Archiv der Kategorie: Ausgabe 01–02/2020

Der Videochat als Utopie

 

„Correspondance Cinéma-Phono-Télégraphique“ aus der Reklamekartenserie „En LʼAn 2010“. Bildquelle: Gallica / Bibliothèque nationale de France

Jeden Abend schaltet das ältere Ehepaar den Bildschirm ein, um per Videoanruf ein wenig mit den Kindern zu chatten. Das scheint nichts Ungewöhnliches zu sein. Dergleichen geschieht täglich weltweit unzählige Male. Noch dazu, wenn die Eltern, wie im konkreten Fall, in London leben und sich die anderen Familienmitglieder gerade in Sri Lanka befinden. Bemerkenswert jedoch ist diese Szene deshalb, weil sie in einer Darstellung aus dem Jahr 1878 wiedergegeben ist. Das Telefon war gerade erst – 1876 – patentiert worden, und von Long-distance calls war noch längst nicht die Rede. Und da also ein veritabler Videochat?

EDISON’S TELEPHONOSCOPE (TRANSMITS LIGHT AS WELL AS SOUND). (Every evening, before going to bed, Pater- and Materfamilias set up an electric camera-obscura over their bedroom mantel-piece, and gladden their eyes with the sight of their Children at the Antipodes, and converse gaily with them through the wire.) Paterfamilias (in Wilton Place): “Beatrice, come closer, I want to whisper.” Beatrice (from Ceylon): “Yes, Papa dear.” Paterfamilias: “Who is that charming young lady playing on Charlie’s side?” Beatrice: “She’s just come over from England, Papa. I’ll introduce you to her as soon as the game’s over!”
EDISON’S TELEPHONOSCOPE (TRANSMITS LIGHT AS WELL AS SOUND). 
(Every evening, before going to bed, Pater- and Materfamilias set up an electric camera-obscura over their bedroom mantel-piece, and gladden their eyes with the sight of their Children at the Antipodes, and converse gaily with them through the wire.)
Paterfamilias (in Wilton Place): “Beatrice, come closer, I want to whisper.” Beatrice (from Ceylon): “Yes, Papa dear.” Paterfamilias: “Who is that charming young lady playing on Charlie’s side?” Beatrice: “She’s just come over from England, Papa. I’ll introduce you to her as soon as the game’s over!”

Zu finden ist diese Zeichnung in „Punch’s Almanack for 1879“, einem vom Londoner Satiremagazin „Punch“ im Dezember 1878 herausgegebenen Sonderheft. Geschaffen hat sie George du Maurier (1834–1896). Der aus Paris stammende Grafiker und Schriftsteller (der mit dem Roman „Trilby“ einen Welterfolg schrieb) war fast drei Jahrzehnte lang für den „Punch“ tätig, für den er eine Vielzahl von Karikaturen zeichnete.

Seiner Utopie eines Videogesprächs gab du Maurier den Titel „Edison’s Telephonoscope“. Den Begriff „Telephonoscope“ für jenes Gerät, über das die Bild- und Tonübertragung erfolgt, hatte du Maurier erfunden, und wenn er davor den Namen von Thomas Alva Edison setzte, so lag dies daran, dass der Amerikaner der weltweit berühmteste Erfinder in jener an Erfindungen so reichen Zeit war. Bei einer satirischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des rasanten technischen Fortschritts passte sein Name am besten. Mit seinem Telephonoscope zeichnete George du Maurier (der übrigens der Großvater der Schriftstellerin Daphne du Maurier war) zu einer Zeit, als Videokommunikation noch als etwas vollkommen Irreales erschien, eine Vorrichtung, die den heutigen Geräten erstaunlich ähnlich war.

Die zukünftigen Möglichkeiten einer elektrischen Bildschirmtechnik waren ab dem späten 19. Jahrhundert Gegenstand zahlreicher Forschungen und fanden auch großes öffentliches Interesse. Noch wusste niemand zu sagen, wie diese Technik beschaffen sein werde – und genau das inspirierte zu Karikaturen, Satiren und Texten der frühen Science-Fiction-Literatur. Besonders intensiv setzte sich der französische Schriftsteller und Grafiker Albert Robida (1848–1926) mit dem Thema auseinander. Robida kannte du Mauriers Cartoon, übernahm davon den Begriff des Telephonoscopes und machte die Videokommunikation zu einem der zentralen Themen in seinen beiden Romanen „Le Vingtième Siècle“ („Das zwanzigste Jahrhundert“), erschienen 1882, und „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“ („Das zwanzigste Jahrhundert. Das elektrische Leben“), erschienen 1890.

Buchcover

Beide Werke stattete Robida mit zahlreichen eigenen Illustrationen aus, und in beiden führt die Handlung nach Paris: „Le Vingtième Siècle“ spielt im Jahr 1952, im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die studiert hat und als Journalistin und Anwältin tätig ist (auch die Frauenemanzipation war ein Thema, dessen sich Robida – früher als viele seiner Zeitgenossen – in populärer Form annahm). „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“ ist eine Familiengeschichte aus dem Jahr 1956.

Das Telephonoscope ist in beiden Romanen ein zentraler Bestandteil des täglichen Lebens. Es dient der Nachrichtenübermittlung ebenso wie der Videokommunikation und dem (heute so bezeichneten und sehr aktuellen) Teleteaching. So etwa absolviert im Roman „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“ die junge Ingenieurin Estelle über das Telephonoscope Kurse an der Universität Zürich und am Pariser Institut für Elektrizität.

Illustration aus „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“, 1890.

Das Telephonoscope ermöglicht in Albert Robidas utopischem 20. Jahrhundert aber auch die Teilnahme an Kulturveranstaltungen. Ganz nach Belieben kann man sich in die gerade stattfindenden Theater-, Ballett- oder Opernaufführungen „nicht nur in Paris, sondern auch in Brüssel, London, München oder Wien“ einklinken und sich entweder eine ganze Vorstellung oder einen Akt da, den anderen dort ansehen.

„Le Théâtre chez soi par le Téléphonoscope“. Illustration aus „Le Vingtième Siècle“, 1882.

Albert Robidas utopische Romane werden oft mit jenen des um zwanzig Jahre älteren Jules Verne verglichen, wobei, so vermerkt der Literaturwissenschaftler Heinrich Raatschen, „zu Recht das populärwissenschaftliche Gewicht Vernes im Gegensatz zum Humoristischen und Unterhaltsamen von Robidas Werk betont wird. Didaktische Absichten sind Robidas Sciencefiction-Werken fremd. Für ihn ist Technik ein Thema, mit welchem man das Publikum amüsieren oder bei Gelegenheit auch erschrecken kann.“[1]

In Robidas Welt wird das Telephonoscope auch dazu benutzt, um so manchen Konflikt – etwa eine Eifersuchtsszene – über sichere Distanz auszutragen. Illustration aus „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“, 1890.

Albert Robida war zu seiner Zeit als Autor zahlreicher Werke (darunter etliche weitere utopische Romane), Verfasser von Jugend- und Sachbüchern, als Karikaturist und Buchillustrator sehr erfolgreich, seine Romane über das 20. Jahrhundert wurden in etliche Sprachen übersetzt. Vor allem die von ihm sosehr favorisierte Idee einer zukünftigen Videokommunikation kam gut an und wurde vielfach aufgenommen und weiter popularisiert. Beispielsweise gehörte ein Modell eines „Telephonskops“ im Fasching 1887 zu den Kuriositäten eines Wiener Künstlerfestes, das unter dem Motto „Eine Weltausstellung in hundert Jahren“  stand.[2]

Ähnliche Geräte waren auch als Motive auf jenen beliebten Reklamekarten zu finden, die verschiedenen Produkten, wie Zigaretten, Süßigkeiten oder Spielwaren, beigelegt wurden. So etwa auf einer der Karten aus der um die Jahrhundertwende entstandenen Serie „En LʼAn 2000“ („Im Jahr 2000“), die eine Vielzahl von utopischen Motiven – von Fluggeräten bis zu Unterwassertransportmitteln – enthielt (siehe oben, erste Abbildung). Auch als dann einige Jahre später, 1912, die Pariser Schokoladenfirma Lombart Reklamekarten mit Motiven unter dem Motto „En LʼAn 2012“ („Im Jahr 2012“) herausbrachte, gehörte die Videokommunikation mit ins Repertoire. Denn so können die Eltern ihrem Sohn mitteilen, dass sie ihm seine Schokolade der Firma Lombart per Luftfracht nach Indien schicken werden.

