Bei der Anfahrt mit dem Zug aus Richtung Norden bildet sich die Idee Karlsruhes bereits mit dem Verlassen Mannheims: die landschaftlichen Linien (Tal- und Waldgitter, in denen kaum merklich Schwarzwaldstubenhaftigkeit sich auszuprägen beginnt), der badische Dialekt, dessen Karlsruher Ausformung, das Brigandedeutsch kurz darauf in der residenzstädtischen Bahnhofshalle unmißverständlich die Ankunft besiegelt. Der Dialekt bewirkt eine Verniedlichung seiner Sprecher und der Umgebung, als spiele sich mit Betreten Karlsruhes kein wirkliches, ernsthaft zu bewältigendes Leben ab, als sei alles Puppenkiste, bzw eine virtuelle Welt (wie in der TV-Serie Westworld) für den hochdeutsch sprechenden Provinzbesucher, in der tausende Laienschauspieler die vielgerühmte Gemütlichkeit der Region in gedehnten Frasen unter reichhaltigem Einsatz weicher Endlaute und mit auf ungefähr halbes deutsches Tempo gepolten Handlungen zelebrieren: numme ned huddle (wobei sogar die eigentlich akzelerierenden Doppelkonsonanten entschleunigend ausgesprochen werden können)! Der erste Gang führt entlang des Zoos, dessen Haupteingang der Bahnhofshalle direkt gegenüberliegt. Nirgends sonst findet sich in deutschen Innenstädten eine solch reiche Kombination exotischer Tiere, eines japanischen Gartens und von unsichtbarer Kraft dahingleitender Gondelboote, die von kapitalen Karpfen mit weit aufgerissenen Schlünden verfolgt werden. Ein beinahe magisches Idyll, haftete nicht dem gesamten Zentrum Gemachtheit, Reißbretthaftigkeit, Künstlichkeit, Verwaltungswille an wie einem Ravensburger Brettspiel. Von der das Zoogelände gleich einem Gürtel überfassenden Fußgängerbrücke lassen sich Elefanten betrachten. Einst galten die Tiere als hospitalisiert, heute wirken sie halbwegs therapiert. Pfauen schreien, Kinder und Mütter tun es ihnen gleich. Karlsruher Gezeter besitzt eine dialektale Eindringlichkeit, die an normalltägliche Sprechweisen der schwäbischen Nachbarn erinnert. Das Tier, insonderheit das exotische, spielt in der wunderbaren Vielfalt seiner Ausformungen, die bis ins Fantastische reichen, eine große, jedoch so gut wie überhaupt nicht stilisierte, vielmehr zufällig wirkende Rolle in Karlsruhe. Der badische Greif, ein Adler-Löwe-Hybrid wacht in Stein über den Rondellplatz, im Max-Planck-Gymnasium stand zu unserer Schulzeit ein original Wolpertinger aus den umgebenden Wäldern ausgestopft in einer Vitrine zur lehrreichen Ansicht, das Naturkundemuseum wird flankiert von Flugsauriern und beherbergt eine imposante Japanische Riesenkrabbe, der erstaunlicherweise noch kein eigenes Horrorgenre huldigt. Wo zu unserer Schulzeit fast ausschließlich Urbadener die Straßen bevölkerten, hat der migrantische Anteil stark zugenommen und damit auch die Varianten des Dialekts, den viele Zuwanderer anstelle von Hochdeutsch erlernen. Diese eritreeischen, italienischen, syrischen oder türkischen Einflüsse auf das Brigandedeutsch sind bisher kaum erforscht. Am Werderplatz gruppieren sich um das Indianerdenkmal, das auf einen Besuch Buffalo Bills (sic!) zurückgehen soll, Alkoholiker und Drogenabhängige, die von den Anwohnern, obgleich sie einen großen ausgefransten Pulk bilden, mithilfe genauer Beobachtung in Kategorien geschieden werden. Aus dem Pulk vernehmen wir intellektuelle Sprechweisen auf Hochdeutsch, Russisch und Laute, die dem auf das Allernötigste reduzierten (bzw. oft sich selbst aufs Rudimentäre reduzierenden) Brigandedeutsch entstammen, Laute, die dem Fremden tierhaft erscheinen müssen, dem Einheimischen hingegen als Höflichkeitsflosklen erkennbar sind, die der Badener, je nach Zustand, gern auch mit einer Mischung aus Respekt und Ekel vor ihrer Notwendigkeit zu behaften vermag. Für den Auswärtigen hören sich diese grob nach “idde”, “angge” oder “ao” klingenden, Konsonanten möglichst zugunsten finaler Diftonge verschluckenden Äußerungen an, als seien irgendwo in der Nähe resonanzkräftige Gegenstände aneinandergestoßen, weswegen er die wahren Lautquellen erst nach einiger Gewöhnung entdeckt. Das Wetter ist schwül, auf der Straße verdampfen luzide Schweißlachen. Der Weg führt uns nach Rüppurr, einem der am seltsamsten geschriebenen Vororte Deutschlands, bestärkt durch die Tatsache, daß es sich beim heutigen Namen um eine Abwandlung von Rietberg (=Anhöhe im Schilf) handelt, die weit abseits dialektaler Entwicklungen zu stehen scheint, denn der Dialektname Rüppurrs lautet heute Rieberg. Dadaistische Verwaltungseinflüsse sind bei dieser Namensgebung nicht auszuschließen, auch wenn historisch bisher kein Karlsruher Dadaist nachgewiesen wurde. An der Alb erklingt der hochtönende Ruf des Eisvogels, gefolgt von seinem glitzernden, ins Ufergebüsch einschlagenden Blitz. Bei unserem letzten Besuch erzählte ein Anwohner von einer unmäßig langen Schlange, deren Fotos er Experten des Naturkundemuseums zur Auswertung übermittelt habe, diesmal erfahren wir von den besten Stellen zur Glühwürmchensichtung: das Tierleben drängt in den Outskirts genauso zur Oberfläche wie in der Innenstadt.
- von Stan Lafleur
in rheinsein