Was vor allem zu tun war. PP228, 22, September 2014: Herbstmontag.

[Arbeitswohnung, 5.58 Uhr.
Noch wieder keine Musik.]

Ich möchte nicht heraussuchen, nicht wählen. Noch nicht. Aber das wird heute zurückkommen, schon, weil ich über fünf Konzerte die Kritik schreiben will, sagen wir, eine Darstellung. Denn das blieb ebenso liegen, wie ich weder meine Post geöffnet, noch Elektronische Post beantwortet habe, aber auch sie habe ich kaum gelesen. Wenn man nunmehr vor drei Bildschirmen und mit ihnen arbeitet, und dazu steht das geladene iPad ebenfalls schräg vor einem, erlangt man von Emails zumindest in ihren Überschriften Kenntnis. Seit die Löwin wieder in Wien ist, sie war viereinhalb Tage hier, habe ich auch wenig geduscht, trage schon mal drei Tage lang dieselbe Unterhose, und die übrige Kleidung wechsele ich sowieso nicht, Oder wechsele von den zerrupfen aber warmen Frühmorgenklamotten nur zum Hinausgehen in den aber ebenfalls selben Anzug, dasselbe TShirt, ja peinlicherweise dieselben Socken sogar. Denn so weit treibe ich es dann doch nicht, mich draußen in den Leggins sehen zu lassen. Ich kaufe dann sowieso kaum ein, nur Wein.
Es wird, vor allem, keine Musik gehört, von den fünf Konzerten abgesehen, in denen ich an zweieinhalb Tagen war, aber auch das nur am Beginn dieser heftigen Bearbeitungsphase. Denn da bin ich, es läßt sich kaum anders nennen, hineingestürzt. Von morgens um Viertel vor sechs bis in den letzten Tagen manchmal frühnachts halb oder Viertel vor elf; jeweils mit einer Stunde Mittagsschlaf. Ach ja, einen Auftritt im >>>> ilb hatte ich dazwischen noch, zusammen mit meinem Sohn. Es gehört zu den mir eigentümlichen Eigenarten, daß man mir Anstrengung nicht ansieht. So wurde ich denn auch auf einem Elternabend mit dem Satz begrüßt, das sei ja klar, daß ich wieder nach Urlaub aussähe. Wo ich denn diesmal gewesen sei. Erneut auf dem Atlantik, habe ich geantwortet. Denn was meine Arbeit anbelangt, stimmte das wohl.
Deswegen, Freundin, habe ich Ihnen so lange nicht geschrieben.
Der Sex war minimiert.
Latte macchiato, erste Morgenpfeife.
Rechnungen dürften sich stapeln; ich habe keine Ahnung, oder doch, eine Ahnung schon, aber keine so gute, daß ich sie hätte an mich herankommen lassen dürfen, wie es an meiner Finanzfront aussieht, die mich um mein gallisches Widerstandsdorf wahrscheinlich rings einschließt. Es wird Zeit, wieder anzulegen, bzw. sogar, wieder aufzutauchen oder, in meinem Gallien, einen Ausfall zu unternehmen.
Denn die Erste Fassung ist fertig, des >>>> Traumschiffs, seit gestern frühabends etwa um sechs. Ich habe für sie notiert: 12. – 21. September 2014, Berlin. Sie hat mich stärker gebunden, als ich gedacht habe, war auch schwieriger. Wobei die Probleme weniger in dem bestanden, was ich ins Auge gefaßt hatte: Motivverankerung, Spuren legen, Zeitenfolgen aufdröseln, hier und da etwas fortnehmen, das unnötig ist. Aufgedröselt wurde gleichwohl. Denn die Hauptarbeit bestand darin, Hypotaxen in Parataxen zu überführen, ja wirklich in sie aufzulösen. Jetzt gibt es kaum einmal mehr Relativsätze, sondern ich bin dort angekommen, wohin mein Exposé mich von Anfang an verpflichtete: in kurzen Sätzen erzählen.
Das ist nicht nur an sich schwierig, bei nunmehr zwischen 300 und 350, je nach Type, Buchseiten, sondern vor allem, weil ich hypotaktisch denke, mäandernd nannte die Löwin das, und das, dieses Denken, vor allem während des Prozesses einer ersten Niederschrift – schon gar, wenn sie so gleichsam rauschhaft vonstatten geht, wie das >>>> in Amelia von Anfang an losging. Die erste Warnung, noch über Facetime, war von der Löwin gekommen: in dem und dem Kapitel gehe das ein bißchen sehr ineinander; da könne man die Übersicht verlieren.
Genau das darf bei diesem Buch nicht geschehen; es muß im weitesten Sinn allgemeinverständlich sein. Es ist ein allgemeines Thema, nicht nur, weil wir alle sterben werden. Sondern weil wir den Bezug zu dem Umstand entweder verloren haben oder verdrängen, mindestens wegdrängen. Darüber hinaus geht es um Achtung. Das Sterben ist kein Erzählgegenstand, dem man seine Virtuosität vorführt. Sie hat den Kopf zu senken, ohne freilich dabei den Stolz zu verlieren. So sind Demut einerseits, und Achtung sowieso, andererseits Einfühlung und eben Stolz die leitenden Kategorien des Sterbebuches geworden. Ich habe im Rohling als Alban Nikolai Herbst mit Herrn Lanmeister gedacht; die jetzige Erste Fassung denkt als Herr Lanmeister selbst. Er mußte zu seiner eigenen Sprache gelangen, wenn er sich denn mitteilen wollte. Daß nicht Lastotschka, sondern letztendlich ich zum Adressaten seines inneren Abschieds- und aber Erkenntnisbriefes wurde, hat nur damit zu tun, daß meine Hand es war, meine Fingerspitzen es waren, die er geführt hat.
Er wird jetzt auch anderswo begraben werden als noch im Rohling; im nunmehrigen Jetzt konnte er bis noch fast ganz zuletzt am Strand spazieren gehen: 54°8’N/ 13°37’O. Fast zweieinhalb Stunden Suche im Netz hat es mich gekostet, diesen Ort zu finden. Auch wenn der Roman erst im kommenden Herbst erscheinen wird, habe ich das Gefühl, hierbei wird es bleiben. Sowie es allerdings meine Zeit zuläßt, will ich dort für einzwei Tage hinfahren, um ihn mir anzusehen und ihn vielleicht schon auf See in der eigentlichen Erzählung zu verankern. Dafür bleibt genügend Zeit. Es hat Vorteile, ein Jahr vor Erscheinen eines Buches fertig zu sein, oder quasifertig.
Nunmehr, gestern nacht, ist der Text an die nahsten Freunde heraus. Noch in dieser Woche wird auch Delf Schmidt ihn bekommen. Liegen deren aller Reaktionen vor, werde ich einen neuen Durchgang beginnen, um die Zweite Fassung zu erarbeiten, die dann an den Verlag geht und die Lektoratsvorlage sein wird. Danach kommen allenfalls noch kleine Revisionen hinzu wie die aufgrund der letztgenannten Koordinate, oder mal hier wird die Krümmung einer Reling präzisiert und mal dort vielleicht ein Name geändert. Das wäre mir freilich unbehaglich, weil alle Personen längst in mir sind. Selbstverständlich kommt es darauf nicht an. Sondern es kommt darauf an, daß sie es in Ihnen sind, wenn Sie das Buch lesen; daß sie für Sie lebendig werden.
Ich habe in meinem Schriftstellerleben selten darauf geachtet, was Leserinnen und Leser verstehen können oder vermeintlich verstehen können; mein „Credo“ war, daß die Erzählung in sich Wahrheit haben muß, alleine sich selbst verpflichtet ist. Diesmal sehe ich das anders. Prinzipiell muß mein Schuster sie verstehen können, meine Kassiererin bei Penny; sie alle sollen weiterlesen geradezu müssen, wenn sie einmal begonnen haben. Aber auch meine akademischen Freunde sollen nicht aufhören können und das Buch, aus intellektueller Langeweile zum Beispiel, nicht wieder beiseitelegen. Bis es ausgelesen ist. Es ist ein hoher Anspruch, den ich an diese kurzen Sätze stelle. Den aber das Thema von mir verlangt.
Für Die Dschungel ist mir so etwas gleichgültig; hier schreibe ich, wie mir der Schnabel wuchs oder wie ich nach Tagesverfassung grad Lust hab. Mag man sich dran reiben, wie man will.