Reklamekarte, 1912. Bildquelle: Gallica / Bibliothèque nationale de France.

[1] Heinrich Raatschen: Die technische und kulturelle Erfindung des Fernsehens in den Jahren 1877–1882. Inaugural-Dissertation, Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2005. S. 176.
[2] Siehe: Neue Illustrirte Zeitung, 27.2.1887.

 

Corona-Post (Tag 51): BORIS P. (u.a.) hinter die Ohren geschrieben oder auf die Ohren gegeben

 

Juli Zeh ist auch dabei. Julian Nida-Rümelin und der unsägliche Antisemit Jakob Augstein, Boris Palmer natürlich und ein Andreas Rosenfelder, der das Virus als Metapher verstehen will und nach eigener Aussage jetzt in einer traumatisierten Gesellschaft lebt , wenig überraschend auch ein Herr Reichelt von der BLÖD-Zeitung und Kind Fürchterlich (enfant terrible) Frank Castorf. Es ist doch so, sagen sie, der Preis sei zu hoch, den WIR jetzt zahlen sollen: Meistens daheim bleiben, kein Feierabendbierchen und gemeinschaftliches Lästern über Spießer, kein Fußball, keine Konzerte, konsumpromenieren nur mit Maske und dann auch noch dauernd Hände waschen. Andere beklagen das Leid der armen Kinderchen, seit 6 Wochen eingesperrt, meint Ministerpräsident Laschet (wovon ich gar nix gemerkt habe, weil hier, wo ich lebe, die Kinderchen sehr wohl die ganzen 6 Wochen über auf die Straße und in die Parks und in den Wald durften; aber vielleicht verwechselt er das mit Italien oder Spanien; der Mann wirkt ja insgesamt ziemlich verwirrt.)

Es stehe die FREIHEIT auf dem Spiel, so stellen sie fest. Ihr Freiheitsbegriff ist dabei ein bisschen dürftig, denn er kommt offensichtlich ohne VERANTWORTUNG aus. Dass die Grenzen der Freiheit immer da gesetzt sind, wo die Wahrnehmung der Freiheitsrechte die Rechte anderer beeinträchtigt, haben sie wohl schon verstanden? Ich nehme mal an, auch Frau Zeh hält an der roten Ampel (vielleicht sogar, wenn sie den Standort der Ampel persönlich für unnötig hält). Aber JETZT geht ihr das mit den Vorschriften zu weit. Das erinnert sie dann doch zu sehr an eine Gesundheitsdiktatur, wie sie sich eine m schlecht geschriebenen Roman CORPUS DELICTI ausgedacht hat (Der Plot ist selten dämlich: Geht es doch um eine datengeile BigBrother-Diktatur, die jederzeit deine Temperatur kennt, aber unfähig ist, in ihren digitalen Archiven eine Transplantation abzuspeichern).

Denn diesmal geht es um Einschränkungen, die nur einem Zweck dienen: dem Schutz des Lebens von Leuten, die vielleicht eh bald gestorben wären. Alte nämlich und Vorerkrankte. Das Leben insgesamt wird ja maßlos überschätzt. Noch mehr aber das von Ungesunden. Diese „Störfaktoren“ für ein freies Leben aller anderen sollen gefälligst sich mal selber schützen, indem sie sich aus dem (öffentlichen) Leben fernhalten. Das kann man von dieser „Risikogruppe“ echt verlangen. Alte Leute mit geringer Lebenserwartung und ohne großen gesamtwirtschaftlichen Nutzen können doch nicht im Ernst erwarten, dass wegen ein paar Monaten oder Jahren oder einem einzigen Jahrzehnt, das sie eventuell noch hätten, alle anderen ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Ist doch so, oder? In der WELT (Springer-Konzern wie die BLÖD-Zeitung) kann man lesen, dass „wir“ im Grunde ja auch schon Triage machen, bloß halt zugunsten der Alten. Denn es sterben – wahrscheinlich ?- irgendwo in den verschlossenen Häusern (Wo stehen die bloß? Bei mir gehen überall dauernd die Türen auf und zu.) mehr Frauen und Kinder an gewalttätigen Männern, die ohne Fußball auskommen müssen, als je zuvor. Es ist erstaunlich, wer in dieser Krise plötzlich sein weiches Herz für Frauen und Kinder entdeckt, die ihm/ihr sonst immer ziemlich am Allerwertesten vorbeigegangen sind.* Plötzlich muss deren imaginiertes Leid im Halb-Lockdown herhalten, um Herrn Professors und Frau Richterins Unbehagen an der ungewohnten Unbequemlichkeit des Lebens zu begründen.

Beifall erhält die Fraktion „Diese Freiheit nehm ich mir“ von verzweifelten Abiturientinnen auf TikTok, die vor ihrem Abiball-Kleid (noch original im Schrank verpackt) rumheulen („Seit 13 Jahren freu´ ich mich drauf.“), von trotzigen alten Männern, die sich für „hart im Nehmen“ halten, aber vor allem gerne austeilen, von libertär-kindischen Provozierern, die immer schon keinen Bock hatten, sich „was sagen zu lassen“, vor allem nicht von Fachleuten zum Thema (Stichwort: Diktatur der Virologen). Jetzt muss doch mal Schluss sein mit der Pandemie (Die Nachrichten sind ja auch so langweilig geworden!). Weiter muss es gehen. Raus müssen wir. Damit der Ball wieder rollt. Der Rubel auch.

Ja, ich habe auch Angst, dass wir in eine Rezession geraten. Vielleicht sogar in eine Depression. Ich habe auch Angst, dass die Pandemie weltweit zu Hunger und einer Vervielfachung der Armut führen wird. Dass die Arbeitslosigkeit wieder zur Massenarbeitslosigkeit wird. Und dass der Nationalismus, der sich schon vor der Pandemie allseits breitmachte, dazu führen wird, dass die Folgen dieser Naturkatastrophe noch schlimmer werden, als sie es ohnehin sein werden. Und ich bin auch nicht so hart, dass ich keine Angst habe um mich und die meinen vor einer Krankheit, von der man wenig weiß und die gravierende Langzeitschäden haben kann.

Gerade deshalb, weil ich Angst vor all dem habe, fehlt mir die Empathie für das Gejammer jener Vorgenannten. Auch ich wünsche mir, dass wir die Infektionszahlen so reduzieren können, dass Cafés, Restaurants und Hotels bald wieder aufmachen können. Es wird trotzdem schwer werden in vielen Branchen und für viele Unternehmen. Da wird unsere Solidarität wieder gefragt sein. Auf die Zehs, Nida-Rümelins, Castorfs, Augsteins und Palmers sollten wir auch dann eher nicht vertrauen. Denen wird sicher einfallen, warum Verzicht gerade von ihnen nicht verlangt werden kann.

Wofür ich sie aber aufrichtig verabscheue, ist ihre rücksichtslose Verachtung gegenüber einer Generation, für die der Wohlstand und die Freiheitsrechte, um deren Erhalt es ihnen vorgeblich geht, keineswegs eine Selbstverständlichkeit waren. Jene, die „sowieso“ bald gestorben wären, das sind Menschen wie meine Eltern, Kriegskinder mit ECHTEN Traumata (statt diesem: „Das arme Kind, wie soll ich ihm erklären, dass es nicht auf den schönen Spielplatz darf?), die gehungert haben und später viele Jahre gedarbt, deren Konsumverzicht nötig war, um den Wohlstand zu ermöglichen, in dem wir Jüngeren aufgewachsen sind, die zentralbeheizten Wohnungen und die Sommerurlaube, die wir für „normal“ und „unser Recht“ halten. Für meine Eltern sind diese letzten Jahre ihres Lebens die besten. So gut wie jetzt ist es ihnen tatsächlich noch nie gegangen, materiell nicht, aber auch nicht, was ihre persönlichen Freiheiten angeht. Jeder Tag, den sie haben, miteinander, mit uns, ist kostbar. Denn wir alle wissen, dass diese Zeit begrenzt ist. Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, was ich empfinde, wenn Menschen die begrenzte Lebenszeit alter Menschen als Argument dafür benutzen, dass es auf diese Leben weniger ankäme. Ich könnte, was ich empfinde, nur handgreiflich ausdrücken. Aber das kann ich halt auch nicht.

