Archiv der Kategorie: Ausgabe 02/2014

Casablanca

den ganzen Tag über brennen die Straßenlampen. beleuchten natürlich nichts, weil die Sonne viel heller ist. verdunkeln eher. Z.B. die zahlreichen Baustellen, die eigentlich Nähmaschinen sind. hier wird der Stoff genäht, hinterm dem sich Tod & Sex verstecken / der immer wieder zerreißt. durch die Risse sehen wir in ein Loch, durch das es mörderisch zieht. sofort kommen uns die Tränen, doch nicht aus Trauer, sondern vom Luftzug

es ist immer neblig hier, immer Smog, deine Haut ist immer salzig, weil du immer schwitzt. das Wort „immer“ hat in dieser Sprache eine andere Bedeutung: „dima“= der Vorname eines Prinzen mit stolzem Blick. die Schaufensterpuppen gucken eher genervt, tragen Jellebbas: eine hat Haare vor den Augen, eine andere auf den Zähnen

Tankstelle

Halle aus Licht am Rand des Geländes,
mein fahriger Blick streift Ungefähres.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

In der Rechten flexibel den Schlauch,
in der Linken den dinglichen Stutzen.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Der scharfe Geruch ein sinkender See,
an der Säule salutieren die Zahlen.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es klirren die Sporen an meinen Stiefeln,
im Radio die Beichte einer Gitarre.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Was hinter mir liegt, schafft eine Leere,
die will ich befüllen mit all meiner Kraft.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es liegt ein duftendes Sehnen im Abend,
dies sei der Moment, in dem es geschieht.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Himmelsfänomen zu Pfingsten

Gegen Abend des jüngst vergangenen Pfingstmontags sammelte sich eine weißgraue Wolkenmasse über Mauenheim. Anders als der gewöhnliche hiesige Leichentuchhimmel besaßen diese Wolken plastische Ausprägung: ein sich ballendes, sackartiges, gen Betrachter ausgebeultes Knäuel, das seinen Schwerpunkt zu justieren und wie zufällig knapp neben das Bezirksrathaus zu zielen schien: ein Bündel Himmelsmacht mit Vorbotenfunktion, das stundenlang stumm und angespannt reglos über den Dächern wartete. Auffällig waren die Furchen, die, Strömungsrippeln vergleichbar, das zusammenhängende Massiv in fleischige Sektionen teilten, eine gewaltige umnetzte Schinkenkeule als Thorshammer auf dem Schoß eines unentschlossenen Engels, zugleich Botschaft höherer Mächte: “So etwas habt ihr noch nie gesehen, merkt euch, wir können das!” Die Vögel hüpften und huschten durch die niederen Lagen des Hinterhofs, führten aufgeregte Diskussionen. Das Gezwitscher, Gegurre und Gekecker dauerte ungefähr eine halbe Stunde und schlug schließlich in nackte Angst um. Als erste verpissten sich die Amseln, die im Hof als relative Vernunftvögel gelten. Die selbstverliebten Tauben, die großkotzigen Elstern: zeigten grad mal noch ein paar Sekunden Attitüde, nachdem die Amseln verschwunden waren, und rauschten dann ziemlich kleinlaut ab. Joseph, das Eichhörnchen (von einem verächtlichen Menschen paradoxerweise benannt nach Benedikt XVI., weil nach dessen Inauguration eine britische Zeitung geschrieben hatte, der Mann sähe aus als würde er heimlich mit Wollust Eichhörnchen verspeisen), das putzigste und klügste Tier des gesamten Hinterhofs, war bereits in der Woche zuvor abgetaucht.
Mit dem Auftreten der seltsamen Wolken war das Internet ausgefallen, viele Nachbarn standen deshalb auf ihren Balkonen. Und standen dort lange. Einzelne Profezeiungen: “Jewitter”. Zur Tagesschau schwärzte der Himmel sich wie bei einer Sonnenfinsternis, doch ohne vorauseilenden Sturm. Es wurde ganz still, sogar diejenigen Nachbarn, die sonst bei jeder Gelegenheit den Hof mit Chart-Hits beschallen, harrten schweigsam der Ereignisse wie rückwärtig erfaßte Menschen auf einem Oelze-Gemälde, die ein Oelze-Gemälde betrachten. Offensichtlich: die Nacht war zwei Stunden früher angebrochen als um diese Jahreszeit üblich; Wind kam auf und säte Sturm. Jenseits der Neusser Straße verwandelte Mauenheim sich in eine Blitzkugel. Die Engel schnippten grünliche, gelbliche Lichtscheiben über die Dächer. Ein computeranimierter Regentropfen erkundete den Hinterhof, vereinzelte echte Tropfen stürzten sich, um Eindruck zu schinden, in Kamikazemanier auf das Pflaster. Das anhaltende Blitzgeflacker über Mauenheim konnte Krieg bedeuten, es war möglich, daß einige Widerständler abgeleitete Blitze und von Silvester übriggebliebene Feuerwerksraketen in den Himmel zurückfeuerten. Doch keinerlei Detonationen, noch irgendeine verläßliche Nachricht aus dem Frontgebiet drüben im Nibelungenviertel. Ein Krachen und die Front verlagerte sich ansatzlos in den Hinterhof. Zu diesem Zeitpunkt keine Überraschung mehr. Die Bäume verneigten sich vor dem Eindringling, allen voran die Zierkirsche. Der im äußersten Blütenstand begriffene Holunder zupfte sich einzelne Blätter aus und streute sie fraternisierend dem Feind entgegen. Der einmarschierte Wind enthielt ein Gemisch aus Sand, sprühender Feuchte und fernen Feuerwehrsirenen. Die Böen: Nahkämpfer mit Spezialausbildung. Ein widerständiger Nachbar, von einer Ninja-Böe überrascht (von hinten unter den Achseln durch an Kinn und Nase gepackt, die Knie wohl eingeknickt), verschwand zappelnd hinter seiner Balkonbrüstung. Das Gewitter nahm seinen Lauf, die Blitze hatten sich mittlerweile mit dem Donner abgestimmt, der Starkregen führte Plastikmüll mit sich und triumfierte für eine Stunde. Kurz vor Sonnenuntergang endete die Nacht, die Sonne ging, die Nacht kam zurück.
Anderntags berichteten die Medien (das Internet funktionierte wieder) von sechs Todesopfern des Unwetters im Rheinland. Über Mauenheim hatte der Dämon nur kurz gelacht und den ansässigen Menschenstamm mit einer lockeren Demonstration seiner Fähigkeiten in den nachpfingstlichen Alltag entlassen.

