaus
was ich an weichheit für dich habe und für mein kind.
schon meine mutter kommt zu kurz, ihr herz stockt.
Hat alles so seine Zeit.
Und dann erwähnte ANH nebenan kürzlich Katharina Schultens. Das Buch kam, eine Zugreise stand an gestern, und wenn man auf Reisen geht, kann einem schon was widerfahren …
Es gibt ja Texte, die gehen uns einfach nicht an. Auf diesem Berg landet sicher das meiste. Ab und an begegnet man einem Gedicht, das man interessant findet. Selten, dass ein Vers uns wirklich berührt, auf der nackten Haut gewissermaßen. Und dann gibt es noch jene wirklich raren Exemplare, die poetischen Ausnahmemomente, wenn es nicht einfach Berührung ist, sondern der Vers uns trifft, in uns eindringt, uns durch-dringt. Das sind jene Verse, die man sich notiert und bei sich trägt, oder die man sich gar nicht zu notieren braucht, weil man sie sofort auswendig oder ‐ wie man dafür im Hebräischen sagt ‐ im Herzen weiß.
!bis gleich sagt mein herz es sagt immer bis gleich es meint immer bis dann es sagt niemandem jemals bis wann
Als unbedarfter Leser darf man sich dann zurücklehnen oder meinetwegen auch hintenüber in Ohnmacht fallen und sich so der Gewalt des Augenblicks hingeben. Dichter dürfen das dammich nicht ‐ oder können gar nicht. Das ist das Salieri-Ohr. Warum blutet das jetzt? will man wissen. Das Unerhörte daran ist ja, dass wir dafür nicht gemacht sind, dass uns die Klinge so widerstandslos ins Fleisch geht. Hypnotiseure wissen das. Man muss unser Bewusstsein ablenken, damit die Schutzwälle fallen und ein Wort, das imstande ist, wirklich etwas in uns an- oder gar umzustoßen, überhaupt zu uns durchdringen kann. Das ist die Kunst, meinetwegen auch bardisches Handwerk: Rhythmus, Klang, die Musik des Textes, auch sein Bild, wie die Buchstaben tanzen, die Zeilen fließen.
Das Handwerk zielt auf Resonanz. Denke an Brücken, die unterm Gleichschritt von Wenigen zu vibrieren beginnen und sogar zusammenbrechen können. Resonanz ist Wiedererkennen. Wir erkennen uns wieder oder etwas in uns erkennt sich wieder und nimmt resonant das Schwingen an und schaukelt uns auf. Auf manche handwerkliche »Tricks« resonieren Viele. Herzschlag = Beat. Wenn man den Groove hat, wippt man beim Jazz unwillkürlich. Für Unterhaltung ist das genug. In Resonanz, wenn sie nicht übertrieben wird, kann man sich wohlfühlen, so eingeschwungen auf gleiches Maß. Aber Resonanz kann auch genau das Maß an Ablenkung sein, das die Schutzwälle aufweicht. Und wehe, wenn dann etwas wahr gesagt wird, vorausgesetzt denn, dass man etwas zu wahr(-)sagen hat.
sanfte dinge weiß ich zu sagen als wären sie wahr
alles krasse sag ich. den schnitt seht ihr später
Da geht die Klinge dann halt glatt durch.
Meist sind es die Toten, who give us the chill. Das bringt uns in Distanz zum Orakel und damit in die Zone komfortabler Sicherheit. Widerfährt uns dergleichen von Zeitgenossen, ist der Komfort gemindert. Wenn der oder die das kann, klingen uns die Salieri-Ohren rechts wie links, dann sollte doch … wenn denn nur …
… dieser unterschied zwischen
es macht nichts, dass es bereits alle zeilen gibt, und:
nichts abzuschneiden, nichts
Das muss man auch erst mal können.
