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Inhalt 01/2019

Lesezeichen, Ausgabe 01/2018 vom 22. April 2019.

 

Marianne Büttiker: 2/19 Signifikat

 

In dieser Ausgabe: Sekundenschlaf im Tram – Wider die Wohlfühlpreußen  – Lenin und Lueger in der Requisite – inkbot butterflies – vor­sich­tig hin­ter einem Leicht­ge­wicht­rolla­tor spa­zier­en – die Augen des Chamäleons – was blieb von dem Jungen, / der durch die Gerste strich, / der versuchte den Wind zu lesen – Von Leuchttürmen und anderen Poeten – die Vögel am Landwehrkanal – Schall und Rauch von Ereignissen – Erinnerung an Agnès Varda –In ihrem Ursprung ist Welt Vergessenheit 

INHALT:

In memoriam: Agnès Varda (1928-2019)

Agnes Varda im Deutschen Filmmuseum Frankfurt
Ihre Filme liebe ich. Immer wieder haben sie mich glücklich gemacht. Zuletzt „Visages. Villages„. Sie war auch eine faszinierende Gesprächspartnerin, eine, deren unaufbrauchbare Neugier ansteckend wirkte. Deren feministisches Selbstbewusstsein sich auf die Gewissheit stützen konnte, eine Frau zu sein (ohne *) und  sich von daher für Frauen (ohne *) zu interessieren: „L´un chante. L´lautre pas.“ (Ihr feministische Love-Friendship-Musical von 1977). Wie für andere. Und anderes. Und für die Freiheit, für die immer ein Preis zu zahlen ist. Auch das hat sie nie verschwiegen, sondern gezeigt: „Vagabond„. Wie die Freude an den Beziehungen (und den Schmerz der Enttäuschungen, die unvermeidbar sind, wenn eine sich auf andere einlässt).

Der Strand und das Meer.“ Über Agnès Vardas Film „Les plages de Agnès“ (2012)

Merci, Agnès!

 

Schall und Rauch.

Die Hinterlassenschaften von Ereignissen: wie sie dröhnen und dicken Rauch spucken. Außerhalb der Shows zu leben!

Doch was gäbe es dort zu gewinnen?

Heut’ Nacht hat sich ein kirschgroßer Parasit in meine Wange gebohrt. Ich riss an ihm, wohl wissend, dass die Widerhaken an seinen langen, sehr dünnen Bohrwerkzeugen mir ein Loch ins Gesicht würden reißen. Je wilder ich zerrte, desto mehr Gift, wie einen heißen Strom, fühlte ich in meine Wange fließen, doch ich ließ nicht ab, bis du starbst. Metamorphosen, wie es scheint, sind nicht die ruhigen Wochen im Kokon, Metamorphosen sind geifernde Ungeheuer; im Kokon ist die Hölle los. Ah, mein Leitlicht, immerzu führst Du mich zurück ins Niemandsland, warum darf ich nicht wandeln auf sicherem Pfad, warum muss ich so viele sein. Lieber ein weiser Weg als ein solcher Wegweiser!

„Ich kann mich nicht abgrenzen“, erzählt meine Freundin, „ich spüre die Kriege, jede Minute, ich spüre die Zusammenrottungen, die Ungerechtigkeiten, die blanken Gefühle, jeden Tag dringen sie erneut in mich ein und so viel ich auch tu’ und kämpfe, mich hinzuwerfe, um ein bisschen das meinige zu tun, es lässt niemals nach.“

Sie ist blass, trägt die Schauplätze von Gewalt und Verwerfungen im Gesicht. Sich das Gift der Ereignisse aus der Wange zu reißen: da bleiben Krater zurück.

Sehr nah von mir stirbt derweil jemand, den ich lang’ schon kenne, ganz real. Der Körper will nicht mehr, ist alt, doch die mörderisch gewissenhaften Maschinen halten ihn sorgsam hier fest. Anderswo werden Körper einfach so hingeschmissen, als wären sie nichts, gälten nichts. Sie fallen. Keine Zeit zu siechen, drüben in den Bergen, drinnen im Meer.

Alles ist gleichzeitig: wie oft schon wusste ich das. Und alles ist bereits da.
Es gibt kein Ende, für gar nichts. Nur Bewegungen.
Im Schall. Im Rauch.

