Archiv der Kategorie: Ausgabe 03/2017

DUMMHEIT OHNE POESIE. Und: Wovor ich mich konkret fürchte

avenidas 
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres
un admirador

Eugen Gomringer

Alleen, Blumen, Frauen
und
und?
Ein Betrachter


Keine korrekte Übersetzung ins Deutsche hier. Ein und? mit Fragezeichen. Denn: Man (d.i. der Asta der Alice-Solomon-Hochschule Berlin) liest hinein in die konkrete Poesie, es handele sich hier um die Fortführung einer „patriarchalen Kunsttradition“, in der Frauen „ausschließlich schöne Musen sind“.

Und? Wenn schon.

Nein, das meine ich, selbstverständlich, nicht so. Wenn Frauen „ausschließlich“ schöne Musen sein könnten, dann wäre das nicht schön. Schön ist aber doch, dass und wenn Frauen schöne Musen sein können, auch. Finde ich. 

Wie ist das mit der Konkreten Poesie noch mal gedacht? Die Konkrete Poesie entkleidet die Worte von ihrem semantischen Sinn, ohne freilich damit jemals vollständig erfolgreich sein zu können. Denn die Konkrete Poesie spielt mit den Worten, ihrem Klang, ihrem Zeichencharakter und – ein wenig, ein wenig, trotz alle dem  – mit ihrer Bedeutung. Sie scheitert damit zwangsläufig, je gelungener sie ist, mit jedem Mal, das sie Worte verwendet, an ihrer Konkretisierung. Und darum geht es. 

Und dann:
Alleen (pl.), Alleen (pl.) und Blumen (pl.) 
-as – es
y

Es gibt Alleen und es gibt Alleen und Blumen. Gleichzeitig. In einem Bild? In zwei Bildern, aneinander geschnitten? Alleen- breite, große, belebte, leere, laute, leise? Blumen – kleine, blättrige, blühende, große, kelchige, knospende? Kultur und Natur. Diese Interpretation geht schon zu weit. 

Man muss das auch hören. Auf Spanisch.

Und dann gibt es nochmal Alleen und es gibt Alleen und Frauen. Gleichzeitig. In einem Bild. In zwei Bildern, aneinander geschnitten? Frauen – große, kleine, dicke, dünne, helle, dunkle, kluge, dumme? Kultur und Natur. Diese Interpretation geht zu weit. Man muss zuhören.

Es gibt keine „Frauen und Blumen“.

(Denken Sie doch mal darüber nach!)

Es gibt einen Bewunderer. Unbestimmter Artikel. Männlich.
-or
un

Das Gedicht gibt das: einen unbestimmten, männlichen Bewunderer. Zuletzt. Von dem aus schaut die Leserin zurück auf Frauen und Blumen und Alleen. Keine schönen Musen weit und breit. Es bleibt aber ein männlicher Bewunderer nach der Mehrzahl von Frauen und Blumen und Alleen. Niemand sagt, übrigens, dass die schön sind, alle. Steht da nicht. Blumen sind schön, meistens. Und Frauen, oft (Ansichtssache). Aber Alleen? Vielleicht. Manchmal. Blumen und Frauen stehen nicht zusammen, da. Sondern: Ein Bewunderer. Männlich. Es ließe sich lesen: Ein männlicher Bewunderer sieht auf Straßen, Frauen und Blumen. Für männliche Bewunderer seien Frauen und Blumen und Straßen dasselbe oder mindestens auf derselben Schauwert-Ebene. Aber vielleicht auch nur „Straßen und Frauen“, denn „Frauen und Blumen“ gibt es nicht. Oder umgekehrt? Weil Blumen und Frauen Straßen gleichermaßen „beleben“ für den Bewunderer? 

Und wenn?

Wenn es so wäre, wäre das Gedicht Eugen Gomringers ein hochgradig ironischer Umgang mit jener „patriarchalen Kunsttradition“, von der der Asta der Hochschule schreibt, – und das Gedicht mithin selbst Kritik an dieser Tradition. (Und an einer männlichen Sichtweise, die die Wahrnehmung von Frauen bewundernd auf ihre äußere Erscheinung, ihren Schauwert einschränkt. Andererseits: Man könnte auch sagen, dass Männern, pl. die Bewunderung für den Schauwert ihrer Erscheinung traditionell allzu oft versagt bleibt. Auch und gerade in der Dichtung.)

Und: Das ist es wohl. Eine ironische Kritik am männlichen Schauen und Dichten. Auch. 

Und aber: Poesie. Konkret.

Es gibt hier keine Verben. Niemand belebt nichts. Niemand liest. Niemand sieht. Niemand denkt. Auch der Bewunderer nicht, Asta.

Es sind Worte. Auf die wir reagieren. Als Betrachterinnen und Leserinnen. Auf ihren Klang, ihre Form, ihre Bedeutung. Aber unsere Reaktionen auf sie und die Worte sind nicht dasselbe. Dass die Worte nicht sind, was sie bedeuten, darauf will die Konkrete Poesie nämlich aufmerksam machen. 

Was hier ganz offensichtlich gleichermaßen gelungen wie gescheitert ist, also sehr konkret, aber nicht poetisch: Der Asta der Hochschule versteht keine Poesie und liest die Worte nicht als Worte. An der Fassade oder sonstwo.

Sondern: Die Tradition. 
Die Klischees. 
Belästigungen von Frauen auf Straßen.
(Wo bleiben die Blumen? Asta.)
Es liest sich selbst. Ins Gedicht hinein. 

Und wenn schon? Das wäre ja weiters nicht schlimm. 

Die Hochschule hat aber entschieden – um des Schulfriedens willen -, das Gedicht auf der Fassade der Alice-Solomon-Hochschule zu übermalen. 

Zensur ist das (noch) nicht. (Weil das Gedicht ja damit nicht verboten ist.) 
Aber es ist dumm. 

Und es gibt guten Grund, die Dummheit* zu fürchten. 
Eine dumme Welt ohne Poesie. 
Konkret.


* Dass die Dummheit im Gewand des Feminismus daherkommt, stimmt mich persönlich besonders traurig.