Ich habe also Katharina Schultens gelesen. Viel zu spät. Immerhin ist »untoter schwan« schon ihr vierter Band. Unter ihren nicht wenigen Preisen ist auch der »Leonce-und-Lena-Preis 2013«. Fanfaren genug, um sie gehört zu haben. Habe ich aber nicht, sondern erst jetzt. Und diese späte Bekanntschaft ist verstörend und beglückend. Da wollte ich doch schon abschließen hier. Und nun habe ich nicht nur Lust, wieder zu lesen, sondern auch, wieder zu schreiben, ganz wie ich es 2006, als dieses Blog begann, beschrieben habe.
Warum blutet das jetzt? will man da wissen.
Die lange Vorrede und der Link auf Pound haben ihren Grund. Ich musste für mich selbst erst einmal neu die Kriterien einsammeln. Denn zunächst stand ich einfach be- und getroffen da und hatte nichts als Vermutungen.
Von wegen Resonanz! Die Schultens singt nicht in meiner Tonart, dachte ich. Stimmt nicht, weiß ich jetzt, aber erst jetzt. Sie hält Worte wie »krass« für Lyrik-tauglich und schmeißt englisches Zeug in Verse, wer braucht denn sowas? Braucht man schon mal, weiß ich jetzt, aber erst jetzt.
Ich bekomme diese Verse nicht von der Haut und sage wie im Mantra Namen auf: Mistral, Plath, Bachmann, Mayröcker, Grasnick, Materni. Aber was hat denn Katharina Schultens mit denen gemein? Wie komme ich überhaupt darauf, sie in einer solchen Reihe zu denken?
Die handwerkliche Meisterschaft ist atemberaubend. Schultens beherrscht ihr Instrument so sehr, dass man vergessen kann, dass gespielt wird. Wie da in »echos« im Übergang aus dem schreitenden Versmaß der Lektion der Atem ins Stolpern gerät, wenn die Berührung ins Spiel kommt … Oder der Herzgalopp in den oben zitierten Schlusszeilen von »es war inkorrekt zu träumen« … Aus dem »Schäfchen im Trockenen« wird »ein gerissnes schaf im plus«. Das ist so kühn wie gekonnt. Und man kann das beinah beliebig fortsetzen. Das bardische Handwerk beherrscht sie nach Belieben. Aber es gibt keine einzige Stelle von Kälte des Virtuosen. Das kommt einfach nicht vor, weil das Handwerk ihr »nur« die notwendige Zutat ist für das, was sie zu sagen hat. Schultens sagt wahr, und zwar krass, ohne Filter und doppelten Boden und mit unverkennbar weiblicher Stimme. Das stellt sie in die obige Reihe und es hebt sie auch aus ihr heraus. Denn die Stimme der Mistral raunt aus den 1920er Jahren uns zu, bei der Bachmann klingt es nach Fifties. Und so fort.
Bei Schultens wird mir klar ‐ und eben nicht nur rational, sondern mit allen beteiligten Sinnen ‐ wie das heute und hier ist, Frau zu sein.
Ich glaube, das gelingt nur, weil sie es darauf gar nicht anlegt. Die Erkenntnis fällt ab, weil Schultens schonungslos ist, sich preisgibt in diesen Texten. Vielleicht ist es das eigentlich Unerhörte an diesen Gedichten, mit welcher Kraft und Deutlichkeit sie sich erlaubt, verletzlich zu sein. Es gibt keine Unterwerfung und keinen Verzicht, trotz »Schlüssel im Rücken«. Die Welt wird eingefordert, ganz gleich, wie randvoll sie mit Vorurteilen sein mag.
ich sehe mich vor, wenn ich berichte
denn ich habe einen bauchraum für kinder
was ich sonst noch verstand, ist also egal
Dass Schultens sich vorsehen würde, kann ich nicht sehen. Im Gegenteil.