Soldier of Love

you got this strange defect on me
and I like it
you make my world seem wrong
you make my darkness shine, oh yes
I got this strange effect on me
and I like it

Song 1
Song 2

Philip Roth, Exit Ghost:
„Mein erster (…) Eindruck war der von einem Mann, der das Opfer einer generellen Verwirrung war – mit achtundzwanzig bereits gedemütigt durch die mangelnde Bereitschaft der Welt, sich seiner Kraft und Schönheit und den dringenden persönlichen Bedürfnissen, denen sie dienten, bereitwillig zu unterwerfen. Das war es, was aus seinem Gesicht sprach: die wütende Erkenntnis eines unerwarteten, gänzlich lächerlichen Widerstands.“ (S. 110)

Wir ließen das Forsthaus zurück. Zwei Bilderbuchfamilien ersetzten uns. Eine Zwölfjährige hatte noch von ihrer ersten E.-A.-Poe-Lektüreerfahrung erzählt. Es ging um Kannibalismus, glaube ich. Während dieser paar Tage hatte ich ständig Verdauungsprobleme. Zwei warme Mahlzeiten pro Tag und der übliche Feierabendunsinn. Ich habe auch mal wieder ein Kilo zugenommen. Ich habe seit Tagen in keinen Spiegel gesehen.

„Mir hast du krank besser gefallen.“
„Was soll das heißen?“
„Du hast nicht alle mit deiner Sichtbarkeit verschreckt.“

Mir gelang ein Foto. Kirsten Dunst setzte sich auf mein Gesicht. Wie eine Wespe. „Zu nackt fürs Vaterland.“ Später richtete sich ein ganzer See nach ihr (sie war als Einzige im Wasser). Man liest ihren Namen auf Barkassen, auf Gedenktafeln. Diskretionen vs. Quäkquellen. Als wir flach im Kornfeld lagen, ordentlich bekifft, und Änderung so möglich schien, ein Indieluftsprengen der dörflichen Welt. Daran erinnerte ich mich. An Narrenkappenträger in den Nachtbars in der Sommerzeit. Damals, bevor uns die Maschinen kriegten.