Die Dinge ändern sich, und niemand weiß, warum gerade jetzt

ilden liegt auf der Flachetappe zwischen Solingen und Düsseldorf, hat 50.000 Einwohner und veranstaltet jeden Frühsommer den Künstlermarkt 100 Künstler in der Stadt. Vor einigen Jahren, am 8. Künstlermarkt, nahm die Gräfin daran teil, um ein bisschen Geld zu verdienen und die Reaktionen des Publikums zu testen, sozusagen unter Live-Bedingungen. Und da ich zu ihrer Unterstützerszene zähle, war ich auch daran beteiligt. Nicht an den Bildern, die malt sie schön selbst, aber am Marktgeschehen. Unser Stand trug ein kleines Schild mit der No. 102 und lag am westlichen Ende der Hildener Fußgängerzone.

Der Veranstalter stellte jedem der ausgesuchten Künstler, man musste sich um einen Platz bewerben, ein weißes Baldachin-Zelt, drei mal drei Meter groß, und kassierte für die Organisation sechzig Euro, zusätzlich fünfzig Euro Kaution fürs Zelt. Soweit das Geschäftliche.

Aber nun zur Pleite.

Samstagmorgen. „Acht Uhr acht, die Straßen sind menschenleer“, trompetete die Gräfin noch ganz aufgeräumt, als sie Platz nahm hinterm Steuer ihres Wagens, und das trotz des über Nacht gewucherten Herpes, „schreib das mal auf.“ Wenn es darum geht, etwas aufzuschreiben, macht mir keiner was vor. Ich schreibe alles auf. Ich bin ein Allesaufschreiber. Ich fresse Sprache. Ich bin niemals satt. Ich schlecke den Teller ab. Noch in düsterster Nacht, gerade erwacht, setze ich mich auf und notiere das letzte mir bekannte Traumbild, wo fünf üppige Italienischlehrerinnen mit Töpfen voller Spaghetti um mich herumstehen.

„..Uhr acht, Straßen leer..“, kritzelte ich ins Notizbuch.

„Nee, nicht das. Du sollst das mit dem Herpes aufschreiben, damit ich weiß, wann es angefangen hat.“

Den Wagen bis unters Dach vollgepackt mit Staffeleien, gerahmten und ungerahmten Öl- und Kohle-Bildern sowie Kisten voller Zeichnungen und kleinen Gips-Figuren brachen wir auf Richtung Hilden. Ohne den Hund, für den sich kein Platz mehr fand im Auto, aber darum ging es nicht. Das Gewusel auf dem Markt hätte Frau Moll ohnehin nur nervös gemacht, da ließen wir sie lieber zuhause.

Nun war sie es aber nicht gewohnt, länger als fünf, vielleicht sechs Stunden allein zu bleiben, spätestens dann begann sie in einer solch herzzerreißenden Welpen-Manier zu jaulen und zu fiepen, dass Nachbarn sich gedrängt fühlten, beim Tierheim anzurufen, „hier murkst jemand seine Kätzchen ab!“ Wir einigten uns auf einen Kompromiss. Ich würde mich am Nachmittag auf ein Stündchen nach Hause absetzen, um dem Hund etwas Gesellschaft und Bewegung zu verschaffen.

Nächstes Problem.

Da ich keinen Führerschein habe, (und selbst wenn ich einen hätte, ich würde jedes noch so gepanzerte Fahrzeug kontinuierlich in den Abgrund führen), musste ich per Bus und Bahn von Hilden nach Solingen und zurück fahren, und das dauerte seine Zeit. Ging aber nicht anders, denn die Gräfin, die Führerschein, Auto UND Beine besitzt, hatte als Künstlerin laut Veranstalter durchgängig am Stand präsent zu sein, um Kunst-Interessierten Rede und Antwort zu stehen, konnte sich also nicht verdünnisieren. Außerdem war ich froh, mal für ein paar Stunden nicht unter 100 Künstlern zu sein.

„Sind sogar über hundert“, sagte ich schlau. „Wenn wir Nummer 102 haben.. und es sogar noch eine Nummer 103 gibt…“

Ein begabter Mathematiker offenbarte sich seiner Zeit.

Punkt neun begannen wir unter unserem Baldachin-Zelt mit der Nr. 102 mit dem Aufbau der beiden Tapeziertische, direkt vorm örtlichen Penny-Markt und der Filiale einer Schuhladenkette. Jetzt mussten wir nur noch all die mitgebrachten Werke der Gräfin unterbringen. Auf einem mit roten Tuch drapierten Tapeziertisch platzierten wir zwei ihrer großen und kleinen Präsentationsmappen mit Illustrationen, daneben die zwanzig extra für diesen Markt gefertigte schräge Froschkönige und Froschköniginnen aus Gips. Im Hintergrund lauerten größere Öl-und Acryl-Bilder, kleinere Tisch-Staffeleien lockten mit Tuschezeichnungen, und das war noch nicht alles. An einer Wäscheleine von Zeltstange zu Zeltstange befestigte sie eine Handvoll Zeichnungen, jede einzeln in Zellophan eingetütet.

Die Nachbarn von Stand 101 kamen aus Xanten. Freundliche Leute, im Gegensatz zu den beiden vom Leben enttäuschten Mitdreißigerinnen von Stand 103. Sogar ihr großes schwarzes Gelände-Auto strahlte Verbitterung aus. Sie hielten sich für großartige Fluxus-Künstlerinnen, dabei war das einzige, was sie auf die Reihe kriegten, ihre unnachahmliche Art, die Nase hoch zu tragen, trotz der winzigen Stupsnäschen.

„Na, immerhin“, so die Gräfin.

Der Nachbar aus Xanten erinnerte mit seinem Vollbart an einen gemütlichen Kneipenwirt, und tatsächlich sahen wir ihn in den folgenden beiden Tagen meist gegenüber im italienischen Eis-Cafe sitzen, doppelte Espresso schlürfen und herzhaft gähnen wie ein verdienter alter Trüffelhund.

„Meine Frau ist die Künstlerin“, erklärte er.

Seine Frau bemalte Kartons mit rosa Ferkeln für 7 Euro das Stück. Die gleichen Motive fanden sich auch auf viereckigen Tafeln in Fliesengröße, für je 3 Euro. Das Ganze war talentfreier Humbug, aber was solls. Wahrscheinlich verkaufte sich der Kram sogar. Die Beiden hatten ein kleines Radio dabei, das leise und beinah unbeachtet im Hintergrund lief, bis plötzlich Elvis Presley anhob, „Viva Las Vegas!“

„Lauter!“ rief die Gräfin sofort.