Drum schreib´ ich es hier!

Ich vergesse und verzeihe Euch das nicht, Eure Worte nicht und Euer Verhalten nicht!

Aber ich bin dankbar dafür, in einer Gesellschaft zu leben, die sich in ihrer Mehrheit (bis jetzt) anders entschieden hat: Der Schutz des Lebens ist uns was wert. Auch des Lebens jener, die – vielleicht – nicht mehr so lange zu leben haben wie andere.

* Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist mir selbstverständlich nicht gleichgültig, wenn Frauen und Kinder im häuslichen Umfeld nun ungeschützter Gewalt ausgesetzt sind. Die Aufgabe an uns als Gesellschaft lautet dann: Wie kann Schutz für sie organisiert werden? Z.B., indem kurzfristig die Unterbringung in jetzt leerstehenden Hotels organisiert wird. Das Leid dieser Frauen und Kinder wird jedoch nicht durch zu wenig Freiheitsrechte für alle verursacht und verlängert, sondern viel eher dadurch – auch unabhängig von Corona -, dass die Täter zu uneingeschränkt „Freiheiten“ für sich in Anspruch nehmen.

 

Der Mitsubishi Boy ist tot

 

Was soll ich sagen. Ich schiebe es seit über einer Woche vor mir her. An Ostern ist der Mitsubishi Boy gestorben, mit 59. Er wurde genau so alt wie sein Vater.

Der heimliche Häuptling von Hamburg ist nicht mehr da.

*

Ein Klassenfoto aus dem Jahr 1967. Zur Einschulung stehen wir auf den Treppenstufen vor dem Pavillon der Grundschule. Vierzig verträumte 6jährige, die in die Sonne blinzeln, darunter der Mitsubishi Boy und ich. Auch zehn Jahre später, 1977, auf dem Gymnasium, gehen wir in die gleiche Klasse und werden fotografiert. Bis sich erst der eine, dann der andere einen Schulverweis einhandelt. So ähneln sich Karrieren. So geht das Leben. Einmal kurz geblinzelt, schon sind 6 Jahrzehnte um.

So ganz aus den Augen verloren wir uns nie, auch nicht in seiner langen Hamburger Zeit. Sein beschwingtes „Ja Moooin…!!“, mit dem er jahrelang seine Nachrichten auf unserem AB einleitete, wabert heute noch durch die Wohnung. Wie oft saßen die Gräfin und ich in der Küche und amüsierten uns über seine philosophischen Überlegungen.

„Ein Mann braucht zwei Hosen“, sagte der Mitsubishi Boy, „und in einer muss Geld drin sein.“

Als er 1993 nach Hamburg ging, rief er anfangs nur selten in der Heimat an. Einmal erzählte er, dass er sich auf eine Kleinanzeige hin eine 90 Kilo schwere Heimorgel gekauft habe.

“Funktioniert zwar nur zur Hälfte, aber zum Berühmtwerden müsste es noch reichen, hab ich mir überlegt.”

„Ne Hammond?“

„Nee, irgendne olle DDR-Orgel. Aber is alles drauf, was man braucht, Bossa Nova, Sturmflut – alles.“

Er hatte nicht nur vor, in Verbindung mit einer Vernissage auf der Mönckebergstraße live vom Niedergang dieser Republik zu singen, er wollte auch den ganzen Sommer die Heizung voll aufdrehen, damit selbst ein Energieriese wie Vattenfall ein bisschen was abkriegt von seinem neuen Reichtum.

“Die sollen auch nicht leer ausgehen.”

Das war typisch Mitsubishi Boy, mit einem trockenen kleinen Auflacher am Ende, „in Alter Seebär-Manier“, wie die Gräfin meinte. Er war der Ausguck, der hoch oben im Mast hockt und die Kommentare in den Wind lacht. Doch kaum jemand verstand seine Worte, schon weil der Wind aus der falschen Richtung kam.

*

Na klar, er hatte ein Schoss raus, und was für eins. Aber es war die Art Schoss, die man gerne hervorzieht, um sich die Dinge darin anzuschauen. Was man alles fand: ein Juwel an guten Tagen, Strass an anderen. Es blinkte und funkelte in seiner Schublade wie in einem Voodookabinett.

„Ich glaub, ich bin sinnlich schon ziemlich verpeilt. Eigentlich gehöre ich eingesperrt.“

Was das Altwerden betraf, ließ er es eher lässig angehen.

“Wenn ich 30 bin, fang ich an zu überlegen, wie ich 40 werde, und wenn ich 40 bin, fang ich an zu überlegen, wie ich 50 werde, und so weiter und so weiter. Das muss reichen, fürs erste.”

Die 60 dagegen schaffte er nicht mehr. Er verfehlte sie ganz knapp.

*

„die Nervenkrankheit macht mir schon zu schaffen , da muss jeder Schritt überdacht sein
ist anstrengend.
wir telefonieren die Tage!“

*

„ich glaub ich hatte einen kleinen Schlaganfall
oder sowas in der Art
aber damit muss ich irgendwie klar kommen und einfach weiter üben um nicht schon wieder auf die Fresse zu fallen
spür kaum meine Füsse und muss mich ständig irgendwo festhalten ,meine Beine machen was sie wollen
jetzt versteh ich erst warum es diese Rollis gibt
aber geht schon besser
muss mich aber konzentrieren
das ist der Anfang vom Ende.“

(21. Januar 2020, 10:06)

*

Karfreitag telefonierten wir ein letztes Mal. Das Karfreitag-Gespräch war sein Abschied von dieser Welt. Irgendwann über Ostern muss er die Mailbox aktiviert haben. Er wusste, dass er stirbt, und er wusste, ich würde noch mal anrufen. Er wollte beim Sterben nicht gestört werden. Er wollte seine Ruhe haben. Er wollte seine Ruhe behalten. Man stirbt, wie man lebt. Man hält an seiner Seele fest bis zuletzt.

*

Ich hab nicht so viel Freunde, dass ich einfach auf dich verzichten könnte, hatte ich ihn Karfreitag (für meine Verhältnisse) fast angefleht, etwas zu unternehmen. Er gab mir sein Wort, an Dienstag nach Ostern einen Arzt aufzusuchen. Möglichst nicht den alten Hausarzt, der nichts als Verachtung für einen Gewohnheitstrinker wie ihn übrig hatte. Sondern die Fachärztin, die Neurologin, die ihn bereits wegen Thrombozytopenie behandelte und vorgewarnt hatte, dass die Krankheit sehr schnell schlimmer werden könne, „und denn kommen Sie wieder!“

„Ja, gut… ich geh… zu ihr“, meinte er mit ganz kleinen Buchstaben. „Mach ich.“

Aber ich wusste, er würde es nicht tun, und er wusste, dass ich es wusste. „Ich will nicht an Schläuchen enden, an sirrenden Apparaten im Krankenhaus…“, meinte er müde. „Ohne mich.“ Das hatte ich zu akzeptieren.

*

Er war gesundheitlich schwer angeschlagen. Die Leber kaputt, Blutungen bekam er kaum noch gestoppt. Es schoss ihm aus der Nase, als hätte er das Wasser aufgedreht. Er sprach von Thrombozytopenie, der verminderten Anzahl von Blutplättchen. Sein Wert lag zuletzt unter 50.000 und war schon klinisch. „Ein Wert wie bei Leukämie“, schrieb er. „Es kann zu Spontanblutungen kommen“, las ich auf Wikipedia. “ Hirnblutungen.“ Er humpelte schon seit Wochen, konnte kaum noch gehen. „Ich brauch 20 Minuten für 50 Meter“, schimpfte er.

„aber was rede ich da ?
es gab gute und mal weniger gute Tage und alles im allen auch besonders schöne Momente
es gibt keinen Grund mich zu beklagen
Tu ich aber. verdammte Scheisse!“

(15. März 2020 um 12:40)

*

Einmal fragte ihn jemand vorm Penny-Markt, wieso er einen Baseballschläger im Einkaufswagen habe. „Mein Fuß ist kaputt“, antwortete Mitsubishi. „Den brauch ich als Krücke. Und wenn du nicht aufpasst, zieh ich ihn dir gleich durch die Fresse.“ Er lachte laut auf, als er das erzählte, und natürlich wusste ich, dass er das nie im Leben gebracht hatte. Das alte Großmaul.