… vier ist der tod
wenn ich kein kind mache, ich mache nichts, ich macheaus demselben grund keines, aus dem ich immer alles, alles sage
Gleichwohl hat sie ein Kind, und das Echo dieser Erfahrung ist ebenfalls deutlich zu hören, nicht nur in Zeilen wie diesen:
meine landschaft innen ist dunkel, dunkel
ich kenne darin nur feindeich beschütze immer mindestens zwei blutsverwandte
und du bist nicht rechtzeitig da
Es ist Tanz und Taumel zwischen Welten. Das Haus hat sie längst verlassen und ist angekommen inmitten der Möglichkeiten. Alles kann sie sein und werden, alles wollen und tun, nur aufgeben offenbar nicht. Das kommt als Option nicht vor, weswegen Momente von Trauer, Verlust, Rückschlägen sich hier nicht ins Depressive wenden. Auf höhere Wesen wird nicht vertraut. Und Männer sind anwesend, wie sie es hinbekommen, aber sicher nicht als bestimmender Faktor.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Zufall sein soll, dass gerade die folgenden Zeilen den Band abschließen:
meine schablone verrutscht um einen millimeter
während die welt mich noch fertig ausmalt
Mit Schablonen kommt man bei Schultens nicht weit. Für Schubladen ist sie zu groß. »so darf ich nicht lange bleiben« sagt sie sich denn auch vor, und dem eigenen Blick nicht zu lange einfach vertrauen, denn »immer verwechseln wir etwas«.
Die Frau hat Dichtung im Blut. Einfach mal zuhören, kann ich nur sagen. Die Ausbeute ist immens. Die Verunsicherung auch. Und so soll es sein.
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Nikolai Michailowitsch Karamsin porträtiert von Alexei Wenezianow, 1828, Ausschnitt.
Im Mai 1789 brach der damals 22jährige russische Gutsbesitzerssohn Nikolai Karamsin von Moskau aus zu einer Reise auf, die ihn im Verlauf der folgenden sechzehn Monate quer durch Deutschland, in die Schweiz, nach Frankreich und nach England führte. Es war eine Art Bildungsreise: Karamsin, der eine Laufbahn als Schriftsteller anstrebte und auch schon einige Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften veröffentlicht hatte, wollte die kulturellen Zentren Europas kennenlernen und Kontakte zu den intellektuellen, der Aufklärung verpflichteten Kreisen knüpfen.
Von seiner Reise schickte Nikolai Karamsin zahlreiche Briefe an Freunde in Moskau. Darin erzählte er ausführlich von seinen Begegnungen mit Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern, er ging auf regionale Besonderheiten, auf Moden und Traditionen ein, berichtete über Theateraufführungen und Konzerte, lieferte genaue Beschreibungen von Landschaften und Städten und informierte – vor allem in Zusammenhang mit der Revolution in Frankreich – über aktuelle Geschehnisse. Nach seiner Rückkehr nach Russland edierte Karamsin seine Reisebriefe in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Moskauer Journal“ und war damit überaus erfolgreich. Schon bald erschienen die „Письма русского путешественника“ („Briefe eines russischen Reisenden“) in Buchform. 1800–1802 kam, in sechs Bänden und von Karamsin selbst autorisiert, die erste und bis heute allen weiteren Editionen zugrundeliegende deutschsprachige Ausgabe heraus. Übersetzt von Johann Richter trägt sie den Titel „Briefe eines reisenden Russen“.
Moskau um 1800. Gemälde von Fjodor J. Alexejew.