Die Live-Version klang so rasend schnell, als wären bei der Aufnahme sämtliche Instrumente in den Windkanal geraten, und doch befand sich alles an seinem gewohnten Platz. Und genau in diesem Augenblick stapfte, wie gerufen, ein Cowboy durch die Fußgängerzone, stilecht in Brokat-Weste und Stiefeln mit Sporen, einer engen roten Jeans sowie einem High Noon-Gang, als wäre er auf dem Weg zur nächsten Whiskey-Bar.

„Genialer Gang“, lobte ich, doch die Gräfin hatte den besseren Blick und schwächte ab.

„Der kann nicht anders. Der muss so gehen.“

„Wieso?

„Na, der hat einen Klumpfuß.“

Sie weiß ja überhaupt eine Menge Sachen, von denen ich keinen Schimmer habe. So kennt sie zum Beispiel den Grund, warum selbstgemachter Kräuterquark so viel besser schmeckt als die Fabrikvariante von Milram: es fehlt der anerkennende Pfiff der Hausfrau, den sie beim Abschmecken mit Gewürzen und Kräutern ausstößt, wenn es GENAU JETZT recht ist.

„Ich meine, woher soll so eine Maschine in der Milchfabrik von Milram denn auch wissen, dass sie JETZT pfeifen muss? Die hat doch keine Lippen zum Pfeifen, die Maschine.“

Auch weiß ich oft nichts von den profanen Dingen des Alltags, an denen man merkt, dass die Welt sich ändert. Da wäre das veränderte Verhalten von Nudeln, wenn man aus Versehen zu wenig Wasser in den Kochtopf gibt. Noch vor wenigen Jahren kam dabei eine ungenießbare Pampe heraus, die Teigwaren pappten aneinander und das wenige Wasser war komplett verdampft. Wenn einem so ein Fauxpas heute unterläuft, mit der neuen Generation von Teigwaren, verhalten sich die Nudeln auf engstem Raum so aggressiv, dass sie sich gegenseitig verhackstücken und auffressen: Nudeln weg, Wasser weg, Topf angebrannt, Rauchmelder spielt verrückt

„Die Dinge ändern sich“, erklärte die Gräfin geduldig, „und niemand weiß, warum gerade jetzt.“

Um die Mittagszeit tauchte an Stand 102 der Vater der Gräfin nebst Lebensgefährtin auf. Der Vater der Gräfin mit seiner wunderbar krumm gewachsenen Nase, einer Bogenlampe, wie mit Effet geschossen direkt aus dem Gehirn. Er erwarb zwei Froschköniginnen aus Gips sowie eine lustige Maske aus Gips, das sogenannte Arschmündchen.

Punkt 13 Uhr kaufte eine Kundin aus Saarbrücken die Schwarz-Weiß-Zeichnung „Warten“ für lausige sechzig Euro. Lausig, weil ich am liebsten jede Zeichnung der Gräfin selbst aufkaufen würde, damit alles schön in der Familie bleibt, und sechzig Euro war sowieso ein Witz. Die Saarbrücker Dame wünschte eine extra Signierung. Für Erika.

„So, jetzt haben wir auch in Saarbrücken eine Zeichnung von mir“, sagte die Gräfin. Das fand sie wichtiger als Geld. „Obwohl Geld auch gut ist.“

Wie abgemacht, fuhr ich mittags mit dem Bus nach Hause, um Frau Moll zu befreien. Weil die Verbindungen nicht so klappten, wie sie hätten klappen können, benötigte ich geschlagene zwei Stunden, bis ich den Schlüssel endlich ins Schloss steckte und der Hund von innen co-schnaubend die Türe aufstieß, wie ein wilder Stier, wütend und beleidigt.

Und mollig.

Wir gingen eine Runde spazieren und trafen den alten Rumänen mit seinem Schäferhund Spikey, der sich gleich über Frau Moll her machte. Die beiden hatten ein ruppiges Spiel, das in dieser Art nur von den beiden gespielt wurde: sie rasselten aneinander, dass die Rippen nur so krachten.

„Spikey ist ein ganz aktiver Bursche“, sagte der Rumäne, das sagte er eigentlich immer, wenn wir ihn trafen. „Der ist seit zwei Wochen steif, der arme Bursche. Der hat eine Dauerstange.“

Der Ton, in dem er das sagte, war nicht die Bohne anzüglich, es klang eher, als schwärmte er von Kartoffeln, die eingekellert immer noch am besten schmeckten. Und dass Frau Moll nicht läufig war in diesen Tagen beruhigte ungemein.

Als ich gegen halb fünf wieder das westliche Ende der langgestreckten Hildener Fußgängerzone erreichte, sah ich schon aus einiger Entfernung neben der Gräfin zwei Gestalten am runden Campingtisch sitzen, bei uns unterm Baldachin. Erst vermutete ich potente Bildaufkäufer, die ihre Scheinchen zählten und verhandelten, doch dann erkannte ich die beiden, es waren Pia und Moritz. Ausgerechnet. Wo kamen die denn her?

„Aus der Paar-Therapie!“ grölte Pia, Pulle Export in der Hand. Sie zeigte auf ein Sixpack unterm Tisch. „Es gab kein Weizen im blöden Penny!“

Sie drückte mir nassforsch ein Küsschen aufs Maul.

„Lang nicht mehr gesehen“, sagte ich zurückküssend.

„Na, euch sieht man ja überhaupt nicht mehr“, meinte Moritz, krebsrot im Gesicht von der ungewohnten Junisonne. Sein Haar hing fettig und strähnig herab. Er kriegte kein Küsschen.

„Wasch dir mal die Haare“, sagte ich.

„Die SIND gewaschen!“ dröhnt Pia. „Das ist ja die Scheiße!“

„Wie, mit Hühnersuppe?“ gab ich zurück.

Ich stand hinter der Gräfin und kraulte ihr durchs Haar. Sie sah angestrengt aus. Müde. Der Herpes war größer geworden und rot wie lange nicht, ein Feuerknubbel an der Oberlippe.

„Hier, nimm eins“, meinte Moritz und reichte eine Flasche Bier rüber.