Polyneuropathie wurde diagnostiziert, eine übliche Folge von Alkoholmissbrauch. Wenn die Nerven kaputtgehen. Seine Zehen und die Ballen waren fast immer taub, er verlor dauernd den Halt zum Boden. Dazu kamen Bindehautentzündungen. („Konnte auf einem Auge nur noch wischiwaschi sehn.“) Zuletzt tauchten blau-schwarze Flecken auf, handtellergroß, erst an den Beinen, dann am ganzen Körper. „Richtig dicke Flatschen, die sind neu.“ Am Ende fühlte er sich wie Dresden – „ausgebombt. Zermahlen. Aber es kommt keiner, der mich neu aufbaut.“

Er war von Bier auf Wodka umgestiegen, der Untergang. Er sprach stets von einem „Kurzen“, wenn er Schnaps meinte. Der Körper mag keinen Schnaps. Er nimmt ihn hin, logisch, ein Körper nimmt alles hin, was man ihm antut, doch die Rache ist heftig.

„Warum bleibst du nicht beim Bier?“ fragte ich, und tatsächlich, in den letzten Wochen vor seinem Tod ließ er den Schnaps großenteils weg. Er setzte sich hin, meist in der Nacht, und begann wieder zu schreiben. Aus seinem Alltag zu erzählen, ohne Anfang, ohne Ende. Episoden, die davon künden, wie er in einer Kneipe in Barmbek Süd beim Bahnhof da um die Ecke eine Stunde damit verbringt, jemanden zu beleidigen –  „..funktionierte aber nicht. Waren alles Komplimente, wie sich hinterher herausstellte.“

Zwar hatte er auch in den Monaten zuvor geschrieben, in der Nacht, wenn er nicht schlafen konnte. Er tippte mir die Traktate direkt in den Kommentarkeller eines bestimmten Eintrags des Jahres 2018 auf Studio Glumm. Zum Schluss waren es über 400 als Kommentare getarnte kleine Stories, die sich angesammelt hatten. doch seltsam: zum Schluss waren da kaum noch Rechtschreibfehler. Nicht, dass es mich je gestört hätte, es war einfach augenfällig, es musste am Schnapsverzicht liegen. Selbst meine kleinen Seitenhiebe konnte ich mir nun sparen: Ich hab definitiv keine Ahnung, wovon du da redest, aber es ist brillant.

*

Er war ein wilder Dichter. Wenn er mit Rainbowtours nach Paris aufbrach, um ein Wochenende zu verbringen, ging garantiert alles schief, und in den Straßen am Montmartre stank es nach schwarzem Tabak und Pisse.

mitten in Paris
neben dem Hotel du nord lag ich indem Stadtpark Dujardin oder so ähnlich
auf der wiese und kuckte mir alles an
verliebte Pärchen neben uns und auch überall
die Franzosen kennen da ja nix
die sind nur am knutschen und am fummeln
alles wirkte etwas künstlich
selbst der Wasserfall
na ok
meine bekannte hatte mich eingeladen
Wochenende Paris mit Rainbowtours
wir kamen irgendwann an
wer nicht mit zur Besichtigungstour mitwollte (was extra kostet) musste aussteigen und zwei stündchen vertrödeln

zum glück war da ein Wochenmarkt und Geschäfte hatten auf
nicht das ich deswegen genervt gewesen wäre oder so
es war viel schlimmer
weil die Penner zuviel Reisen vertickt hatten gab es ein Problem
und ein Ersatz-Bus musste her

gut.

die andern fuhren dann schon mal los mit ihrem doppelstöckigen Superteil mit Klimaanlage und Kühlschrank und schicken Toiletten
als dann diese weiss übertünchte Rostlaube aus der Vorkriegszeit uns abholte
natürlich ohne alles und jeden comfort
wollte ich nur noch abhauen
ich mein dass die kiste nicht sofort vom schiefkucken auseinanderfiel war alles ,was solls
es gab kein zurück
arschkarte
die andern mitreisenden kamen mir recht jung vor
selbst vor ungefähr fünfzehn jahren waren sie jung
die alte rostgurke fuhr davon mit unserem Gepäck
als wir denn im Hotel du nord landeten war es schon mittags
das zimmer war cool

der blick auf den französischen Kreisverkehr mit Tendenz zum tanzen
am abend sollte es eine lichterfahrt geben
paris bei nacht
ich besorgte uns erstmal eine flasche Pernod und testete meine franzbrocken
sprachlich-

ob die merken das ich deutscher bin?

am ersten abend ,wir wollten ja auch was sehn hatten wir uns komplett verfranst
in der Metropole nee in der Metro wurden wir erwischt ohne gültigen Fahrschein
ich versuchte es mit Händen und füssen die Sachlage zu klären
„in Hamburg“, wiederholte ich mindestens oft genug, „in hamburg wär das mit dem bezahlen anders..“
wir hatten keinen ticketautomaten ausfindig machen können und das war keine Absicht
die flics liessen sich erweichen und begleiteten uns zum ausgang wo wir denn endlich unsere Fahrkarte erwerben konnten,

knapp vor montmatre die ähnlich glänzte wie unser bus
klar war ja auch blauer himmel

ein buntes Volk tummelte sich auf den heiligen stufen ,mal mit mal ohne Gitarre
in der kirche selbst war es schön kühl –
aller kerzen zum trotz
hier und da waren ein paar andächtige
bei der arbeit
eher ernüchternd
unten rechts tauchte schon das berühmte Moulin Rouge auf
die Luft bekam einen anderen Charakter
es roch nach schwarzem Tabak und pisse auch nicht gerade ein Rosé

Sonntag dann mit der weissen gurke nach Versailles
da warteten schon fünfhundert busse
die leute standen Kilometerlang an
um ins innere zu gelangen
ich fragte nach dem Klo und schwupps war ich drin
aussen Politur
einmal aus dem fenster kucken dachte ich
sowie damals der Sonnenkönig
das muss reichen.

(02. September 2016)

*

Bevor er 1992 nach Hamburg ging, schenkte ich ihm eine alte Schreibmaschine, Gabriele. Mir fiel sonst niemand ein, von dem ich glaubte, dass er es mit Schreiben versuchen sollte. Der M. Boy hatte die Geschichten, er hatte den Blick. Hatte er auch die Ausdauer? Dummerweise war er ein Wirrkopf. Auf dem Weg zur Pointe vergaß er regelmäßig, warum er überhaupt angefangen hatte zu erzählen, er verlor den Faden und jeder Zuhörer schüttelte genervt den Kopf. Vielleicht half ihm Gabriele, sein Chaos zu ordnen. Ich glaube nicht, dass er Garbriele je gebraucht, je angepackt hat. Er fing erst an zu schreiben, als er sich 2010 ein Notebook zulegte und einen Blog eröffnete.

Ich war auf dem Weg zu Penny, begann er.

Genialer Einstieg. Er schrieb ein halbes Jahr lang, dann haute er in den Sack und löschte alles wieder. Nicht gut genug, sagte er. Ich war sein einziger Leser gewesen, aber ich hätte seine Miniaturen auch gut gefunden, hätte ich ihn nicht zufällig gekannt. Hätte ich nicht 1967 neben ihm vor der Grundschule Klauberg gestanden und mit ihm in die Sonne geblinzelt, den Hals verdeckt vom Rollkragenpulli.

Ostermontag 2020, zur Mittagszeit. Der erste Versuch, ihn an den Arztbesuch zu erinnern. Doch alles, was ich von nun an zu hören bekam, war: „Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar, wird aber über Ihren Anruf per SMS informiert.“ Als er nicht zurückrief, (was er sonst immer tat, wenn er meine Nummer sah), gab es nur zwei Möglichkeiten, was passiert war. Im günstigeren Fall lag er im Krankenhaus und konnte aus irgendwelchen Gründen nicht ans Handy, oder… tja, oder.

Und ich saß in Solingen, ein paar hundert Kilometer entfernt und wusste nicht, was ich tun wollte.