Liegen geblieben ist das Kreuzfahrt-Hörstück. Was nicht an mir, sondern meiner Redakteurin lag und liegt, die zwar bereits eine Gefallenskundgebung schrieb, zu meiner Neufassung, dann aber, anders als sie ankündigte, nichts mehr von sich hören ließ. Es ist allerdings sehr gut möglich, daß sie gespürt hat, in welchem Prozeß ich steckte. Daß sie mich darin nicht stören wollte. Nachher werde ich bei ihr anrufen; es ist dies die nächste größere Arbeit, die ich nun endlich hinstellen werde. Und muß. Schon aus dringenden finanziellen Gründen; um mich auszuruhen, ist keine Zeit. Das war sie bei mir ohnedies nur selten. Ich habe auch keine Lust dazu, sowieso nicht mehr jetzt, wo solch ein Roman in einem Monat und zwei Tagen gestemmt worden ist. Imgrunde könnte ich genau so den nächsten schreiben, ob nun das Neapelbuch, ob die Melusine Walser, ob >>>> Αἰαιαη oder Die Erleuchtung. Nur für den Friedrich wäre es noch definitiv nicht so weit. Lange bin ich nicht mehr so Romancier gewesen, derart unbrechbar, derart von Figuren umgeben, die in mir Personen wurden, und von den Gerüchen und Geräuschen die erstehenden Welt. Nicht mehr in dieser Intensität. Ich hatte gedacht, das wird nie mehr kommen. Nun war es, und ist noch, wie Heimkehr: vorbehaltlos. Was ein Roman braucht. Und ich habe gelernt: Die Überführung in Parataxen ist für mich eine grundlegende Erfahrung Noch vor zwei Jahren hätte ich mich gegen so etwas verwahrt. Aber nun, nach Herrn Lanmeisters Tod, muß ich gewärtigen, daß das Traumschiff weiterfährt, mit Senhora Gailint, Madame Gellet, Mister Cody und Dr. Samir. Mit Tatiana Bogdanova, Kateryna Werschovskaya, die Gregor Lanmeister in sich Lastotschka genannt hat, oder Lastivka, Schwalbe, und Peter, von dem er den Nachnamen nie erfuhr. Indessen Monsieur Bayoun, Frau Seifert, Signore Bastini, der ehemalige Holzfäller Patrick, der schließlich Krankenpfleger wurde, sowie Mister Gilburn und er, Herr Lanmeister, selbst, alle von Bord gegangen sind. Für jeweils ihr Für immer.