Die Gräfin hatte Pia Wochen zuvor erzählt, dass sie dieses Jahr auf dem Hildener Kunstmarkt mitmachen wolle, und da Moritz und Pia zufälligerweise in der Nähe eine ambulante Drogen-Therapie machten, hatten sie sich gedacht, „gucken wir einfach mal bei euch vorbei. Sonst sieht man euch ja nicht mehr.“

Die Therapie war in der sechsten Woche. Sollte sie nicht erfolgreich abgeschlossen werden, war Moritz seinen Job an der Musikschule los, wo er seit zwanzig Jahren ununterbrochen beschäftigt war.

„Ich bin dauernd eingepennt, das fand mein Chef irgendwann nicht mehr lustig und hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder du gehst in Therapie oder du bist draußen.“

In sechs Wochen war er beim Drogen-Screening fünfmal positiv gewesen.

„Müsst ihr unter Sicht pinkeln?“ fragte ich.

Moritz nickte. „Ist ja die Scheiße. Sonst wär ich bestimmt nicht so oft aufgetitscht.“ Er nahm einen Schluck Bier. „Überhaupt wäre ich schon dreimal rausgeflogen, würde Pia nicht so einen straighten Eindruck auf die Therapeuten machen. Fast so, als hätte sie zu nichts mehr Bock auf der Welt als auf das Cleansein.“ Er gluckste. „Und aufs Cleanbleiben.. Vor allem aufs Cleanbleiben.“

„Na, wenn ich darauf warte, dass du so weit bist und aufhören willst, kann ich lange warten“, gab Pia zurück.

Moritz hatte also zwei Gewehrläufe im Genick, den von seinem Chef und den von Pia. Wobei das Gewehr von Pia eine doppelläufige Schrotflinte war, jede Wette. Während ich mit Moritz ein Bier trank, das ich kaum runterkriegte, beschwerte sich Pia bei der Gräfin über ihr Leben. Das hatte sie schon immer gern gemacht. Damit verschaffte sie sich Luft, um über die Runden zu kommen.

„Mein Leben besteht nur aus warten. Immer nur warten, warten, warten. Und dann bin ich trotzdem zu spät dran.“

„Sag mal, ist deine Brille enger geworden oder wird dein Schädel allmählich dick?“ grinste Moritz mich an.

„Wieso?“

„Weil sich der Bügel der Brille in deine Schläfen eingräbt. Das ist ja ne richtige Furche geworden. Ne richtige.. Fett-Furche.“

„Was fürn Fett, du Blödmann?“

„Na, da an deiner Schläfe! Das Fett!“

„Soviel Fett wie du in deinem Haar hast, krieg ich im Leben nicht zusammen.“

Pia und die Gräfin, die sich von Kindesbeinen an kennen, holten sich gegenüber beim Italiener ein Eis und kehrten verschworen kichernd zurück.

„Der Moritz geht alle vier Wochen duschen, wenn’s hoch kommt. Der hat ne Haut wie ein alter Dattel-Opa.“

„Alle vier Wochen..? Niemals!“ protestierte Moritz und wechselte das Thema. Die Gräfin zwinkerte mir zu: so viel hatten wir den Moritz seit Jahren nicht mehr reden gehört, nicht am Stück. Pia und er schienen tatsächlich clean zu sein, wenn man mal vom Bier absah. Ein bißchen erinnerten sie mich an früher, bevor alles losging, bevor das Heroin Trottel aus uns allen machte. Reduzierte Trottel, reduziert auf die Suche nach dem Schoß der Ur-Mutter. Obwohl es nicht falsch war, Heroin zu nehmen. Es fühlte sich gut an.
Es war eine runde Sache, bis auf den Schluss. Als plötzlich klar wurde, dass der Körper unter Einfluss von Heroin nichts anderes im Sinn hat als Sterben üben.

Moritz lachte sich scheckig über das Wort „nassforsch“, das in irgendeinem Zusammenhang fiel, und doch war alles eine Spur zu überdreht, die Atmosphäre am Stand war nicht echt, und plötzlich, er saß außerhalb des Zeltdachs in der knalligen Sonne, kippte Moritz vom Campingstuhl und kotzte noch im Fallen im hohen Bogen aufs Pflaster. Erst dachte ich, er erleidet einen Herzinfarkt oder einen Augeninfarkt oder was weiß ich, was so ein Körper so alles an Infarkten hergeben kann, wenn man so vehement vom Stuhl fliegt, doch die Bierkotze zeigte rasch, woher der Wind wehte.

„Wenn Moritz schon mal das Maul aufreißt, muss er natürlich gleich kotzen, ist klar“, sagte ich und Pia dröhnte los mit ihrer rauen Blueslache, noch verstärkt von Speiseeis, „hohoo hooh, ich hab vielleicht einen Männe geheiratet, echt, ho hooh..!“

Seltsamerweise bekam niemand etwas davon mit. Weder das samstägliche Penny Markt-Publikum, das sich immer zahlreicher durch die City schob, noch die Kundschaft beim vollbesetzten Italiener. Auch die übrigen Leute, die durchs Bild liefen und weder der einen noch der anderen Fraktion angehörten, störten sich am mit Kotze besudelten Asphalt.

Erst als Pia sich lauthals darüber aufregte, was das für ein Pack sei, das sich außer Moritz und ihr in der Paar-Therapie tummelte, (und wo sie schon mal dabei war, zog sie gleich über Hunde in der Stadt her, große Hunde, denen es tatsächlich gelang, in der Fußgängerzone auf einen meterhohen Begrenzungsstein zu kacken: „Sag mal, wie schafft so eine Dreckstöle das eigentlich?! Kann mir das mal jemand bitte erklären, wie die ihren Arsch so hoch kriegen!?“), da erst da blickten zwei potentielle Käuferinnen von Kunst pikiert auf, die in einer Präsentationsmappe der Gräfin schmökerten. Und dann rasch Leine zogen. Worauf Pia rot wurde.

Zumal die Nachmittagssonne just in diesem Augenblick ihren Spot auf die leeren Export-Pullen lenkte, vermutlich weil sie nun leer waren. Voll waren solche Flaschen weit weniger sensationell. Für die Sonne.