*

Der M. Boy wuchs in haargenau der gleichen Geschwisterkonstellation auf wie ich, also in derselben: große Schwester und jüngerer Bruder. Der M. Boy war wie ich ein Kind der Mitte. Das verband uns. Wir waren sowohl nach oben als auch nach unten geschützt, und dieser Schutzschirm war unsere Lebensversicherung.

Der M. Boy war auch der einzige, mit dem ich noch mit Anfang Dreißig Klingelmännchen machen konnte. Wir beömmelten uns wie die Pennäler, wenn wir auf dem Heimweg aus der Kneipe die halbe Nordstadt aus dem Schlaf klingelten. Mit einem Unterschied: statt wie früher stiften zu gehen, zockelten wir nun gemächlich unseres Weges, während in den Wohnungen die Lichter ansprangen und Fenster aufgerissen wurden.

„Ach, die sind längst weg“, sagten wir, wenn ein Aus-dem-Schlaf-Geklingelter angerannt kam und uns ansprach. „Die kleinen Schweinehunde.“

*

Obwohl unser Festnetztelefon seit langem abgeschaltet ist, meinen wir es gelegentlich klingeln zu hören. Sonntags, beim Frühstück, gegen halb zehn, zu Mitsubishis favorisisierter Zeit. Wir nahmen niemals den Hörer ab, wir warteten brav, bis er den AB vollgequakt hatte, dann erst spielten wir die Aufnahme ab und lauschten, was er zu sagen hatte. Einmal, um 2005 herum, war ihm ein Fersensporn gewachsen, eine schmerzhafte Angelegenheit. Schon damals konnte Mitsubishi kaum laufen, doch da man selbst als gelernter Hartz 4-Bezieher gelegentlich die Bude verlassen muss, bekam er Probleme.

„He, was läufst du so schief!?“ sorgte sich die Nachbarschaft in Barmbek.

Da kam ihm eine kleine Erbschaft gelegen. Seine Mutter war mit Mitte 80 gestorben und hatte ihm etwas Geld und einen Wagen hinterlassen, einen 16 Jahre alten Opel. Die folgenden 14 Tage, so der M. Boy, erledigte er alles, was es zu erledigen gab, mit dem Auto – ausnahmslos. „Zu Fuß mach ich keinen einzigen Meter mehr.“ Und siehe: der Fersensporn gab klein bei. Wurde immer weniger und zog sich am Ende ganz zurück.

„Der brauchte nur ein bisschen Schonung, der lütte Speer. So mach ich das jetzt immer. Einfach in die Karre setzen und 14 Tage um den Block kurven, bis die Dinge sich von allein regeln.“

*

„Sag mal, was ist eigentlich mit dem Job-Center?“ fragte ich.  „Lassen die dich in Frieden?“

Ich erfuhr, dass sie ihn schon seit geraumer Zeit nicht in Frieden ließen. (Allerdings ist das auch nicht Aufgabe des Job-Centers, das muss man schon sehen. Jeder hat seine Aufgabe zu erfüllen.) Man hatte ihm einen 1-Euro-Job aufs Auge gedrückt: beim Gartenamt der Stadt, wo es Blumenzwiebeln einzugraben galt etc. Durch die ständige Arbeit in gebückter Haltung bekam Mitsubishi Magenprobleme. Er hatte dauernd Sodbrennen. Bis der alte Doktor ihm die Arbeit untersagte, „wenn Ihnen etwas an Ihrer Gesundheit liegt. Bücken ist nichts für Sie.“ Damals mochte ihn der alte Knabe noch. So kam der Mitsubishi Boy aus der Nummer raus, „bücken ist nix für mich“, so wie er am Ende aus so ziemlich jeder Nummer herauskam. Bloß aus der letzten, aus der nicht.

*

Anfang März bekam er in der Nacht starkes Zahnfleischbluten, es wollte und wollte nicht aufhören. „Ich hab gedacht, ich laufe aus, so pumpte das. Da hab ich Schiss gekriegt und den Rettungswagen angerufen, um 2 Uhr früh. Ich bin noch raus auf die Straße gerobbt, damit es schneller geht. Gehen konnte ich nicht mehr.“

Es war zu Beginn der hochkochenden Corona-Krise.

„Echt gespenstisch, wie die beiden Sanitäter da in Schutzanzügen aufkreuzten, mitten in der Nacht… vermummt wie Astronauten. Was ist denn los? fragten sie treuherzig, obwohl ich wie der Tod aussah. Na, ich laufe aus, sagte ich, aber.. Ich hab’s echt nicht geglaubt, die haben mich vor der Tür stehenlassen, mit all dem Blut und obwohl ich nicht mehr gehen konnte… war denen scheißegal. Dabei ist das Bundeswehrkrankenhaus gerade mal 500 Meter entfernt. Das wäre nur ein Klacks gewesen für die, mich dahin zu bringen.“

„Versteh ich nicht. Warum haben die das nicht gemacht?“

„Der eine meinte, es würde reichen, wenn ich früh um acht zum Hausarzt gehe. Sie sind kein echter Notfall. Und schon waren sie weg.“

Ich schätze, in dieser Nacht brach sein letzter Widerstand zusammen. Er hatte schon zu diesem Zeitpunkt kaum noch die Energie, sich für die eigenen Belange so einzusetzen, dass die Rettungskräfte ihn hätten mitnehmen MÜSSEN.

*

„Ich glaub, das war’s mit mir…“, sagte er. Es herrschte Stille am Telefon. „Man merkt ja… ob der Körper.. noch was draufhat… oder nicht. Ich glaub nicht, dass das noch was wird… Den Tod kann man riechen. Es riecht nach Fett.“

Er redete schon ganz langsam, er schob die Worte beinah vor sich her. Ich hab selten ein Gespräch geführt, bei dem mir so mulmig wurde.

„Was machst du zuhause, wenn es dir so schlechtgeht..?“ fragte ich vorsichtig. Ich stellte es mir schlimm vor, dauernd allein zu sein, wenn man so übel dran ist. Dass nie einer da ist, der dich stützt. Weil aber keine Antwort kam, setzte ich ein „vor dich hindösen..?“ hinzu.

„Ja“, sagte er leise. „Gut gesagt. Genau.. Ich dö…se vor mich hin, ja, kann man so sagen.. Ab und zu ein Bierchen.. und einen Kurzen, für die Nerven.“

„Hast du Schmerzen?“

„Zum Glück nicht. Also, außer beim Laufen. Ich humple ja nur noch.“

*

In jungen Jahren war er ein gutaussehender Bursche, ein Beau, ein Gigolo fast. Aber kein Angeber. Eher einer, der vorm Spiegel verschmitzt in sich reinkichert, Junge, Junge, wie kann man nur so unverschämt gut aussehen. Und dann drehte er sich um und betrachtete seinen Hintern im Spiegel, gab sich einen ironischen Klaps und haute einen Blues raus, a cappella, dabei am Tresen den Takt schlagend. Eine Kneipenwirtin in Wandsbek lobte ihn: „Singen kannst du“, sagte sie, „aber dir fehlt das Gefühl.“ Worauf Mitsubishi die Lippen schürzte, als hätte er ein besonders leckeres Bonbon in Arbeit und ein weiteres Mal die Gläser zum Klirren brachte.

„Cool“, sagte ich anerkennend, als er am Telefon davon erzählte.

„Ja. Ging aber auch schon mal nach hinten los… Hausverbot und so.“

„Das gehört dazu.“

*

Doch jetzt im Alter, wo das viele Bier nicht nur den Bauch, sondern auch das Gesicht in Teilen verformt hatte, da schämte er sich ein bisschen für sein Aussehen. Er wollte auch nicht an der Krücke gesehen werden, die er jetzt brauchte, um voranzukommen, er wollte nicht, dass die Nachbarschaft ihn als Rumpelstilzchen wahrnahm. Da blieb er lieber daheim und verließ es nur noch, um im Penny-Markt einzukaufen.

Karfreitag, in den Mittagsstunden. Laut Handy waren wir exakt 24 Minuten und 40 Sekunden miteinander verbunden. Danach hat er mit keiner Menschenseele mehr gesprochen. Er hat sich vom Leben verabschiedet. Er war müde, er hatte Wortfindungsschwierigkeiten. Er hatte keine Lust zu gar nichts mehr.