Die Reisebriefe begründeten Nikolai Karamsins schriftstellerischen Ruhm. Als Vorbild für Alexander Puschkin und bewundert auch von späteren Autoren wie etwa Vladimir Nabokov, gilt er als wesentlicher Impulsgeber für die russische Literatursprache. Vor allem aber sind die „Briefe eines reisenden Russen“ bis heute und auch außerhalb Russlands als zeit- und kulturgeschichtliche Dokumente höchst interessant. Karamsin war nicht nur ein aufmerksamer Beobachter, sondern auch sehr sprachgewandt. Er beherrschte unter anderem das Französische und das Englische – und vor allem auch das Deutsche, aus dem er schon vor der Reise literarische Übersetzungen gemacht und publiziert hatte. Es gab daher kaum Verständigungsschwierigkeiten, als er sich etwa gleich nach seiner Ankunft in Königsberg, am 18. Juni 1789, zu Immanuel Kant begab. Zwar war sein Besuch spontan und nicht angekündigt, aber, so berichtete er,
„Kühnheit gewinnt Städte und mir öffnete sie die Türe des Philosophen. Ein kleiner hagerer Greis, von einer außerordentlichen Zartheit und Weiße, empfing mich. Ich sagte zu ihm: Ich bin ein russischer Edelmann, der deswegen reiset, um mit einigen berühmten Gelehrten bekannt zu werden – und darum komm‘ ich zu Kant. Er nötigte mich sogleich zum Sitzen und sagte: ‚Meine Schriften können nicht jedermann gefallen. Nur wenige lieben die tiefen metaphysischen Untersuchungen, mit welchen ich mich beschäftigt habe.‘ Wir sprachen erst eine halbe Stunde über verschiedene Gegenstände: von Reisen, von China, von Entdeckungen neuer Länder etc. Ich musste dabei über seine geographischen und historischen Kenntnisse erstaunen, die allein hinreichend schienen, das ganze Magazin eines menschlichen Gedächtnisses zu füllen, und doch ist dies bei ihm nur Nebensache. (…) Er schrieb mir die Titel von zweien seiner Schriften auf, die ich noch nicht gelesen habe: ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ und ‚Metaphysik der Sitten‘ – und dieses Zettelchen werd‘ ich verwahren, wie ein heiliges Andenken. (…) Kant spricht geschwind, leise und unverständlich; ich musste alle meine Gehörnerven anstrengen, um zu verstehen, was er sagte. Er bewohnt ein kleines unansehnliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm alltäglich, ausgenommen seine Metaphysik.“
Immanuel Kants Wohnhaus in Königsberg.
Von Königsberg führte Nikolai Karamsins Reise über Danzig, Berlin (wo er den Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai traf und mit großer Begeisterung das Schauspielhaus besuchte) und Dresden nach Leipzig, wo es ihm, wie er am 16. Juli 1789 seinen Moskauer Freunden berichtete, besonders gut gefiel:
„Man sagt, dass der Aufenthalt in Leipzig sehr angenehm ist und ich glaube es. Einige der hiesigen reichen Kaufleute geben oft Diners, Soupers, Bälle usw. Die jungen Stutzer aus der Zahl der Studenten erscheinen bei solchen Gelegenheiten in ihrem Glanze. Man spielt Karten, man tanzt, man macht Cour, wie überall bei diesen Festen. Außerdem gibt es noch besondere gelehrte Gesellschaften oder Klubs; da unterhält man sich von gelehrten und politischen Neuigkeiten, beurteilt Bücher usw. (…) Wer seinem Gaumen etwas zu gute tun will, hat hier die außerordentlich schmackhaften Lerchen, die köstlichen Kuchen, den herrlichsten Spargel und eine Menge Früchte, vorzüglich Kirschen, die sehr gut und jetzt so wohlfeil sind, dass man für zehn Kopeken eine ganze Schüssel voll bekommt. Überhaupt ist es in Sachsen wohlfeil zu leben.“
Am meisten beeindruckt war Nikolai Karamsin in Leipzig aber von den vielen Buchhandlungen:
„Fast auf jeder Straße findet man mehrere Buchladen und doch werden die meisten Leipziger Buchhändler reich, worüber ich mich wundere. Zwar sind viele Gelehrte hier, die Bücher brauchen; aber dies sind größtenteils Schriftsteller oder Übersetzer, die den Buchhändler, wenn sie sich eine Bibliothek anschaffen, nicht mit Gelde, sondern mit Manuskripten bezahlen. Überdies gibt es in jeder deutschen Stadt von einiger Bedeutung öffentliche Lesebibliotheken, aus welchen man für geringes Geld Bücher aller Arten zum Lesen erhalten kann. – Aus ganz Deutschland versammeln sich hier die Buchhändler auf den Messen, deren jährlich drei gehalten werden, nämlich zum Neujahr, zu Ostern und zu Michaelis, um ihre Verlagsartikel gegeneinander zu vertauschen. Für ehrlos werden diejenigen unter ihnen gehalten, die fremden Verlag nachdrucken und dadurch den rechtmäßigen Verlegern, die das Manuskript von dem Verfasser kauften, Schaden verursachen. Deutschland, wo der Buchhandel so wichtig ist, bedarf über diesen Punkt besondere und strenge Gesetze.“

Nach fünftägigem Aufenthalt in Leipzig setzte Nikolai Karamsin seine Reise fort. Er war per Postkutsche unterwegs – „und da ich dem Postillion ein Geschenk mit einem porzellanenen Pfeifenkopf machte, den ich in einer berlinischen Fabrik gekauft hatte, so brachte er mich aus Dankbarkeit ziemlich schnell nach Weimar.“
Karamsins Hoffnung, in Weimar Johann Wolfgang von Goethe treffen zu können, erfüllte sich allerdings nicht. Der Dichter sei nicht zuhause, sondern „bei Hofe“ hieß es auf eine erste Nachfrage, und als ihn Karamsin dann doch einmal „im Vorbeigehen am Fenster“ sah und am nächsten Tag besuchen wollte, war Goethe just „ganz früh nach Jena gefahren“. Doch Karamsin wusste sich zu trösten: „In Weimar leben auch noch andere berühmte Schriftsteller“ – so etwa Johann Gottfried Herder, der gerne zu einem Gespräch bereit war und den Karamsin als „liebenswürdigen, höflichen Mann“ von „sanfter Freundlichkeit“ erlebte; oder Christoph Martin Wieland, der sich zunächst dem russischen Gast gegenüber sehr reserviert gab.
„Wieland: Ich bin kein Freund von neuen Bekanntschaften und am wenigsten von Bekanntschaften mit Leuten, die mir durchaus unbekannt sind. Ich kenne Sie nicht. – Ich: Das gestehe ich; aber was fürchten Sie von mir? – Wieland: Es ist jetzt in Deutschland Mode geworden, zu reisen und dann seine Reise zu beschreiben. Dergleichen Reisebeschreiber, deren Anzahl nicht gering ist, ziehen von Stadt zu Stadt und suchen mit berühmten Leuten nur deswegen zu sprechen, um das, was sie von ihnen hören, drucken zu lassen. Was unter vier Augen gesprochen wurde, wird dann vor dem Publikum ausposaunt und dadurch haben schon manche gelitten. Ich bin meiner nicht ganz gewiß; bisweilen bin ich gar zu offen.“
Schließlich willigte Wieland doch in ein zweites Treffen ein, das dann sehr freundschaftlich mit einem ausführlichen Gespräch über Philosophie und Literatur verlief.
Weimar im frühen 19. Jahrhundert. In seinen Reisebriefen vermerkte Karamsin: „Die Lage Weimars ist artig. Die umliegenden Dörfer mit ihren Feldern und Gehölzen gewähren eine anmutige Aussicht. Die Stadt ist nur klein und außer dem herzoglichen Palaste gibt es hier weiter keine großen Gebäude.“
Von Weimar reiste Nikolai Karamsin weiter nach Frankfurt und über Mainz, Mannheim und Straßburg in die Schweiz. In einem Brief aus Straßburg schrieb er:
„Wie angenehm und erfreulich ist es, meine Freunde, aus einem Lande ins andere zu reisen, neue Gegenstände zu sehen, durch welche unser Geist sozusagen ein neues Leben bekommt (…). Mit einem Worte, meine Freunde, das Reisen nährt Geist und Herz. Der Hypochondrist reise, um seine Hypochondrie zu vergessen! Der Misanthrop reise, um die Menschen liebzugewinnen! Es reise alles, was reisen kann!“
Die 1922 im Wiener Rikola Verlag erschienene Ausgabe von Nikolai Karamsins „Briefe eines reisenden Russen“ ist online über Internet Archive verfügbar.