Pia und Moritz blieben bis Marktschluss um sechs, wobei die beinah schon hysterisch gute Stimmung der beiden nach Moritz‘ Kotzattacke, der noch drei weitere, eher kleine Sprüher folgten, („Eh, du Lama, hör mal auf!“), ins Gegenteil umschlug: massives gegenseitiges Anschweigen.

Dann:

„Seid ihr jetzt etwa sauer..?“ fragte Moritz und schien es kaum zu fassen. Ausgerechnet der Glumm, der früher ins Mumms gepisst hatte, so wie Gott ihn schuf. Nicht heimlich in die Ecke oder unter den Tisch, nö, mitten im Gespräch und von den umstehenden Leuten unbemerkt öffnete ich den Hosenstall, hing den Lümmel raus und ließ laufen, ausgerechnet der Glumm schämte sich für seine alten Freunde und einen kleinen Kotzer??

„Quatsch!“ entgegnete ich, aber so ganz sicher war ich mir da nicht, denn immerhin, „du hättest ja eins von den Bildern vollkotzen können. Oder das Skizzenbuch.“

„Ja, hätte ich, hab ich aber nicht“, gab Moritz zurück.

Das Skizzenbuch der Gräfin, aus dem dieser wunderbare Ledergeruch stieg, wenn man es aufschlug, ähnlich dem Butterbrot-Täschchen, das sie als kleines Mädchen täglich mit in den Kindergarten genommen hatte, war ihr heilig, und mir auch. Ihr Skizzenbuch war mein Notizbuch. Mir gefiel nicht, wie wenig Pia und Moritz das alles wert zu sein schien, was die Gräfin hier ausstellte. Wieviel Arbeit dahinter steckte. Das war auch der Grund, warum wir uns so entfernt hatten von vielen alten Leuten. Die Gemeinsamkeiten waren nicht mehr da. Aber sicher war ich mir nicht bei alledem, ich wusste nicht, ob ich auf dem richtigen Dampfer war. Oder wie die Gräfin zu sagen pflegte: Ich bin mir selbst zutiefst suspekt. Wenn ich mich treffen würde da draußen, ich hätte alle Alarmglocken an!

„Es ist dieser leckere Mix aus Brot und Leder, der mich so glücklich macht und jedes Mal an die Kindheit erinnert, wenn ich das Skizzenbuch aufschlage“, meinte sie jetzt, „glücklich und auch ein bißchen hungrig.“

„Hat er ja nicht vollgekotzt“, lenkte Pia ein. „Ist ja nichts passiert. Es riecht nicht mal nach Kotze hier.“

Pia, die keine Spur Reaktion gezeigt hatte, als Moritz vornüber vom Stuhl gekippt war. Sie hatte es sich angeguckt wie einen Spot gegen Alkohol am Steuer, den man nicht ernst nehmen kann, weil man zu oft schon blau gefahren ist und alles war gut gegangen. Dennoch ging es auch Pia irgendwann auf, dass zorniges Auskotzen an Stand No. 102 geschäftsschädigend war für die Künstlerin, und versuchte Wiedergutmachung.

„Müssen Sie mal überlegen, so ein Bild hält doch ewig“, versuchte sie einer Dame eine Zeichnung der Gräfin schmackhaft zu machen. „Ein Paar Schuhe fällt irgendwann auseinander, selbst wenn es gut verarbeitet ist und 250 Euro kostet.“

„Da sagen Sie was“, murmelte die Dame und  eilte weiter, damit man sie nicht darauf festnageln konnte, womöglich.

„Scheiße Mann, bist du vernünftig geworden“, beschwerte sich Moritz bei mir, weil ich kein Bier mehr trank, nicht mal die Flasche Export bekam ich auf. Ich mochte kein Bier mehr. Ich konnte den Geschmack nicht mehr ab, ich mochte die Wirkung nicht mehr. Ich wünschte mir zwar manchmal, voll zu sein, mich nochmal richtig abzuschießen, aber ich bekam es nicht mehr hin. Es war vorbei. Drogen entspannten mich nicht mehr. Nur das Methadon ließ ich mir nicht nehmen.

„Alkohol deprimiert mich nur noch“, sagte ich, und Moritz blinzelte in die Sonne.

„Das Leben müsste eine B-Seite haben“, murmelte er.

„Genau! Einmal umdrehen die Platte!“ rief die Gräfin.

Im übrigen erwachte ich schon nach dem kleinsten Besäufnis mit einem Mordskater. Das war die Rache der Enthaltsamkeit. Hat der Körper sich eine Droge erstmal abgewöhnt, kann man ihm nicht mehr damit kommen, oder man büßt es fürchterlich.

Moritz, der jüngere Bruder von Karlos, erzählte von seinem ersten Rückfall nach der vierzehntägigen Entgiftung, die man standardmäßig vor einer Therapie absolvieren muss.

„Zu Hause hab ich mir erstmal einen Zwanni geholt“, sagte er, den Zwanni betonend, weil er zuletzt schon einen Hunni brauchte, um überhaupt so etwas ähnliches wie Euphorie zu spüren. „Einen beschissenen ZWANNI, musst du dir mal vorstellen. Davon bin ich so abgekackt, dass ich die ganze Nacht im Auto gesessen hab und mich nicht mehr rühren konnte. Die Sonne ging schon auf, da bin ich endlich wach geworden und nach Hause gefahren.“

„Und, was meinte Pia dazu? War sie sauer?“

„Sauer? Pfft! Ihre erste Frage, als ich zu Hause reinkomm: Hast du noch was übrig?“

Wir gackerten alle vier.

Nacht von Samstag auf Sonntag. Die Forscher, die heute noch darüber rätseln, wie das Leben auf die Erde gekommen ist, sollten einfach mal früh aufstehen, im Juni, gegen vier Uhr dreißig, wenn die Sonne aufgeht. Es sind die Vögel, die mit dem Licht kommen und das erste Lied des Tages zwitschern. Leben beginnt mit Gezwitscher, jeden Tag aufs Neue. Das ist alles.

Sonntag, elf Uhr und neun Minuten. Zweiter Markttag. Sobald etwas Wind aufkam, kippten Leinwände um, kleine Staffeleien folgten auf dem Fuße. Immerhin, die in durchsichtigen Hüllen eingetüteten Zeichnungen, die wir am Sonntag auf Stange präsentierten, an einem Kleiderständer von IKEA, an der linken Standseite, hielten den Windböen stand.