 

die vögel singen am landwehrkanal

da schwimmt noch immer deine leiche, rosa.
und wer dich hatte einstens schon verraten,
der reimt sich immer noch auf „demokraten”,
sozial sich schimpfend, doch kein mariposa.

die flügel, die du breitetest den vöglein,
welch’ schwangen sie in dein’m gefängnishof,
sie flattern sich gerechtigkeit als möglein
wenn sie wie immer stell’n sich treu und doof.

ach ja, wir sind kaum zwanzigstes prozent,
wo’s volk, bald dreißig, anderen nachrennt,
weil nichts gelernt in hundert mörderjahren.

dort west noch immer deine leiche, rosa.
und wo wir einst wie jetzt in trümmern lagen,
da fragst du uns, was wären antidota?

(190115)

 

Leuchttürme – Wächter der See

Detail aus: Debenne, Entwurf für einen Leuchtturm, um 1815 (Metropolitan Museum of Art, New York)Detail aus: Debenne, Entwurf für einen Leuchtturm, um 1815 (Metropolitan Museum of Art, New York).

Es begann spektakulär: Denn immerhin gilt der vermutlich allererste Leuchtturm, der Pharos von Alexandria, errichtet um 280 v. Chr. an der ägyptischen Mittelmeerküste, als eines der sieben Weltwunder der Antike. Die gewaltige Faszination, die dieses Bauwerk über Jahrhunderte ausübte, beruhte vor allem auf seiner imposanten Höhe. In mehreren Etagen ragte der Turm über 140 Meter auf. Bis zum Beginn des Hochhaus-Zeitalters im 19. Jahrhundert wurden weltweit nur wenige Gebäude errichtet, die höher waren. Mehr als 1500 Jahre sicherte der Pharos den Schiffsverkehr an der Hafeneinfahrt von Alexandria und war, wie Berichten von Reisenden zu entnehmen ist, noch im 12. Jahrhundert voll in Funktion – bis er durch Erdbeben in den Jahren 1303 und 1323 so sehr beschädigt wurde, dass er nicht wieder aufgebaut werden konnte.

Der Pharos von Alexandria. Kupferstich nach einer Zeichnung des österreichischen Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach, 1721.

Der Pharos von Alexandria. Kupferstich nach einer Zeichnung des österreichischen Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach, 1721.

Der Pharos von Alexandria steht am Beginn des Buches „Wächter der See“, mit dem der englische Sachbuchautor R.G. Grant eine überaus interessante „Geschichte der Leuchttürme“ vorgelegt hat, die mit zahlreichen historischen Zeichnungen, Plänen, Skizzen und Fotografien illustriert ist. Grant berichtet, dass der Pharos vor allem im Römischen Reich zum Vorbild für zahlreiche ähnliche (wenn auch nicht derart hohe) Bauten wurde, dass jedoch allmählich die Technik des Leuchtturmbaus weitgehend in Vergessenheit geriet. Wiederbelebt wurde sie erst im Zuge der Entwicklung des neuzeitlichen Seehandels, denn „die dringende Notwendigkeit, die Zahl der Schiffsverluste zu reduzieren, war offensichtlich. Nach Schätzungen versanken in den 1790er-Jahren an den britischen Küsten mehr als 500 Schiffe pro Jahr.“ Leuchttürme, die einen sicheren Weg rund um Klippen, Felsen und Inseln weisen konnten, waren dringend nötig, allerdings nicht überall erwünscht, denn „viele verarmte Küstengemeinden waren auf die Plünderung von Schiffswracks angewiesen, um zu überleben.“

Der Torre de Hércules (Herkulesturm) an der Nordwestküste Spaniens ist einer der wenigen erhaltenen, funktionstüchtigen römischen Leuchttürme. Errichtet zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. zählt er heute zum UNESCO-Welterbe.

Der Torre de Hércules (Herkulesturm) an der Nordwestküste Spaniens ist einer der wenigen erhaltenen, funktionstüchtigen römischen Leuchttürme. Errichtet zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. zählt er heute zum UNESCO-Welterbe.

Die Blütezeit des Leuchtturmbaus begann im späten 18. Jahrhundert. Damals wurden auch die besonders gefährlichen Routen entlang der britischen Küsten entsprechend abgesichert. Dabei erwarb sich eine schottische Familie den Ruf als geniale Leuchtturmbauer – nämlich die Stevensons. Begründer der „Dynastie“ war Robert Stevenson, der für die Konstruktion von 16 Leuchttürmen verantwortlich zeichnete und der gleich durch sein erstes Bauprojekt berühmt wurde: Es war das 1811 in Betrieb genommene Bell Rock Lighthouse, das auf einem Felsen im Meer steht. Dieser Felsen war, bevor es den Leuchtturm gab, eine der gefährlichsten Stellen an der schottischen Ostküste gewesen, weil er nur bei Ebbe für wenige Stunden aus dem Wasser herausragt und vor allem bei den oft sehr heftigen Stürmen zahlreichen Schiffen zum Verhängnis wurde.