„Wenn ich schon den Fernseher nicht mehr anmache…“, sagte er und ließ den Satz halbfertig in der Luft hängen.

Ich hörte seine Traurigkeit, als er sagte: „Hier sind so viele Klamotten in der Bude, so vieles, was sich über all die Jahre angesammelt hat… Klamotten, wo ich immer gedacht hab, eines Tages ziehst du die wieder an, die 501er-Jeans, die Sweatshirts, eines Tages,.. wenn du wieder dünn geworden bist, wie früher…“

*

Die Leute in meiner Heimatstadt, die Studio Glumm verfolgen, wissen in der Regel, wer sich hinter welchem Pseudonym verbirgt. Sie wissen, wer Karlos ist, wer der dicke Hansen (†) war, wer der Mann mit dem Buch (†), wer Ringo etc. Doch der Name Mitsubishi Boy warf bis zuletzt Fragen nach seiner wahren Identität auf. Der Grund lag auf der Hand: da er die Heimat bereits vor fast 30 Jahren verließ, (und auch nur für wenige Visiten zurückkehrte), hatten ihn viele schlicht vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn, so ist das Leben.

Er war ein Einzelgänger, aber er hatte seine Kontakte. Mit Burek freundete er sich richtig an. Burek war vermutlich der einzige Freund, den er je hatte, in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern zogen sie durch die Stadt. (Mich als Freund von Mitsubishi zu bezeichnen, wäre eine Nummer zu dick aufgetragen. Wir waren alte Kameraden. Wir hatten den Krieg überstanden.)

Es gibt ein Bild, das sich eingebrannt hat in mein Gedächtnis. Und jedes Mal, wenn es in meiner Erinnerung auftaucht, so wie imposante Bilder das in unregelmäßigen Abständen zu tun pflegen, justiere ich kurz die Schärfe, schon steht es in seiner ganzen Pracht vor mir. Es muss zum Jahreswechsel 1978/79 gewesen sein, als wir nach Mitternacht in Hansens überfüllter Karre saßen und am Werwolf entlangfuhren. Es lag Schnee in dieser Nacht, und es schneite immer noch. Wir mussten Schritt fahren, der Untergrund war rutschig. Da tauchten plötzlich wie auf einer riesigen Leinwand der Mitsubishi Boy und Burek auf, wie sie im dichten Schneetreiben die Kreuzung Werwolf freizuschaufeln versuchten. Sie hatten irgendwo zwei Schneeschippen organisiert und machten auf Monty Python, nur fürs eigene Plaisier. Ich erinnere mich, dass wir stehenblieben und zuschauten, wie die beiden im knalligen Laternenlicht mit extra-ausladenden Schaufelbewegungen ihren WINTERDIENST ableisteten, man hörte ihr von Schnee gedämpftes Gelächter. (Wie wir später erfuhren, kamen sie direkt von Bureks Bruder Freewheelin‘ Franklin, bei dem es Feuerzangenbowle gegeben hatte. Und selbst während der Slapstickeinlage am Werwolf leerten sie eine halbe Flasche Asbach.) Es war ein irres Bild, die Unmengen Schnee, das grelle Kreuzungslicht, und mittendrin der Stadtdienst Ordnung. Für mich ist es bis heute das definitive Bild der späten 70erjahre.

*

Im betrunkenen Zustand rief der M. Boy die halbe Welt an, am liebsten mitten in der Nacht. Besonders die alten Weggefährten aus seiner Solinger Zeit mussten dran glauben. Viele reagierten genervt, wurden nicht klug daraus, was der Mann überhaupt wollte. Er konnte schon anstrengend sein. Und wenn Mitsubishi noch etwas konnte, dann kryptisch reden. Er hatte ja selbst keine Ahnung, was in seinem Kopf los war.

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Es gibt nix schlimmeres für einen gesetzten Seemann
als seiner Mütze hinterher zu laufen
ach was ,sie zu sehn
wie sie davon fliegt
wegen einer blöden WINDBÖE!

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„Der liegt bestimmt tot in seiner Bude“, meinte die Gräfin, als ich ihr von unserem letzten Gespräch und seinem schlechten Zustand berichtete. Doch was sollte ich tun. Alles, was ich hatte, war seine Handynummer. Im Nachhinein ärgerte ich mich natürlich, ihn nie nach seiner Adresse gefragt zu haben, genau für so einen Fall, wie er jetzt eingetreten war. Wen sollte ich jetzt informieren? Wer konnte eingreifen? Die beiden Geschwister? Von seinem jüngeren Bruder wusste ich den Vornamen und dass er in Köln lebte, doch für Google existierte ein Mann seines Namens nicht. Nicht in Köln, nicht in Deutschland. Mitsubishis Schwester lebte in Solingen und hatte ihren alten Jugendfreund Thomas geheiratet, das hatte Mitsubishi mir erzählt. doch sein verdammter Nachname wollte mir nicht einfallen. Ich kannte ihn aus dem Haus der Jugend, aus den frühen Siebzigern. Er hieß Thomas… Sowieso. Ich rief Karlos an, doch auch Karlos musste passen. Ich schickte Burek eine Email. Ihm fiel der Nachname auch prompt ein,  er wusste sogar, warum der Mitsubishi Boy Mitsubishi Boy hieß, doch es nutzte alles nichts. Auch Thomas K.  existierte nicht, wenn man sich an Google wandte.

*

Dienstag nach Ostern fing ich an, Krankenhäuser abzutelefonieren. Mitsubishi hatte erwähnt, dass er nicht weit vom Bundeswehrkrankenhaus Wandsbek wohne, keine 500 Meter entfernt. Dort fing ich an. Nein, man hatte ihn nicht aufgenommen, doch die überaus freundliche Dame rückte immerhin seine Adresse heraus. Sie stattete mich außerdem mit den Telefonnummern weiterer Hamburger Kliniken aus. Ich rief eine nach der anderen an, ich hakte ab. Nirgends konnte man mit seinem Namen etwas anfangen. Der Mann im KH St. Georg meinte, rufen Sie bei der Feuerwehr an. Wenn es bei Ihrem Freund über Ostern einen Notdienst-Einsatz gab, weiß die Feuerwehr davon.

Am folgenden Tag rief ich die Feuerwehr an, doch auch hier, nichts. Letzte Möglichkeit war die Polizei. Ich googlemapte das seiner Adresse nächstgelegene Kommissariat raus, rief am 17.4. an und schilderte alles. Der Rückruf der Kripo kam 4 Tage später: „Ich muss Ihnen leider mitteilen.. wurde tot in seiner Whg. aufgefunden.“ Man vermutete einen natürlichen Tod. Dennoch wurde routinemäßig eine Obduktion angeordnet. Mehr erfuhr ich nicht vom Kommissariat 35.

*

Den Sturm aussitzen.

Abwettern, sagt der Seemann.

Abkacken, der Mitsubishi Boy.

„22 Monate das Gerassel der Schließer in den Ohren“, stöhnte Mitsubishi, als er von seiner Zeit im Knast erzählte, wegen Drogenschmuggels, „und mittags Erbsenpüree.“

*

An einem Sommermorgen 1991 ging das Telefon. Der Mitsubishi Boy war dran und fragte, ob ich Lust hätte schwimmen zu gehen. Warum nicht, sagte ich, aber ich bin blank. Halbe Stunde später stand er vor der Tür, mit  seiner moosgrünen Gangsterkutsche. Auf dem Boden eines Schwimmbeutels lag ein Zwanzigmarkschein begraben, unter Handtüchern und sonstigem Badezeugs. Ich musste ihn mir selbst herausfischen.

„Tu was für dein Geld, alte Frau Glumm.“

Wir fuhren runter ins Freibad Schellberg, dem Unikum unter den bergischen Freibädern. Im Talkessel hatte man den steilen Abhängen Liegewiesen abgetrotzt, auf denen die Badenden in der Sonne lagen, wie Vögel, die an Steilküsten brüteten, in Badehosen.