Es begann zu regnen, dicke einzelne Tropfen zunächst, dann wurde der Regen stärker, begleitet von Windböen. Wir waren eine Stunde lang nur damit beschäftigt, alle Bilder, eben erst aufgestellt und großzügig um den Stand herum verteilt, unter den Baldachin verstauen, damit nichts nass wurde.

„Dieser scheiß Herpes, das schillert und pocht vielleicht in meiner Lippe..“, murmelte die Gräfin. „Überhaupt, ich glaub, das mit dem Markt war keine gute Idee. Alles ist zu hektisch hier, und in mir ist ein Schrei nach Ruhe, nach Mäßigung, nach wenig – dieses Wenige aber richtig machen.“

Genau da trafen wir uns, die Gräfin und ich, wie wir uns in den vergangenen Jahren schon so oft getroffen hatten, am gleichen Punkt. Nach den Neunzigern, verbraten mit Stoff und Warten, waren nun die Nuller an der Reihe, der Start der Ochsentour. Die schönen Jahre.

Als die Gräfin gerade nicht am Stand war und ein Passant des Weges kam und sich erkundigte, ob die ausgestellten Bilder von mir wären, sagte ich, nee, die sind von meiner.. ja, was? Wenn man so lange zusammen ist mit jemand, aber nicht verheiratet ist, was sagt man dann? Meine Freundin? Klingt zu teeniemäßig. Zu vorübergehend. Nein, Freundin passt nicht nach mehr als zwanzig Jahren Zusammensein. Meine Frau? Ist am ehesten richtig, stimmt aber nun mal nicht, seid wann seid ihr denn verheiratet, warum habt ihr nicht Bescheid gesagt? Und meine Partnerin, meine Lebensabschnittgefährtin? An sich okay, doch…

Die erste unbemannte Rakete, von den Russen geschossen in den Weltraum, hieß Sputnik. Zu deutsch Weggefährte, Begleiter. Genau.

Sie ist mein Sputnik.

Vielleicht lag es am Wetter, dass es mit ihrem Herpes an diesem Samstag genausowenig besser wurde wie mit den Verkaufsziffern. Meine Prophezeiung, dass der Sonntag der finanztechnisch stärkere der beiden Markttage werden würde, („weil dann die Penny Markt-Laufkundschaft wegbricht“, „mehr Kunstinteressierte unterwegs sind“) entpuppte sich als Trugschluss. Die Deutschen hielten 2009 ihre Kröten beieinander, so kurz nach dem Crash, als wären es glitschige grüne Viecher, die, einmal aus der Hand gegeben, niemals wiederkehrten.

Überall standen Künstler und steckten die Köpfe zusammen und stänkerten über das maue Einspielergebnis. Sie sahen aus wie Höhlenmenschen, die man in ein Kaufhaus geschubst hatte, und jetzt war das Geschrei groß. Oder klein. Einzig ein Kalligrafie-Stand, wo man seinen Vornamen auf Chinesisch mitnehmen konnte, sahnte ordentlich ab, und ein zweiter Stand, an dem eine wohlfeil kommunizierende Dame mittleren Alters irgendwelche Skulpturen verhökerte, lief auch gut.

Was mich überraschte: dass die kleinen, mühsam angefertigten Froschköniginnen und Könige der Gräfin nicht weggingen. Darauf hätte ich jede Wette angenommen.

„Zwölf Euro das Stück? Nee, das ist zu teuer, um mal eben so mitzunehmen“, hatte Pia schon gemeint.

„Dabei hätte ich eigentlich 30 Euro je Figur nehmen müssen“, sagte die Gräfin. „Hauptform aus Modelliermasse, Silikonabdruck, mit Gips gefüllt, Voranstrich mit Emaille-Lack, Nachanstrich, die Korrekturen, und keine Figur ist wie die andere. Jede ist ein bißchen anders. Einzigartig, und kein Maschinenguss.“

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Das wechselhafte Wetter trug nicht gerade dazu bei, dass Besucherekorde purzelten. Wir hatten Zeit, eine Zigarette zu rauchen und uns zu unterhalten.

„Meinst du, wir haben noch fünfzehn Jahre Zeit?“ fragte sie.

Sie hatte irgendwo gelesen, dass es fünfundzwanzig Jahre braucht, um seine Ziele zu erreichen, und fünf Jahre waren schon um. Fünf Jahre, die wir uns abmühten mit der Kunst.

„Aber Ziele erreichen..? Haben wir denn Ziele?“

„Ja denn nicht!??“ sagte sie.

Na gut. Ich rechnete im Kopf.

„Das wären noch zwanzig Jahre Zeit, das könnte eng werden, rein rechnerisch, aber wenn wir Glück haben.. viel Glück, ja dann .. könnte es klappen..“

Die Skepsis beruhte auf die Einbeziehung der vergangenen Drogenjahre. Drogenjahre zählen doppelt. Oder dreifach, je nach Theorie und Ansatz. Doch sie war schon woanders mit den Gedanken. Sie zählte ihren Pulsschlag. Das tat sie täglich. Es gehörte zu ihrem neuen Gesundheitsbewusstsein: wissen, was los ist im Körper. Dazu brauchte sie meine Hilfe.

„Sag Bescheid, wenn fünfzehn Sekunden um sind.“

Die Zahl der Pulsschläge, die sie in dieser Zeitspanne zählte, multiplizierte sie mit vier, so kam sie auf ihren Minutenwert.

„Wann? Ab jetzt?“

„Nein.. ab……………………………………. jetzt!“

Fünfzehn Sekunden, fünfundzwanzig Jahre. What a difference a day makes. Vom Überbrühen der Zeit.