„Ich will eine SMS von dir.“
„Warum? Magst du keine Telefonate?“
„Ich kann deine Stimme nicht hören.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Das musst du auch nicht. Sagen wir so: Die Maschinen stehen woanders.“

Über der Kleinstadt ging ein Gewitter herunter, während wir unter dem Dach der kleinen Bushalte saßen und auf den Rufbus warteten, der dann ein Taxi war und uns für zwei Euro zum Bahnhof brachte. Dem Fahrer fehlten Kleingeld und ein guter Blick für die eigene Körperpflegebedürftigkeit. Wir sahen dem wackelnden Wald zu und schwiegen die Fahrt über. Wir fuhren zurück, endlich. Hinter Angermünde öffnete sich der Himmel. Wir fuhren zurück, in eine Stadt voller Taxis.

Die Welt ist groß, aber kleinteilig.

Es fehlt eine Geschichte. Die von der Amnesie nach der durchrauschten Nacht. Eine weitere Nacht mit vielen Intoxikationen, eine Nacht in einer Bar ohne Filter, mit Sternschnuppen, mit gedämpften Frühlingsgefühlen. Jedenfalls, zu merken war nicht viel, viele Gläser, viel Gespräche, ein Zucken in den Augenlidern, ein Blick wie aus einem Wäschekorb, und irgendwann stand ein Taxi an der Straße. Die Lichter der Großstadt, die über die Heckscheibe wandern. Ein französischer Film. Eine bewusstlose Nacht. Am nächsten Morgen klingelt das Telefon. Ein Körper, der die Decke zur Seite schlägt und Schritte macht. Eine Tür wird geöffnet. Ein Gespräch angenommen. Der ideologische Staatsapparat ist dran. Zu hören sind nach ein paar Floskeln und Formeln weiter nichts als ein Rums und das Geräusch des Auflegens. Und dann fiel die gesamte Gedächtnisleistung aus. C’est pas vrais, doch, genau so.

novela corta #48

vier meer aquarelle

eigentlich wollte der kobboi heute auch mal ein selfie machen, aber er schaffte es nicht. ob es an der rauen see lag oder ob ihm die koordination fehlte, konnten wir nicht feststellen.
fest steht, dass katharina vasces gerne ein portrait von ihm hätte. was er wiederum nicht verstehen kann, denn lebendige gesichter brennen sich regelrecht in seinen kopf. so hat er frau vasces natürlich immer bei sich.
nun geht er zum leuchtturm, um sich real bei katharina vasces zu zeigen. irgendwann bleibt sein gesicht in ihren gedanken hängen – jedenfalls hat sie ihn bisher immer wiedererkannt.

Anfechtungen

Im Atelier direkt über dem meinigen singt ein junger Mann: nicht sonderlich gut, aber inbrünstig. Es wird einer der Maler sein, oder ein Bildhauer. Jene, die aufgrund ihrer Sangeskünste ein Stipendium innehaben, proben meistens zu zweien in den Räumen am Ende des Korridors, die sind mit einem Klavier ausgestattet.
Der Korridor ist lang, sehr lang, und gesäumt von Holztüren, auf denen jeweils ein kleines Messingschild prangt mit dem Namen des Landes, welches das Atelier und das Stipendium bezahlt. Manchmal ist es auch eine Stiftung. Oder etwas ganz anderes. Auf meiner Tür, beispielsweise, steht:

Atelier François Preziosi
Tombé en mission le 17. Août 1964

Ich habe nachgelesen. François Preziosi. Ein italienischer UNHCR Mitarbeiter der International Labour Office. 1964 verlor er sein Leben bei dem Versuch, ruandische Flüchtlinge im Ostkongo zu beschützen.
Ein merkwürdiges Gefühl, in einem Atelier zu wirken, das mit dieser Geschichte verknüpft ist. Fast wie ein Hinweis.
Wie fühlte es sich in mir an, würde ich „arbeiten“ durch „wirken“ ersetzen? Schwing Dich auf, dann kommt auch Wind, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Klingt nach Sanssourir.