In Buchform sind die Briefe derzeit nur als „Book on demand“ erhältlich (wobei es sich um Reprints der Rikola-Ausgabe handelt).
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Als Kind verbrachte ich eine Woche damit herauszufinden, ob ich an Gott glauben könne. Nach Ablauf der angesetzten sieben Tage war die Sache für mich erledigt, denn gäbe es, so dachte ich, einen Gott, an den zu glauben wäre, so würde er sich doch wohl gemeldet haben. Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein. Die mich umgebende Welt der Erwachsenen war mir derweil übrigens weitgehend unverständlich. Genau genommen ging ich davon aus, all die großen Menschen müssten mehr oder weniger dumm sein, denn meine häufigen Fragen, sei es nun bezüglich eines Gottes oder wo denn all die Vergangenheit geblieben sei, das Leben vor mir, von dem ja zum Beispiel ältere Häuser, Kirchen, Straßen und große Bäume zeugten, blieben entweder gänzlich unbeantwortet oder wurden mit den gängigen Stereotypen abgetan. Natürlich kannte ich damals das Wort Stereotyp noch nicht, doch glauben Sie mir, ich habe dieses automatisch Dahingesagte schwer am eigenen Leibe erlitten, denn Sätze dieser Art dringen erbarmungslos in die Ohren des unschuldigen Kindes ein und verursachen eine Bitterkeit, die sich nicht nur vom Hirn aus bis in die Zehenspitzen ausbreitet, sondern sich auch im Gemüt festsetzt, einnistet. Ein jedes Mal, wenn etwa der Satz „das verstehst du noch nicht“ fiel und ich hätte denken, ja hätte sagen müssen, „aber eben deswegen frage ich doch“, durchfuhr mich eben diese Bitterkeit, gepaart mit der erwähnten Erkenntnis, wie dumm doch diese Leute alle sind. Dementsprechend fruchteten Versuche, mir so etwas wie Intelligenz, Sachverstand und Bildung vorzuspielen immer weniger, selbst Lehrer verrieten sich, indem sie mich nicht verstanden und stattdessen auf irgendetwas verwiesen oder zeigten, auf Texte, Bilder, Landkarten oder was auch immer. Hatte ich Gott noch eine Frist von sieben Tagen gewährt, sich mir zu erkennen zu geben, so gab ich den Sterblichen um mich herum immer öfter nicht mehr als ein paar Augenblicke, mich davon zu überzeugen, dass sie mir, wie es den Jahren nach hätte sein müssen, voraus sind. Es gelang keinem einzigen von ihnen, das sei gesagt, auch wenn ich nicht den Stab über sie brach. Das wäre ungerecht gewesen. Die an meine Zeitgenossen gerichtete Fragerei als solche gab ich indes, den Umständen entsprechend, nach und nach weitgehend auf, und heute frage ich sogar überhaupt nicht mehr, denn natürlich kann ich mir erstens alle möglichen Antworten selber ausdenken, und zweitens werde ich selbst gerne gefragt, was mich in die Lage versetzt eben das zu tun, was ich gerne tue, zu antworten nämlich. Genau genommen warte ich nicht einmal mehr auf die ganze Fragerei, sondern frage mich ganz einfach selbst, um mir dann, ganz meinem eigenen Wissensdurst hingegeben, in vorauseilendem Eifer selbst zu antworten. Und da ja nun jede Antwort wieder Fragen nach sich zieht, sie aufwirft, geradezu aufwühlt wie das Wildschein den Kartoffelacker, komme ich überhaupt gar nicht mehr aus dem Antworten, dem Erzählen heraus. Antwort folgt auf Frage und Frage auf Antwort. So also, Welt!, wurde ich, kurz gesagt, Schriftsteller, was noch immer, keine Frage, der schönste Beruf der Welt ist.