Robert Stevensons Söhne folgten dem Vorbild des Vaters: David und Thomas Stevenson arbeiteten gemeinsam an der Konstruktion von mehr als 30 Leuchttürmen, und Alan Stevenson machte sich vor allem durch seine Verbesserungen der Leuchtturmoptik einen Namen. Auch zwei Enkel wurden Leuchtturmbauer, ein dritter aber wich von diesem familiären Karriereweg ab: Es war Robert Louis Stevenson, der zwar kurze Zeit in Edinburgh Technik studiert hatte, dann aber eine andere Laufbahn wählte – nämlich die als Schriftsteller, die ihn mit Werken wie „Die Schatzinsel“ und „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ weltberühmt machte.

Bell Rock Lighthouse. Das von William Turner geschaffene Bild des Leuchtturms findet sich auch als Illustration in dem von Robert Stevenson verfassten Buch „An Account of the Bell Rock Light-House“ (1824). Darin liefert Stevenson nicht nur viele Details zum Bau von Bell Rock, sondern weiß auch einiges aus der Seefahrtsgeschichte zu berichten – was annehmen lässt, dass er eine ähnliche erzählerische Ader hatte wie sein Enkel Robert Louis.

Bell Rock Lighthouse. Das von William Turner geschaffene Bild des Leuchtturms findet sich auch als Illustration in dem von Robert Stevenson verfassten Buch „An Account of the Bell Rock Light-House“ (1824). Darin liefert Stevenson nicht nur viele Details zum Bau des Leuchtturms, sondern weiß auch einiges aus der Seefahrtsgeschichte zu berichten – was vermuten lässt, dass er eine ähnliche erzählerische Ader hatte wie sein Enkel Robert Louis Stevenson.

Die Errichtung von Leuchttürmen, die im Meer auf Felsen stehen, war wegen des oft hohen Seegangs und wegen Stürmen überaus schwierig und bisweilen sehr langwierig. Als Beispiel nennt R.G. Grant den 1867 begonnenen Bau des Leuchtturms auf dem Ar-Men, einem halb unter dem Wasser liegenden Granitfelsen vor der Küste der Bretagne: „In den ersten beiden Jahren konnten die Arbeiter nur 23 Mal auf dem Felsen landen und jedes Mal nur rund eine Stunde lang arbeiten, bis die Flut sie zum Rückzug zwang. Es dauerte ganze sieben Jahre, bis sie ein mit Eisenstreben im Granit verankertes Steinfundament fertig hatten“. Insgesamt brauchte es 14 Jahre, bis der heute noch funktionierende Leuchtturm fertiggestellt war.

Entwurf eines Leuchtturms (1881). Quelle: Technische Universität Berlin, Architekturmuseum

Entwurf eines Leuchtturms, 1881 (Technische Universität Berlin, Architekturmuseum).

Die „Helden“ in der Geschichte der Leuchttürme sind neben den Konstrukteuren und Bauarbeitern die Leuchtturmwärter. Sie hatten in Einsamkeit, auf engstem Raum, hoch über dem Meer ihren Dienst zu verrichten, der wenig von jener Romantik hatte, mit der er oft assoziiert wird. Der Dichter Robert Louis Stevenson allerdings kannte – durch seine Familie – die Realität. In seinem 1870 entstandenen Gedicht „The Light-Keeper“ beschreibt er den Leuchtturmwächter als jemanden, der für seine Arbeit die Annehmlichkeiten des Lebens aufgibt, der zur Bewältigung des einsamen Alltags viel Geduld und Phlegma nötig hat und der, um Geld zu verdienen, zum Märtyrer wird.

Robert Louis Stevenson: The Light-Keeper

As the steady lenses circle / With a frosty gleam of glass;
And the clear bell chimes, / And the oil brims over the lip of the burner,
Quiet and still at his desk, / The lonely light-keeper / Holds his vigil.

Lured from far, / The bewildered seagull beats / Dully against the lantern;
Yet he stirs not, lifts not his head / From the desk where he reads,
Lifts not his eyes to see / The chill blind circle of night / Watching him through the panes.

This is his country’s guardian, / The outmost sentry of peace.
This is the man / Who gives up that is lovely in living / For the means to live.