Gegen 13 Uhr machte ich mich auch am Sonntag auf nach Solingen, um Frau Moll zu befreien. Kaum daheim ging ein kurzes heftiges Gewitter nieder. Auf dem Weg zum Sportplatz fanden der Hund und ich tote Frösche und eine abgestürzte Libelle im Schattenwurf der Häuser. Die Flügel der toten Libelle glitzerten im Sonnenlicht. Sie war im Sturzflug gecrashed. Die Frösche eher schockgetötet. Seltsamerweise arrangierte sich Frau Moll schneller mit der ganzen ungewohnten Situation als gedacht. Als ich mich verabschiedete, mit einem Kalbsknochen, lag sie auf ihrer Decke und war schon eingeschlafen

Auf dem Rückweg begann es erneut zu regnen, aber so vereinzelt, als schämte sich der Regen, uns Menschen zu belästigen. Als wäre er lieber entweder gar nicht vorhanden oder ein echter, ein authentischer Regenschauer, aber nicht so ein unentschiedenes Getröpfel. Mann, war der Regen mies drauf an diesem Sonntagmittag im Juni 2009.

16 Uhr 16, Ausstieg Hilden-Süd. Der Regen hatte sich verzogen. Übrig blieb ein graues Tuch, das sich übers Land legte – wattierte Luft in Hilden. Wo ich geboren wurde. Ich bin aufgewachsen in Solingen, aber geboren, wie viele meines Jahrgangs, im Hildener Kreiskrankenhaus, das von schweigsamen Nonnen betrieben wurde. Hilden war DIE Geburtsklinik der frühen 60er Jahre. Hier bin ich aus der Mutti geschlüpft im September 60, und wenn man sich tief bückt, ganz tief, bis man mit der Nase bald das Pflaster erreicht, dann, so meine ich, riecht man sogar heute noch davon, von der Geburt  des Glumm.

Rückstände.

Zurück an Stand 102. Hallo, Schatz. Endlich. Ich hab keine Lust mehr. Sollen wir aufbrechen? Geht nicht. Die Kaution gibt’s erst zwischen fünf und sechs zurück. Solang müssen wir noch ausharren. Der Sonntag, Totalausfall. Wir hätten Drucke anbieten sollen. Keine teuren Originale. Nächstes Mal.

„Gibt kein nächstes Mal.“

Was auffiel: die Leute, die stehen blieben und die Muße hatten, sich auf die Bilder und Illustrationen einzulassen, (oder die einfach mal in der Mappe blätterten und die eingetüteten Zeichnungen durchsahen), waren durch die Bank allein unterwegs. Es sind die Einzelgänger, die Augen im Kopf haben. Die allein unterwegs sind, allein wie dieser junge Typ in Sporthöschen und Schlappen, der nur eine Abendrunde drehen wollte und sich, ein bisschen eingeäschert noch in der Wahrnehmung vom vielen Nachmittags-Fernsehen, plötzlich im Witz der Gräfin verfing: er blickt immer wieder aufglucksend hoch von ihrer Mappe und suchte den Blick der Künstlerin.

Schön auch die doofe Kuh, die, als die Gräfin mal wieder gegenüber beim Italiener war und Kaffee holte, auf mich zusteuerte und fast aufsässig fragte, ob das eigentlich Absicht wäre.

„Hm? Was?“

„Na, das Bild da! Dass die Frau mit der Zigarette im Mund wie ein kleines Mädchen aussieht!“

Als wäre es der Gipfel der zivilisatorischen Unverfrorenheit, im Jahre 2009 ein Mädchen (Tusche/Ölkreide/Pastellkreide, 80 x 60 cm) zu zeigen, das lasziv an einer Zigarette saugt, auf einem Barhocker sitzend.

„Hm, ja, ich schätze, das ist Absicht.“

Ich ging auf das Bild zu, das auf einer Staffelei ruhte, und guckte es mir aus der Nähe an.

„Wenn Sie mal ganz nah rankommen, können Sie sogar sehen, die Sau trägt nix drunter.“

Doch da war sie schon weg.

Karlsruhe (4)