„Ich fang morgen meinen neuen Job an“, sagte der Mitsubishi Boy, als wir am Kiosk saßen und Bier tranken. „Das ist mein letzter Versuch. Wenn der Job nicht klappt, haue ich in den Sack und geh nach Hamburg. Ich hab die Nase voll von dem Nest hier. Wer sich hier aufrichtet, holt sich sofort ne blutige Nuss.“

Außerdem habe er die letzten fünf Jahre nichts anderes getan als mit seiner Katze rumzukrebsen. Auf der Silvesterparty von 90 auf 91 hatte er eine süße Schweizerin kennengelernt, die in Hamburg auf die Schauspielschule ging. Ein charmantes Ding, wie Schwyzerinnen so sind. Warmherzig, sprunghaft. Schön und süß, auch das. Aber zunächst mal war da der neue Job, sein letzter Versuch in der Heimat Fuß zu fassen, in einem Keramik-Vertrieb. Auf dem Lager. Am Montag war der Chef noch ganz angetan von Mitsubishi und versprach, ihn bald als Vorarbeiter zu beschäftigen. „Brauchst du dich nicht länger mit dem Pack hier rumzuschlagen“, sagte er, womit er die Russen meinte, die die ganze Maloche machten. Mittwoch ging die erste Vase zu Bruch. Tags drauf zerschoss Mitsubishi mit dem Elektrohubwagen eine Palette Keramikfrösche aus Fernost – Schnickschnack alles, aber Schnickschnack, dem die Firma ihren ganzen Umsatz verdankte. Die Kündigung kam Freitagmittag per Einschreiben,

Im Herbst siedelte der M. Boy um nach Hamburg. Er war 30, sein Vater kurz vorher gestorben. In den folgenden Monaten rief er ab und zu an, wenn ich im Turm-Hotel Nachtdienst hatte. He, du Nachtgesicht. Er wohnte in einer Schrebergartenkolonie in Wandsbek und hatte voll den Schimmel in den WändenBleib mal eben dran!, rief er und spielte mir ein neues Blues-Stück vor, das er irgendwo aufgetan hatte. In Deutschland haben alle den Blues, sagte er, aber keiner spielt ihn. Is doch Kacke.

*

Die Leute, die aus SG wegziehen, tun dies in aller Regel, um die Welt kennenzulernen, um etwas zu erleben. Man spricht nicht umsonst davon, sich zu verändern, wenn man den Wohnort wechselt. Mitsubishi aber blieb, wie er war. Er machte aus Hamburg ein großes Solingen und lebte sein Leben einfach weiter wie zuvor. Mit dem Unterschied, dass ihm wohl die alten Leute fehlten. Sonst hätte er nicht so oft in der alten Heimat die Leute aus dem Schlaf telefoniert.

Ich blieb der alte Loser
ich fühl mich nicht als Tourist aber heimisch ist auch was anderes , sowas teilt man am besten mit Freunden oder Freundinnen
Ich hab hier meine Lieblingsplätze und muss nicht grossartig suchen
Reeperbahn oder Hafen spielen da gar keine Rolle
Ich bin halt ne Ouittsche wie der Hamburger sagt.

so Long!

*

Kam er anfangs noch regelmäßig in die alte Heimat und besuchte uns am Kannenhof, (Weihnachten), wurde es mit den Jahren immer weniger. 2008 oder 2009 ging das Gerücht um, dass der Mitsubishi Boy tot sei. (Wovon ich nichts mitbekam.) Burek kondolierte sogar seiner Mutter, als er sie zufällig auf der Straße traf, zum Tod ihres Ältesten. Sie muss ganz schön blöd geguckt haben.

Erst 2010 ging wieder das Telefon, der Mitsubishi Boy war dran. Die Stimme etwas tiefer, versoffener. Ansonsten war er der verwirrte Beau, wie eh und je.

„Aber jetzt mit Bierbauch!“, meckerte er fröhlich.

Auf seine dahinjagende hechelnde Art verblüffte er ganz wie früher mit eigenen Betrachtungen zur Lage der Nation. „Die Wirklichkeit besteht ja nicht nur aus Rätseln, die Wirklichkeit besteht aus Dramatik, Kultur und Tinnef. Und wenn alles zusammenkommt, ich meine, der ganze Matrosenkram und alles, tja, min Jung, dann ist das Schönste immer noch: Blumen kaufen.“

„Ja genau“, strahlte ich. „Da ist was dran.“

*

2014 gab es eine Lesung in Hamburg, ich hatte leichtfertig zugesagt. Etwa eine Woche lang suchte ich fieberhaft nach einer Ausrede, warum ich nicht kommen könnte. Ich biss mich in den Arsch, dass ich zugesagt hatte, aus einer Laune heraus. „Ich möchte doch nur zu Hause bleiben“, klagte ich der Gräfin mein Leid.

„Nun fahr“, sagte sie nur. „Man muss tun, was man tun muss.“

3. Oktober. Tag der Lesung, Sonnenschein, zwanzig Grad, blauer Himmel. Perfektes Wetter, um für immer unterzutauchen. Eine Stunde vor der Lesung, die im Schanzenviertel stattfand, einen Steinwurf von der Roten Flora entfernt, tauchte Mitsubishi auf, genau in dem Moment, als ich ihn laut Anruf-Protokoll meines Handys zum 11. Mal innerhalb der vergangenen beiden Stunden vergeblich zu erreichen versuchte. Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Ich blickte die Außentreppe runter und da stand er, live, unten im Garten: Der Mitsubishi Boy. Viel zu große Sandalen, NATO-Jacke, Trinkerhände. Später erzählte er, dass er mich erst gar nicht erkannt hatte, da oben auf der Treppe. „Ich dachte, du wärst der Türsteher, ich fragte mich schon, ob du mich überhaupt reinlässt mit meinem Bier in der Hand.“ Ich winkte ihn hoch, und als er oben war, lagen wir uns kurz in den Armen.

„Du siehst verdammt schlau aus mit deiner Brille“, spottete er, als er oben ankam, außer Puste.

*

In der Nacht zogen wir über die Reeperbahn, im Schlepptau meines Neffen und seiner Frau, die ebenfalls in Hamburg lebten, mitten in St. Pauli, und  mit jeder Buddel Weisswein mehr zu glühen begannen. Im Silbersack schilderte Mitsubishi, schon reichlich angetrunken, wie er einmal Romina Powers und ihren Mann im Penny-Markt am Alten Teichweg gesehen hätte.

„Jetzt sind sie geschieden.“

Mein Neffe kriegte sich nicht mehr ein. Er kannte Mitsubishi bislang nur dem Namen nach, aus meinen Geschichten.

„Übrigens, ich hatte auch Mitsubishi Boy-Texte dabei, die hätte ich auch lesen können“, meinte ich zum M. Boy, doch der wehrte nur ab, Flasche Bier in Arbeit.

„Ach wo, das wär doch albern gewesen.“

*

Soll mal einer sagen, ich wäre kein Glückskind. Erst schenkt mir der Mitsubishi Boy als kleine Aufmerksamkeit zum Wiedersehen eine einzelne, in Alufolie gewickelte Filterzigarette der Marke St. Pauli, (obwohl ich seit 2 Jahren nicht mehr rauche), dann finde ich in der Nacht meine Brieftasche wieder, die ich auf dem Männerklo verloren hatte, ohne es überhaupt zu bemerken.

Bis morgen um drei waren wir zu viert über die Reeperbahn gezogen. Zwischendurch verloren wir uns aus den Augen, jeder war plötzlich woanders, alle waren weg. Wir simsten wild hin und her, wer gerade wo in welcher Kneipe auf wen wartete. Eine übermütige ausgelassene Stimmung herrschte überall in den Straßen, es war langes Wochenende mit Getümmel im Silbersack, Crazy Horst, Roschinsky. Und dann noch die Sache mit der verlorenen Brieftasche. Unglaublich, aber wahr: ich hatte sie im 73 verloren, dem Kulturzentrum, als ich aufs Klo gegangen war. Danach saß ich wieder mit Mitsubishi, meinem Neffen und seiner Frau zusammen. Wir tranken Bier und Schnaps. Freunde der beiden kamen vorbei. So der lange Heiner, der kurz vor der Lesung einen Salsa-Kurs besucht hatte, um seiner neuen spanischen Freundin zu imponieren. Heiner turnte auch gleich vor, wie man als hüftsteifes Nordlicht den nötigen Hüftschwung herstellte, nämlich indem man sich über Kreuz ans Knie fasst. Als Mitsubishi das probierte, lag er auf der Nase wie ein Käfer und kam kaum wieder hoch.