Ateliers sind Krisenräume. Wenn eine Stimme etwas anderes behauptet, muss sie künstlich hinzugefügt sein. Keine von meinen.

Alles, was von außen kommt, ist gut.
Alles, was von außen kommt, ist verfälscht.
Für das, was zählt, gibt es kein dictionnaire.
Aber die Mauern.
Dahinter zu sein.
Ich zweifle an mir wie am ersten Tag.
Es gibt einen interessanten Unterschied zwischen authentisch und ehrlich. Irgendwann werde ich ihn herausfinden. Man kann, und das ist wirklich eine große Erkenntnis für mich, nicht alles nachschlagen.

Inbrünstig die Hitze von beiden Seiten; am Tage ganz gewellt. Die Nächte hingegen legen sich wie Lappen übers Gemüt, drücken es flach, sehr sanft, wie ein zum Trost für den Geist ausgelegtes Tuch.
Wenn ich erwache, ist es immer schon hell.

Während wir in den Tag gleiten, sind wir noch alle beisammen, Farah, Sanssourir, Sha’ und ich, erst nach dem ersten Cafe au lait übernimmt eine von uns die Führung. Sha’ indes nicht, sie ist die einzig Abhängige, deswegen spreche ich nicht von ihr. Das verschafft ihr etwas Freiheit.

Er singt nicht mehr.
Etwas hat ihn gepackt, an den Tisch, die Staffelei geführt. Vielleicht liegt er auch auf dem alten, schwarzgrünen Linoleumboden, der sich durchs ganze batiment zieht: gebügeltes Wachs. Kann sein, er hechelt in der Hitze und vom Singen. Ich werde ihn nie kennen lernen. Ich lerne hier niemanden kennen, meide die Künstler im Haus, spreche nur mit Menschen auf der Straße. Berichte aus anderen Krisenräumen? Das fehlte mir noch. Doch eines Abends, gegen Ende hin, werde ich die Tür meines Ateliers öffnen. Ich werde sie mit einem Zettel versehen, auf dem steht:
Venez me voir.

Wer sich dann traut, ist mehr als willkommen. Bis zu diesem Tag indes vergehen noch welche: an denen das gellende Licht wie ein Bulldozer auf die Fassade knallt, durch die ältlichen Scheiben meiner langen Fensterfront, durch meine Poren und mein Fleisch bis ganz tief hinein. Endlich hell von innen. Die Organe sieden feucht vor sich hin.
Ha, eine Wiese, ein Meer! Was tu ich nur? Was ficht mich an, mir ein heißes Stück Metall auf den Schoß zu legen?

DZL-03 DER ZARTE LEIB

Zartleibigkeit wird vermißt,
auch intensive Zartlebigkeit.
Zärtlich gestrichene Haut,
die im Außenleben auflebt,
das sich zunehmend rotfleckig äußert,
als von selbst aufgebrochene Wundmale,

plötzliche Faltenvermehrung.
Schon wieder ein schärferer Blick auf Mädchen,
wie sie vor den Spiegeln hin- und hertanzen,
während sonst Spiegel tabu sind.
Dieses Leben im Ungefähren.

Das Wesen vernebelt sich von selbst.
Dieser erstaunliche Schwund an Wörtern:
als wäre man befreit,
wenn man Wörter verliert.
Diese Scheu, vom Wortverlust zu reden,

als wäre das Reden schon Verlust.
Als wäre Merktechnik eine Schande.
Als wäre die Überwältigung mit Namen
auch eine Namensverwaltungspflicht.
Man könnte jetzt sogar so weit kommen,

den eigenen Namen zu ändern,
um dem Namensauftrag der Eltern
endlich zu entgehn.
Der zarte Leib taucht nicht auf.
Die Lieben erscheinen nicht,
auch wenn sie schriftlich so tun,
als wäre ihr Witz schon Anwesenheit

(2013)

(veröffentlicht in: KOLIK Nr. 62)

Das Blut anderer Leute

Obwohl mir der Anblick von Blut zusetzte, arbeitete ich als Springer im OP. Es war der einzige Job im Marienkrankenhaus, wo man als Zivildienstleistender das Wochenende regelmäßig frei hatte. Ausserdem gab es hundertfünfzig Mark Zulage im Monat, weil dort kein Zivi eingesetzt werden wollte. Als ich mich probeweise für den Dienst im OP entschied, war die Stelle über ein Jahr nicht besetzt gewesen. Der letzte Zivi, der es versucht hatte, war nach einer halben Stunde Hals über Kopf geflohen, mit stumpfem Blick.