Bei der Anfahrt mit dem Zug aus Richtung Norden bildet sich die Idee Karlsruhes bereits mit dem Verlassen Mannheims: die landschaftlichen Linien (Tal- und Waldgitter, in denen kaum merklich Schwarzwaldstubenhaftigkeit sich auszuprägen beginnt), der badische Dialekt, dessen Karlsruher Ausformung, das Brigandedeutsch kurz darauf in der residenzstädtischen Bahnhofshalle unmißverständlich die Ankunft besiegelt. Der Dialekt bewirkt eine Verniedlichung seiner Sprecher und der Umgebung, als spiele sich mit Betreten Karlsruhes kein wirkliches, ernsthaft zu bewältigendes Leben ab, als sei alles Puppenkiste, bzw eine virtuelle Welt (wie in der TV-Serie Westworld) für den hochdeutsch sprechenden Provinzbesucher, in der tausende Laienschauspieler die vielgerühmte Gemütlichkeit der Region in gedehnten Frasen unter reichhaltigem Einsatz weicher Endlaute und mit auf ungefähr halbes deutsches Tempo gepolten Handlungen zelebrieren: numme ned huddle (wobei sogar die eigentlich akzelerierenden Doppelkonsonanten entschleunigend ausgesprochen werden können)! Der erste Gang führt entlang des Zoos, dessen Haupteingang der Bahnhofshalle direkt gegenüberliegt. Nirgends sonst findet sich in deutschen Innenstädten eine solch reiche Kombination exotischer Tiere, eines japanischen Gartens und von unsichtbarer Kraft dahingleitender Gondelboote, die von kapitalen Karpfen mit weit aufgerissenen Schlünden verfolgt werden. Ein beinahe magisches Idyll, haftete nicht dem gesamten Zentrum Gemachtheit, Reißbretthaftigkeit, Künstlichkeit, Verwaltungswille an wie einem Ravensburger Brettspiel. Von der das Zoogelände gleich einem Gürtel überfassenden Fußgängerbrücke lassen sich Elefanten betrachten. Einst galten die Tiere als hospitalisiert, heute wirken sie halbwegs therapiert. Pfauen schreien, Kinder und Mütter tun es ihnen gleich. Karlsruher Gezeter besitzt eine dialektale Eindringlichkeit, die an normalltägliche Sprechweisen der schwäbischen Nachbarn erinnert. Das Tier, insonderheit das exotische, spielt in der wunderbaren Vielfalt seiner Ausformungen, die bis ins Fantastische reichen, eine große, jedoch so gut wie überhaupt nicht stilisierte, vielmehr zufällig wirkende Rolle in Karlsruhe. Der badische Greif, ein Adler-Löwe-Hybrid wacht in Stein über den Rondellplatz, im Max-Planck-Gymnasium stand zu unserer Schulzeit ein original Wolpertinger aus den umgebenden Wäldern ausgestopft in einer Vitrine zur lehrreichen Ansicht, das Naturkundemuseum wird flankiert von Flugsauriern und beherbergt eine imposante Japanische Riesenkrabbe, der erstaunlicherweise noch kein eigenes Horrorgenre huldigt. Wo zu unserer Schulzeit fast ausschließlich Urbadener die Straßen bevölkerten, hat der migrantische Anteil stark zugenommen und damit auch die Varianten des Dialekts, den viele Zuwanderer anstelle von Hochdeutsch erlernen. Diese eritreeischen, italienischen, syrischen oder türkischen Einflüsse auf das Brigandedeutsch sind bisher kaum erforscht. Am Werderplatz gruppieren sich um das Indianerdenkmal, das auf einen Besuch Buffalo Bills (sic!) zurückgehen soll, Alkoholiker und Drogenabhängige, die von den Anwohnern, obgleich sie einen großen ausgefransten Pulk bilden, mithilfe genauer Beobachtung in Kategorien geschieden werden. Aus dem Pulk vernehmen wir intellektuelle Sprechweisen auf Hochdeutsch, Russisch und Laute, die dem auf das Allernötigste reduzierten (bzw. oft sich selbst aufs Rudimentäre reduzierenden) Brigandedeutsch entstammen, Laute, die dem Fremden tierhaft erscheinen müssen, dem Einheimischen hingegen als Höflichkeitsflosklen erkennbar sind, die der Badener, je nach Zustand, gern auch mit einer Mischung aus Respekt und Ekel vor ihrer Notwendigkeit zu behaften vermag. Für den Auswärtigen hören sich diese grob nach “idde”, “angge” oder “ao” klingenden, Konsonanten möglichst zugunsten finaler Diftonge verschluckenden Äußerungen an, als seien irgendwo in der Nähe resonanzkräftige Gegenstände aneinandergestoßen, weswegen er die wahren Lautquellen erst nach einiger Gewöhnung entdeckt. Das Wetter ist schwül, auf der Straße verdampfen luzide Schweißlachen. Der Weg führt uns nach Rüppurr, einem der am seltsamsten geschriebenen Vororte Deutschlands, bestärkt durch die Tatsache, daß es sich beim heutigen Namen um eine Abwandlung von Rietberg (=Anhöhe im Schilf) handelt, die weit abseits dialektaler Entwicklungen zu stehen scheint, denn der Dialektname Rüppurrs lautet heute Rieberg. Dadaistische Verwaltungseinflüsse sind bei dieser Namensgebung nicht auszuschließen, auch wenn historisch bisher kein Karlsruher Dadaist nachgewiesen wurde. An der Alb erklingt der hochtönende Ruf des Eisvogels, gefolgt von seinem glitzernden, ins Ufergebüsch einschlagenden Blitz. Bei unserem letzten Besuch erzählte ein Anwohner von einer unmäßig langen Schlange, deren Fotos er Experten des Naturkundemuseums zur Auswertung übermittelt habe, diesmal erfahren wir von den besten Stellen zur Glühwürmchensichtung: das Tierleben drängt in den Outskirts genauso zur Oberfläche wie in der Innenstadt.

Ibn Hamdîs, Diwan, I

1
Wie lange wollt ihr mich im Exil von euch verbannt?
Ach! wie meine Freunde meinen Feinden gleichen!

2
Sie weckten in mir den brennenden Durst hochroter Lippen
Doch an ihnen meinen Durst zu löschen, verwehrte Ferne mir.

3
Widersprachen meiner Hoffnung, die ich in sie gelegt.
Wie viele Heilmittel bewirken nicht das Gegenteil!

4
Unmöglich ist’s, ihr meinen Vorwand zu verbergen;
es ist der Jungfrauen Sitte, den Starrkopf zu bändigen.

5
Oh sie! Dies mein Auge, das man gesehen tränennaß
an meinem Morgen, an meinem Abend.

6
Mein Blick zog auf sich das Übel deiner Pupillen,
so daß mein Körper nicht einmal Hort im Schatten findet.

7
Jedes unfruchtbare Jahr hat seine wohltätigen Regensterne;
für die Unfruchtbarkeit meines Körpers gibt es keine Sternwohltat!

8
Meinertreu! Mög’ ich doch sein Glaubensflamme, der Licht entspringt,
und du, in deinem Busen, in dem Untreue gärt, versuchst mich zu mindern.

9
Der Tadel ist dir Ausnahme in dem Sprichtwort, das besagt:
“Die Entbehrung in der Wüste hält den fern, der sich darin verloren.”

10
Welche Gunst kann ich mir erwarten von deinem Vorwurf?
Schließt man etwa aus dem Krieg den Frieden?

11
Dein Versprechen hat nichts, was mir erfüllt werden könnte;
wie auch kann Fata Morgana löschen den Durst in der Wüste?

12
Oh du, die mir vorwirft, wenn erbebt meine unerschütterliche Ruhe;
meine Ruhe erbebt nur in der Nähe einer Wankelmütigen.

13
Laß sein die ärztliche Kunst, diesen Kranken zu heilen, als Rezept
ist indiziert der Speichel, den ihre Korallenlippen spenden.

14
Ein Kranker, der den Gruß der Schönen erwidert, die ihn aufsuchen,
ist wie der Schiffbrüchige, der mit den Armen winkt und Hilfe sucht.

15
Bittet man eine schöne Hochherzige um Heilung,
ist es, als wollte man ein Übel mit dem andern heilen.

16
Kein Stern, der die Mittagssonne zu ersetzen vermag,
und so hat auch Asmâ keine Gefährtin, sie zu ersetzen.

Aus dem Diwan des Ibn Hamdîs, geboren um 1056 in Siracusa oder Noto auf Sizilien, gestorben 1133 auf Mallorca. Übersetzung (Nachdichtung noch nicht ganz, eher ein Hineintappen in DIESE Bilderwelt) nach dem italienischen Text von Celestino Schiaparelli aus den Jahren um 1915, der zuvor den arabischen Text ediert und herausgegeben hatte (Rom 1897). Seine Übersetzung erschien erstmals 1998 bei Sellerio in Palermo.