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wie doch die zeit vergeht, oder auch nicht. wie doch die zeit vergeht, oder auch nicht. doch die zeit vergeht, oder auch nicht. die zeit vergeht, oder auch nicht. oder auch nicht.
auch nicht. nicht.
von ludwig jannsen
hat der frachter weg
strecke zurück gelegt
auf dem meer
für schlechte zeiten
hat er zeit verbracht
auf dem meer
hat er zeit verfrachtet
über das meer
wir wissen es nicht
mehr als dass zeit
verstrich über allem
strich um strich das
wasser wich aus
himmel, meer und insel
leuchtturm, frachter
auch dem pinsel, der
schon trocken, kann
man keine zeit entlocken
doch weiß ich, wenn ich
schreib, betrachte, meine
zeit mit dem befrachte
was himmel meer und leuchtturm bleibt
durchströmt die zeit den raum und
mich,lässt eine spur, doch bleibt sie nicht
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„La mer / les a bercés / le long des golfes clairs / et d’une chanson d’amour, / la mer / a bercé mon cœur pour la vie.“
„Das Meer / hat sie umschmeichelt / entlang der klaren Meeresbuchten / und mit einem Liebeslied / hat das Meer / mein Herz beruhigt für mein ganzes Leben.“
(Charles Trenet)
DU bist das meer, und ich bin deine küste.
ich brand’ dir zu, wir geh’n an unser land.
DU bist das schiff und ich dein sich’rer hafen.
ich halte deinen ausgeworf’nen anker.
wir sind die mária in mondes wüste,
das feuchtgebiet, amphibien so verwandt.
wir sind die segel, die im winde schlafen,
sind seelenfrachter und der liebe tanker.
DU bist das meer, das dringt in meine buchten,
mit den’n ich deiner stürme well’n umfasse,
denn wir schau’n tief in uns’rer meere schluchten.
dein haar, noch nass, maría! duft nach bad –
auf dass ich’s meer nie mehr dem lied entlasse,
das mit dir singt und sinkt auf uns’rem pfad.
(180315 | pour maria)
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Der abgeschnittene Haselzweig
auf dem moosigen Plattenbeton;
im vierkantigen Hof scheint die
grünende Sonne erstmals in
diesem Jahr splitternackt, sie
wartet aufs Blühen – auch der
Frühling und das Teil, das einmal
seines war, der verödete Zweig.
Bin auch ich voll von Trieben,
sprieße auch ich fern vom Stamm,
habe auch ich keinen Zweck
als irgenddann Zierde zu sein?
Niemand sieht mich mehr an,
wenn ich ausgestopft hänge;
der verendete Teil eines Menschen
in einem Zimmer zur Osterzeit.
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In den Handtaschen deiner Mutter gibt es
ein Gerät, wenn du das anknipst, hört man
wie früher den Staubsauger im Kinderzimmer.
Fotos von dem Chaos nach einem Zugunglück
liegen verborgen hinter den Reißverschlüssen.
Mach jede Tasche auf, es regnet darin immer.
Aber es gibt keine Unwetter dort im Dunkeln,
nur Tränenschauer. Jede Handtasche weint.
In der Handtasche von Oma Käte war nichts
außer ihrem Schlüsselbund, einem Päckchen
Papiertaschentücher und dem Faltregenschirm.
Ihre Handtasche war ein Beutel, dünn, eine Haut,
mit zwei Omafingern kleinzuknüllen auf die Größe
einer Rosine, eines Reiskorns. Eine Handtasche,
sagte sie, wozu das, hm, Krimskrams, Plunder?
Ständig gab sie Opa Sachen: „Da, steck ein.“
Eine Landkarte des wiedervereinigten Korea,
Pokémon-Figuren und Plastikkaninchen, leere
Karamellpuddingbecher und kaputte Ladekabel
liegen in den Handtaschen deiner Töchter neben
irgendeiner Tasche ihrer Oma und der Beutelhaut
von Uroma Käte. Manchmal kriecht eine Tochter
in die Handtasche der anderen und schläft dort.