Meine Blase kam in Schwung, ich musste wieder pinkeln. Ich stiefelte runter aufs Klo, sondierte eher nebenbei den mit Gumminoppen ausgelegten schwarzen PVC-Boden, als mein Blick zufällig, nahe einer Tür (PERSONAL), auf eine Brieftasche fiel, die mir bekannt vorkam. Das ist doch deine, dachte ich. Ich kapierte erst gar nicht, warum sie da lag, was sie da zu suchen hatte und warum sie nicht (wie sonst) in meiner rechten Gesäßtasche steckte. Erst da begriff ich: ich musste sie schon bei meinem letzten Gang aufs Klo verloren haben..! Ich hob sie auf, schaute hinein, es war alles da: Bargeld, Bankkarten, Ausweise etc. Es war kaum zu fassen. Da verlor ich mein Portmonee, das relativ prall gefüllt war (inklusive Honorar für die Lesung & Kohle fürs Rückfahrticket) und eine geschlagene Dreiviertelstunde später finde ich das Ding zufällig (und vollständig) auf dem Pott wieder, weil sich niemand danach gebückt hatte. Was hatte ich ein Schwein gehabt…

Nachts, auf St. Pauli.

„Jetzt kacke ich echt ab.“ (Mitsubishi)

*

“Ich mein, es ist schon schwierig, als verkrachte Existenz durchs Leben zu kommen, doch mit mehreren verkrachten Existenzen in einer einzigen Person, mein Lieber, da wird’s knifflig. Da zeigt sich der Champ.“

*

Die Sauferei hat ihn dahingerafft. Er hinterlässt eine Lücke, die niemand schließen kann, was mich betrifft. Dafür war er einfach zu selten. Sanne hat es einmal so beschrieben.

„Da steht ein Haufen Eisen am Straßenrand, jede Menge rostiges Zeugs, aufgeschüttet für den Altmetallhändler. Und ganz oben sprießen Maiglöckchen und Pusteblumen, wo man sich automatisch fragt, wie sind die dahin gekommen..? Das ist der Mitsubishi Boy.“

Das war der Stefan.

*

Er hatten guten Draht zu seiner Mutter. Die beiden fuhren viele Jahre gemeinsam in Urlaub. Jeden Sommer erreichten uns Postkarten von der Küste. Moin Moin! Als die Mutter starb, erbtMitsubishi ein bisschen Geld und den Wagen, den sie gefahren hatte. Eine nicht mehr ganz taufrische Kiste, doch es reichte, um nun allein an die See zu fahren und oben am Deich den Regiestuhl aufzubauen. Das hatte er auch diesen Sommer vor,

ein letztes Mal das Meer sehen und den blauen Himmel.

(15. März 2020 um 15:25)

*

„versprochen !
passt auf euch auf !-
wir kriegen das gebacken!!“

(Seine letzte Nachricht. 07. April 2020 um 02:09)  

 

„Stefan mein Freund.. wie ist es?“

(Meine letzte Nachricht. 11. April 2020 um 10:39)

 

 

Haarklemmen

 

 

Zerbrechliche Armlehne (Lied des Odysseus): Heute Nacht habe ich entdeckt, dass Haarklemmen im Traum als Speichermedien einsetzbar sind. Ab sofort kann ich viel mehr Material herüberschaffen. Ich kann jetzt viel mehr Träume realisieren. Ich muss es nur noch zusammenbringen, Haarklemmen in meinen Traum hinüberzubringen. So ein „toller“ Makler bin ich. Ach, und wenn ich – so toll, wie ich bin – auch Herkamen herüberbringen würde, hierher, wo ihre Träume schon sind? Wenn ich beim griechischen Übersetzen die Geschichte neu schriebe? Für Leute, die mit Makrelen kraulen, seit sie naeherkamen, am Haken des Traums, fremde Kraehen überm Wasser zu sichten. Wenn ich meine Marken verkaufte und stattdessen Anker erstünde, die ich lichtete, um Leute auf Almen zu bringen, in herrliche alpine Lüfte? Im Sozialprodukt stecken der Stil, der Skiort und die Short. Das ist bekannt. Doch habe ich, als ich aus dem Griechischen übersetzte, entdeckt, dass auch der Port drinsteckt, ein Fremdwort, das Berge versetzt. Ich meine, es wäre das Spiel durchaus wert, wenn man in der Heimat einen Hafen sehen möchte.

 

Herdenflat

 

Diese Flatrate ist der Hammer! Je mehr Herdeninfo Ihr täglich auf Euer Gehirn runterladet, desto immuner werdet Ihr gegen Corona, wusstet Ihr das? Seltsam jedenfalls, dass es plötzlich so selbstverständlich sein soll, eine Herde zu sein; ich dachte sowas finden nur Schafe normal. Wohingegen Videos nicht mehr viral gehen dürfen, weil das zwar früher was Gutes war, jetzt aber tödlich klingt.
Tja.
Umdeutungen von Bedeutungen. (Nennt es Reframing, das klingt nicht so nach Dunkelkammer)
Unser Krisenmanagement jedenfalls hätte am liebsten –
Hm ..
Den Wumms von oben vielleicht. Der das Virus allerdings nur weiter in Zaum halten kann, wenn alle Schafe, sprich heimliche Individuen in offensichtlichen Körpern, schön hinterm Gatter bleiben.

Was allerdings zunehmend zum Problem wird, denn so ziemlich alle von uns laden inzwischen ihren eigenen Wumms, sprich Frame, sprich ihre Interpretation der Wirklichkeit in so ziemlich alle denkbaren Kanäle hoch.
Als es vor ein paar Wochen so eng wurde mit dem Virus und den I n t e n s i v betten (gruselig) sind wir ja ganz gern eine Weile in den gesellschaftlichen Schulterschluss gegangen, doch der Pulverdampf der Argumente…
w e r  soll denn da noch  w i e  durchblicken…

– Hey! Zeit, wieder übers Gatter zu springen!!!
Hopp..
Hopphopp…

Ein Schaf nach dem anderen löst sich von der Herde. Die ersten von uns wuppen aus dem Stand über die Absperrung, andere müssen mächtig Anlauf nehmen, wieder andere wandern ganz beiläufig am Zaun entlang, um zu gucken, wo wer schon was weggerissen hat, um selbst Zeit und Ressourcen zu sparen, andere buddeln sich ’n Tunnel nach draußen…
Fest steht, wir fallen alle so schnell vom Wumms unserer Krisenmanager ab, wie wir die Hufe hochkriegen können.
Hiermit führe ich ein neues Verb ein, ich nenne es drosten. Da wir die Herdenflat haben könnt Ihr’s gerne millionenfach runterladen, kostet ja nichts extra, also, jemanden zu drosten bedeutet ab sofort, ein Individuum in die Mitte der Herde, sprich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
Sorry, aber da muss ich dich jetzt mal drosten.
Ey, droste mich nicht voll.
Mann, hat der gestern abgedrostet.
Man kann jemanden von der Seite androsten oder auch extrem zudrosten, das Verb hat allerhand Potential und ist ab sofort freigeschaltet.
Ob es Immunität verleiht ist noch ungeklärt, aber vielleicht ja Flüüügel.

 

14/20 – Air

 

Und die Engel fassen sich zusammen. Eine Blume durchquert ihren Schattenwurf. Ausserhalb ist der andere Teil unserer Selbst, das Innere spiegelnd. Stehe ich dort, sehe ich in die Weite und denke die Welt rund. So komme ich immer an. Nicht immer da, aber sicher dort, wenn ich nur lange, sehr weit gehe. Gehend bin ich noch immer. Immer noch gehe ich. In Wirklichkeit ist es nicht so. Stets bleibe ich. Ich bleibe und meine Seele geht rundherum. Sie entschlüpft und landet. Immer von Neuem. Ich füge mich der Geschichte. Die Seele schüttelt den Kopf. Ich überlege, ob eine Seele einen Kopf hat. Die Seele ist ein Wunder. Wunder müssen nicht Köpfe schütteln. Oder vielleicht doch? Die Zeit läuft davon und ich bleibe stehen und sehe ihr nach. Es muss noch etwas anders geben wie sie. Wie sonst könnte ich ihr zusehen, wie sie eilt und meinem Blick entschwindet?