Poetry cunningly gilds / The life of the light-keeper,
Held on high in the blackness / In the burning kernel of night,
The seaman sees and blesses him.
The Poet, deep in a sonnet, / Numbers his inky fingers / Fitly to praise him.
Only we behold him, / Sitting, patient and stolid / Martyr to a salary.

Die Zeit der Leuchttürme ist vorbei: Heutzutage, da die Schiffe mit modernsten Navigationssystemen ausgestattet sind, werden die Türme als maritime Wegweiser kaum mehr benötigt. Weltweit wurden in den vergangenen Jahrzehnten Tausende von ihnen außer Betrieb gesetzt und jene, die noch funktionieren, in automatische Leuchtfeuer umgewandelt. Geblieben aber sind sie als pittoreske Land- und Seemarken, und was für eine feste Verankerung sie in unserer Vorstellungswelt haben, zeigt der Begriff „Leuchtturmprojekt“, der es – mit der Erklärung „herausragendes, wegweisendes Projekt (besonders im kulturellen und politischen Bereich)“ – auch schon in den Duden geschafft hat.

R.G. Grant: Wächter der See. Die Geschichte der Leuchttürme. A.d. Englischen von Heinrich Degen. DuMont Buchverlag, Köln 2018.

 

In der Gerste

 

Auf welchen Wegen
kam ich hier her,
was blieb von dem Jungen,
der durch die Gerste strich,
der versuchte den Wind zu lesen
im wogenden Korn.

Was bleibt jetzt zu tun,
der Körper löst sich auf,
die Pläne stolpern übereinander und lachen.

1. Die Geschichte weitererzählen,
2. ein Zuhause finden zwischen ihren Zeilen,
3. die Vögel fliegen lassen, wenn die Zeit gekommen ist.

Auf welchen Wegen kam ich hier her,
was kommt nach dem Jungen,
der durch die Gerste strich,

mit ihren Halmen
schreib ich mich
in deine schönen Hände.

Kushinagar, 2019

23. Februar 2019 07:03

 

 

chamäleon

 

es setzt den fuß, greift mit dem fuß den ast.
die augenlider bewegen sich von oben, von unten,
und öffnen sich wieder.
jedes auge blickt in eine andere richtung.
ein ruck in der blickrichtung.
der betrachter wird angeschaut, mit augen,
rund und groß, unter einem himmel aus glas.

28. Februar 2019 12:47

 

unterwegs in den wolken

pic

del­ta : 5.28 UTC — Das war schon selt­sam, wie die alte Dame zum ers­ten Mal in ihrem Leben vor­sich­tig hin­ter einem Leicht­ge­wicht­rolla­tor spa­zier­te. Sie trug Leder­hand­schu­he, ver­mut­lich weil sie zur Maschi­ne, die hel­fen soll, ihren Gang zu sta­bi­li­sie­ren, einen gewis­sen stoff­li­chen Abstand ein­zu­hal­ten wünsch­te. Sie schien sich zu fürch­ten, ernst schau­te sie gegen den Boden. Mög­li­cher­wei­se fürch­te­te sie, mit den Räd­chen und Gestän­gen aus Car­bon in ihrer nächs­ten Nähe ver­wach­sen zu müs­sen. Gern wür­de sie wei­ter­hin auf ihren eige­nen Bei­nen allein, die sie schon so lan­ge Zeit kann­te, Schritt für Schritt Wege bestrei­ten, die ihr ver­traut waren, das Laub der Buchen, der Kas­ta­ni­en auf der Stra­ße, wie schön, ein Tep­pich, Schne­cken da und dort, die sich herbst­lich lang­sam fort­be­weg­ten schein­bar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Mor­gen, Wol­ken berühr­ten den Boden, auf den die alte Dame weni­ge Tage zuvor noch gestürzt war, ein­fach so, ohne einen Grund und ohne wie­der auf­ste­hen zu kön­nen, uner­hört, so ein Schla­mas­sel. Hun­dert Meter weit war sie nun schon gelau­fen, da ent­deck­te sie eine Klin­gel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anhe­ben und für eine Wei­le in der Luft fest­hal­ten konn­te. Ja, Kraft in den Armen, aber die Bei­ne, waren unsi­cher gewor­den, viel­leicht des­halb, weil sie hin­ter die­ser Maschi­ne her­lau­fen muss­te. Für einen Moment blieb die alte Dame ste­hen. Es wur­de ganz still. Sie beug­te sich zur Klin­gel her­ab, und schon war ein hel­les Geräusch zu hören, ein ange­neh­mes Geräusch, zwei­fach war es zu hören gewe­sen. — stop