Jede ihrer Handtaschen ging bislang verloren.
In der Handtasche deiner Frau lebt eine Unke,
apfelgrün ist sie und schön. Umher schwirrt darin
ein Mückengeschwader, das Futter für den Lurch.
Alle Handtaschen von allen deinen Freundinnen
sind in der Tasche deiner Frau. Deine Geliebte
hat deshalb keine Handtasche, dein Liebling
entwirft Handtaschen. In der deinen wächst
Gras. Still ist es darin, wie im Universum.
*
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foxtrott : 22.15 UTC – In einem Aufzug habe ich heute etwas Merkwürdiges erlebt. Ich wurde nämlich verdächtigt, mittels meines persönlichen Zeigefingerabdrucks gewisse Vorteile erzielen zu können. Der Aufzug erkennt sie, sagte eine empörte Frau, die überzeugt gewesen war, der Aufzug hätte eigentlich nach oben, wie von ihr gewünscht, nicht nach unten fahren dürfen. Die Frau hielt in diesem Augenblick ihrer Rede eine Schere in der Hand, sie war überhaupt äusserst schlecht gelaunt. Ich überlegte, ob ich ihr nicht eine Geschichte zur Beruhigung erzählen könnte, eine sehr kurze, spannende, eine überzeugende Geschichte. Ich lächelte sie an, atmete tief ein und aus, als ich bemerkte, dass mir keine Geschichte einfallen wollte, außer diese Geschichte selbst. Ich sagte also: Stellen sie sich vor, ich habe heute in einem Aufzug etwas Merkwürdiges erlebt. – stop

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(noch ohne 1. Stock)
Im Mondschein lief ich die Dorfstraße entlang. Lief bis an ihr Ende. War wieder hier. Sprang über den Zaun neben dem Eingang, lief durchs Rosenbeet und streunte über den Hof. Abermals, die zwei hölzernen Torflügel waren weit aufgeklappt, stand die Scheune offen, die zweimal so hoch war wie das Haus, in dem wir gerade schliefen. Auch die kleine Tür, dem Tor gegenüberliegend, durch die man sie verließ und so in den Garten gelangte, war geöffnet worden. Hinter dem Garten lag ein Acker, hinter dem Acker der Wald. Wieder saß mein Urgroßvater betrunken auf dem hölzernen Pferd schaukelnd versunken vor ihr : so floss aus ihr Nacht in den Hof.
Frauen in schwarzen Kleidern krochen wendig über den Flur, versuchten, angelockt vom knarzenden Klang, in unsere Scheune zu gelangen, die unserem Haus direkt gegenüber stand. Ich wusste, er ritt dem Wald entgegen: schaukelte schneller, schneller und schneller, dass sie, die Krochen, kommen mögen. Da schoss meine Urgroßmutter wie ein aufgeschrecktes Biest im Nachtkleid: weiß wie ihr wehendes Haar, furios wie eine Lichtscheuche, aus dem Haus und über ihn hinweg, sie zu schließen.
So sah ich es noch einmal. Sah es, als sah ich es zum ersten Mal. Mein zartes Alter ließ mich ihn damals nicht fragen:
Wieso reitest du das Pferd so doll?
So oft hat er es versucht. So oft war seine Liebesmüh‘ ihr gegenüber vergeblich.
Und so blasst diese Erinnerung nun auch vor meinem inneren Auge. Wird schwarz und schwärzer.
Es fließt nun immer Nacht auf diesen Hof, ihn zu dunkeln, die Torflügel stets weit offen, das hölzerne Pferd zu schaukeln, auf dem er jedes Mal saß, wenn er betrunken war, in dessen Mähne und Schweif noch Waldkletten hängen. So war ich noch einmal hier: es zu sehen. Und lausche bis heute bang einem letzten Knarzen.
