Wie bin ich traurig gewesen, als wir Port Louis gestern abend wieder verließen! Kaum war ich ins Dickicht der maritischen Stadt eingedrungen, spürte ich es mir in die Adern und aus den Venen strömen: daß ich hier gerne bleiben möchte, zumindest, und ich wußte es wirklich bereits nach zehn Minuten, wiederkehren würde. Und ich schreibe Ihnen das noch heute, fast einen Tag danach, zumal zu Schostkovitschs Cellokonzert, dessen Solopart Sol Gabetta spielt. Seltsames Wort, „spielen“, wenn man von der Durchdringung eines Instrumentes spricht –
Wie also traurig bin ich gewesen, als wir uns von der Insel entfernten, und stand lange noch am Achterdeck und schaute:


Wenn man einem Inselbewohner glaubt, dann könnte man
die Meinung bekommen, dass Mauritius zuerst geschaffen
wurde, und dann der Himmel; und dieser Himmel ist
eine genaue Kopie von Mauritius.
Mark Twain.

Vorher, als ich morgens ankam, ich nahm den allerersten möglichen Bus, hatte ich sofort ein Roti gefuttert, vegetarischer scharfer Gemüsebrei mit Stücken von Kartoffeln im gerollten Fladenbrot. Und auch das süße Lassi hätte es in sich haben können; der bei uns gerade unter Kindern so beliebte „Bubbletea“ ist hierzulande unter die flüssigen Joghurts gelangt, der zusätzlich mit Kofi, einem indischen Vanilleeis, versetzt wird. Indessen im Fleischmarkt, nachmittags, ein Schlachter mit seinen wehen Füßen lag und die Söhne tun ließ, was auch ihr Beruf nun war; er aber schlief, schaute allerdings, ein melancholischer Singh – was auf deutsch „Löwe“ bedeutet -, manchmal nach dem rechten hoch, graunzte ein paar Anweisungen und ließ seinen Kopf zurück in den Traum, auf seiner Schlachtbank, wohlgemerkt:

11. April, 14.28 Uhr.
Die Gläser rollen im Schrank.
Der Kurs genau auf Süd, zwischen 174 und 187 schaukelnd.
Wir haben wilden Wind.
Ich muß mal eben an Deck.
Zehn Minuten lang da oben gestanden, erst nur die Atmos aufgenommen, dann versucht, ein Bild der Gischt hinzubekommen, wie sie immer wieder vorn übers Schiff geht: sprühend, man möchte meinen zischend, sich rasend verfliegend; es ist wirklich allerbestes Windsurf-Wetter.
Und am Achterdeck einen Cigarillo rauchen, dazu verfrüht den Campari Soda, frei stehend aber. Meine geliebte Großmutter sprach gerne von „Matrosenbeinen“, die jemand habe: bekommen habe während der lebenszeitlichen Versuche der Gleichgewichtwahrung. Daran über ich einige Zeit, was schließlich fast anstrengungslos geht. Obwohl meine Waden motzen, wegen der nach wie vor wehen Achillessehne; es war nicht sehr klug von mir gestern, für die ganzen sieben Stunden in meinen indischen ledernen Sandalen loszuziehen. Man gewöhnt sich, um die Sehnen zu schonen, eine bestimmte Gangart an, die nun wieder dazu führt, daß sich abends die Waden verkrampfen. Jetzt aber, im „Matrosenstehen“, hab ich den Eindruck, daß sie sich genau davon lockern.
Und noch mal in den Übersseeclub geschaut. Abgesehen von den zahllosen Kuchen und Torten sieht das Verlockendste so aus (hier an Bord wird immer, zu jeder Mahlzeit, so getafelt):
16.20 Uhr.
Nachmittags Massen von Fliegen auf einem massiven Thunfischstück auf der Fischbank, das rosarote Fleisch fast völlig in wimmelndem Schwarz. Und plötzlich, es ist wie ein süßer Erinnerungsschock, entsinne ich mich, daß ich als Junge von ungefähr fünfzehn Briefmarken zu sammeln begann, was ich allerdings nicht lange durchhielt, und daß damals die „Blaue Maritius“ eine besondere Rolle gespielt; mein Bruder, erinnere ich mich ebenfalls erst jetzt, nach all den Jahren, wieder, hat Münzen gesammelt. Und die Straßenhändler, ganz ebenso plötzlich aufgescheucht, schlagen die Decken um ihre am Boden darauf verteilten Waren zusammen, TShirts, Schuhe, Gürtel, und ziehen die so entstandenen fetten Halbsäcke an die Hauswände und setzen sich drauf, sozusagen tirilierend. Kein zwei Minuten später ertönt von irgend woher Entwarnung, und lässig wird alles wieder ausgebreitet.
Lachend die Blicke und her.
Und neuerlich kommt der alte weißbärtige, weißhaarige hagere Mann heran, ein Verrückter vielleicht, so schimpft er und gleichzeitig singt er und fuchtelt Zeichen vor sich in die Luft, indes ich, als ich, um mich endlich auf den Weg zurück aufzumachen, die Unterführung hinab will, ohne die man da tatsächlich auf Kilometer Länge nicht über die Straße käme, von einem geradezu märchenhaft fetten Schwarzen, der dort auf den Stufen weniger sitzt, als daß er sich in sie hineingegossen hat, ohne jede Lücke, wie ein seit Jahren Vertrauter begrüßt werde. Selbstverständlich grüße ich zurück. Das gegenseitige Lachen auch hier.
Und ich bin in der Moschee gewesen, sogar in beiden, und habe in der ersten, der großen Jummah Mosque, vor dem Bassin, in dem riesige Karpfen und welsartige Fische durcheinanderschwammen, meine Füße gewaschen und mein Gesicht, wie es Islami tun; gegenüber, aber noch in der Moschee, eine offene Koranschule für Acht- bis Zehnjährige, denen der Lehrer, der einen Stock in Händen hält, vorsingt, worauf sie jeweils nachsingen müssen: einen immergleichen, ich sage einmal, Psalm, bis sie ihn noch im Nachtschlaf hören. Einer der Jungen machte dabei einen Fehler und mußte vortreten. Er stand ganz gerade und verzog, nachdem der Stock sausend auf seinen Knabenpopo gepfiffen, nur eine Bruchsekunde lang das Gesicht, gab aber keinen Wehlaut von sich, sondern hing still an seinen Platz zurück, und die Prozedur des Vor- und Nachsingens wurde wieder aufgenommen, wie wenn nichts vorgefallen wäre. Dieser offenen Schule gegenüber, selbstverständlich sitzt man am Boden, ebenfalls am Boden die Korangelehrten, drei oder vier vor den vor ihnen aufgebahrten Büchern. Ein alter Mann, dem ich auffiel, bat mich erst, dann forderte er mich auf, doch bitte ebenfalls zu beten. Ich hätte aber nicht gewußt, zu wem.