Dementsprechend skeptisch wurde ich von Stationsschwester Hildegard empfangen. Eine hochgewachsene nette Person, die unterm OP-Kittel Strickjacke trug und sachte nach Muskatnuss duftete, eine Prise, eine Messerspitze nur, die einem aber unmittelbar ins Rückenmark fuhr, sobald man sich in ihrer Nähe aufhielt.

“Ich hoffe, Sie können Blut sehen..?” fragte sie.

Ich war mir da nicht sicher. Normalerweise brachte mich schon ein Piekser in die Fingerkuppe (zur Bestimmung des Blutzuckergehalts) an den Rand des Nervenzusammenbruchs, aber ich hielt den ersten Tag durch. Die erste Woche. Einen Monat, zwei. Ich blieb bei der Stange, weil ich scharf aufs freie Wochenende war, das war das Riesenextra, das vor meiner Nase zappelte, das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Also gewöhnte ich mich an den ganzen sterilen Kram und daran, den Herren Chirurgen während einer Operation noch die winzigste Schweißperle von der Stirn zu wischen, damit ihnen auch ja nichts ins Auge tropfte, was womöglich die ganze Hüft-OP versaut hätte.

Nach einem halben Jahr geregelter Fünf-Tage-Woche im OP hatte ich mich endlich an den Gestank aufgefräster Knochen und all den spritzenden Blutbrei gewöhnt. Blut ist ja kein Saft, das ist eine Mär. Blut ist ein sämiger, von weißlichen Fasern, Knötchen und Gewebefetzen durchtränkter zähflüssiger Brei, der jedes verdammte Abflussrohr verstopft. Blut stinkt metallisch und süßlich und unheilvoll mittelalterlich.

Wer täglich Umgang mit Blut pflegt, achtet die Schürze.

Diie Hände des Metzgers, Foto aus dem Versteck, 4

Manchmal, wenn es dicke kam, etwa bei Amputationen, wo das Blut nur so sprudelte und es im ganzen OP-Trakt so organisch roch wie im russischen Hundezwinger, suchte ich förmlich die Nähe von Stationsschwester Hildegard, nur um etwas von dieser herrlich leichten Muskatnote abzubekommen und dem ganzen runterziehenden OP-Gestank die Stirn zu bieten.

Eines war merkwürdig, und es blieb merkwürdig bis zum letzten Tag. Sobald ich Feierabend hatte und beim Fernsehen zufällig auf eine unblutige kleine Knie-Punktion im Gesundheitsmagazin Praxis (ZDF) stiess, schaute ich angeekelt weg. Schaltete um. Ich ertrug es nicht. Mir wurde flau im Magen. Es war widersinnig und nicht zu erklären.

Da hatte ich im OP Tag für Tag von Rippenspreizern brutal geöffnete Leiber so nah vor Augen, dass ich hineingreifen konnte in den blubbernden Organpark wie in eine Selbstbedienungstruhe, doch beim Anblick kleinerer Eingriffe im Fernsehen schiffte ich mir in die Hose und stand kurz vorm Kotzen.

Merkwürdige Sache. Keiner konnte es mir erklären. Aber ich erzählte es auch niemandem.

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Meine Hauptaufgabe als Springer bestand darin, von Saal zu Saal zu springen und das Licht über den Tischen einzustellen. Das hört sich einfacher an, als es ist.

Da nicht selten in allen drei Sälen gleichzeitig operiert wurde, war ich auch für alle drei großen OP-Leuchten gleichzeitig zuständig. Bei schwierigen Eingriffen musste das Licht ständig neu in Position gebracht, das Lichtfeld immer wieder nachjustiert und fokussiert werden.

Besonders zu Beginn meiner Zeit als Springer schaffte ich es oft nicht, die um die Lampe herumlaufende Reling so zu handhaben, dass das Licht auf den Punkt gebündelt am Tisch ankam, da, wo es hingehörte, mitten in die kaputte Hüftpfanne eines Patienten etwa, die von einem Implantat ersetzt werden musste. Das war zwar Routine für jedes orthopädisch geschulte OP-Team, dennoch blieb es Milimeterarbeit.

Mehr als ein Mal wetzte der Chef-Metzger ungeduldig das Besteck und konnte nicht fortfahren mit seiner hochbezahlten Arbeit, solange ich den Krisenherd nicht punktgenau ausleuchtete. Die versammelten OP-Schwestern beobachteten mich missmutig, während ich mit dem Halogenscheinwerfer im Clinch war und mich so ungeschickt anstellte, als würde ich beim Darts-Spielen ein ums andere Mal die anderthalb Meter entfernte Scheibe verfehlen.

“Herrgott – wird das heute noch mal was!?” ölte der Chef genervt in seinen Mundschutz.

Wenn die Atmosphäre sich entspannte, widmete ich mich den Augenpartien der Kollegen. Von Kopfhaube und Mundschutz größtenteils verdeckt, war von den Gesichtern kaum mehr zu erkennen. Die Beschränkung auf den Sehschlitz, auf den schmalen Ausschnitt machte noch den müdesten Blick spannend, und mehr als einmal verknallte ich mich während einer ereignislosen Meniskus-OP kurzfristig in den Augenaufschlag einer OP-Schwester, die gedankenverloren nach dem Knochenzement griff, obwohl der Chef ihn noch gar nicht angefordert hatte.

Und mir rummste es im Bauch.

 

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Igor war ein Anästhesist aus Bulgarien und groß wie ein Bär, er hatte Pranken, mit denen er jeden Tunnelbau allein hätte vorantreiben können. Er war eine Ein-Mann-Vortriebsmaschine. Als Anästhesist war sein Platz am Kopf des Patienten. Wenn es bei einer Operation hoch herging und das Blut gleich literweise abgesaugt wurde und in die Glasbehälter rauschte, machte er mir und den Schwestern oft Kniepäugelchen, einfach, um dem Moment die skandalöse Schwere zu nehmen, die Nähe zu Tod und Verderben.

Igor war okay.

Manchmal summte er “Es gibt kein Bier auf Hawaii” und sah unendlich traurig aus.

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Die Krönung der zwölf Monate im OP war natürlich mein letzter Tag als Kriegsdienstverweigerer. Nach einer aufwändigen Bein-Amputation, es war mir freigestellt worden zu assistieren, überreichte mir Schwester Hildegard das gerade abgetrennte, noch warme Raucherbein einer alten Frau, um es ins Krematorium zu bringen. Es war eingewickelt in pastellgrünes Krepp-Papier. Einen Moment war mir, als hätte ich zur Feier des Tages Lorbeer an Schwester Hildegard gerochen, und Rheumasalbe. Aber nur ein ganz klein bisschen, und auch nur einen kleinen Moment.

Ich trug das Bein vorsichtig über die Flure des Krankenhauses, als dürfe bloß nichts drankommen, und verschwand durch den Hinterausgang. Die Sonne schien auf den leeren Hof, mein Schritt hallte übers Kopfsteinpflaster. Ein Bild, das mich bis heute verfolgt, das mich nicht mehr loslässt.

Im Traum seh ich mich mit einem Bein, das niemanden mehr gehört, durch die Wüste irren. Niemand will es haben, ich weiss nicht wohin mit dem Bein, die Karawane ist längst weiter. Ich bin ein Menschenbeinhändler mit einem noch warmen Menschenbein in der Hand, das keiner haben mag. Ja ja, anderer Leuts Genitalbereich tät uns schon interessieren, sagen die Nomaden, aber wen interessiert anderer Leuts linkes Bein.

Wer mit einem Bein unterwegs ist, das niemandem mehr gehört, sieht die Welt anders. Es ist, als wäre Gott ein Witzemacher, und er hat daneben gehauen, niemand lacht.

Das Bein zitterte in meinen Händen.