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Das Lesezeichen 02/2018 ist da!

Lesezeichen, Ausgabe 02/2018 vom 09. Juli 2018.

„Jenen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Zucker sein …” - Bild: schwungkunst
„Jenen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Zucker sein …” – Bild: schwungkunst

 

In dieser Ausgabe:

Belieben der brunftigen Kundschaft; Zeitraum: 2018, Dokumentart: Volltext; Einführung in die Logik und Werte der westlichen Welt; ihre Käfer­zeich­nungen von eigener Hand; dieses Glitzern am nachtschwarzen Abgrund; Zum Tod von Günter Herburger; 82 seiten, farbiger vor- und nachsatz, halbleinenbindung; Ekel vor behaarten und bewollten Flugtieren; Hektor, drinnen im Wohnzimmer; das Jane Austen House in Chawton; Archäologie des Fußballspiels; sommermädchen im lispelschwarm; in der ferne ein lustschiff, Museen, Carports über Evolutionen… u.v.m.

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Inhalt 02/2018

Lesezeichen, Ausgabe 02/2018 vom 09. Juli 2018.

„Jenen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Zucker sein …” - Bild: schwungkunst
„Jenen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Zucker sein …” – Bild: schwungkunst

 

In dieser Ausgabe:

Belieben der brunftigen Kundschaft; Zeitraum: 2018, Dokumentart: Volltext; Einführung in die Logik und Werte der westlichen Welt; ihre Käfer­zeich­nungen von eigener Hand; dieses Glitzern am nachtschwarzen Abgrund; Zum Tod von Günter Herburger; 82 seiten, farbiger vor- und nachsatz, halbleinenbindung; Ekel vor behaarten und bewollten Flugtieren; Hektor, drinnen im Wohnzimmer; das Jane Austen House in Chawton; Archäologie des Fußballspiels; sommermädchen im lispelschwarm; in der ferne ein lustschiff, Museen, Carports über Evolutionen… u.v.m.

INHALT:

Manners, Profit, Fame and Freezing Blood. Englands Jane revisited. Hampshire 2018

Dieser Post erscheint mit einiger Verspätung, denn am Karfreitag rutschte ich über eine klatschnasse Treppenstufe im Garten von Chawton House und brach mir das Handgelenk. Das gab mir Gelegenheit zu einem kurzen Einblick in das viel kritisierte National-Health-System Großbritanniens, das in meinem Fall aber unbürokratisch und rasch den Bruch versorgte und die eingegipste Heimkehr mit dem geplanten Zug durch den Euro-Tunnel ermöglichte. Mit den Folgen des Bruches habe ich allerdings immer noch zu tun. Die Heilung ist langwierig, der Gips kam erst am letzten Dienstag ab und immer noch trage ich eine Armorthese; Physiotherapie beginnt erst in drei Wochen.
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“The person, be it gentlemen or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid.” 

Winchester war einmal die Hauptstadt Englands. In der Kathedrale ließ sich William the Conqueror krönen. Und Jane Austen liegt hier begraben. Der Platz und die Grabplatte wurden ihr zugestanden, weil ihr Vater Pfarrer in Hampshire gewesen war. Dass sie Autorin auch schon zu ihren Lebzeiten recht erfolgreicher Romane war, bleibt auf der Platte unerwähnt. Aber ihre Bescheidenheit wird gerühmt. Wer Austens Briefe kennt, weiß jedoch, dass Englands Jane sehr wohl über gesundes Selbstbewusstsein als Schriftstellerin verfügte. An ihrer Beerdigung durften nur die männlichen Verwandten teilnehmen, ihre Schwester Cassandra, mit der sie ein Leben lang Bett und Zimmer geteilt hatte, musste zu Hause bleiben. Jane Austen hinterließ Cassandra all ihren weltlichen Besitz und sie war recht stolz darauf, in ihren letzten Lebensjahren nicht unbeträchtliche Einkünfte aus ihren Veröffentlichungen bezogen zu haben.

In Winchester besuchten wir auch Winchester College, das älteste und bis heute eines der angesehensten und teuersten Jungen-Internate der Welt. Wykehamists (benannt nach William von Wykham, der das College 1382 gründete) aber, so erklärte uns die Führerin durch die Gebäude, stünden öffentlich nicht in der vordersten Reihe, wir würden ihre Namen kaum kennen, obwohl sie viele ranghohe Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bekleideten. Anders als die Etonianer (z.B. David Cameron oder Boris Johnson) übernähmen sie jedoch eher dienende Funktionen in den Institutionen. Ein bisschen erzeugte sie den Eindruck, dass die intellektuell mindestens ebenbürtigen Wykehamists die Etonianern ihre Gesichter in die Kameras halten lassen, um im Hintergrund dann tatsächlich zu herrschen. „Trusty Servants“ halt, deren Motto seit jeher lautete: „Manners make a man.“

Hirvoverus. The Trusty Servant. Winchester College
A trusty servant’s picture would you see,
This figure well survey, who’ever you be.
The porker’s snout not nice in diet shows;
The padlock shut, no secret he’ll disclose;
Patient, to angry lords the ass gives ear;
Swiftness on errand, the stag’s feet declare;
Laden his left hand, apt to labour saith;
The coat his neatness; the open hand his faith;
Girt with his sword, his shield upon his arm,
Himself and master he’ll protect from harm

In derselben Straße, in der sich hinter hohen Mauern das College verbirgt, steht das kleine gelbe Haus, in dem Austen starb, während unseres Besuches hinter einem Gerüst versteckt. Nur eine kleine Plakette erinnert hier an Englands bedeutendste Schriftstellerin.

Durch die Kathedrale von Winchester erhielten wir eine amüsante Führung von einem älteren Freiwilligen, der uns an den mittelalterlichen Fehden zwischen Bischöfen und Königstreuen, den wechselnden Allianzen im 100jährigen Krieg oder den Rosenkriegen teilhaben ließ. Ein Überblick allerdings fehlt mir immer noch, auch wenn ich versuche, mich zu orientieren. So viele Henrys und Richards und Williams, Elizabeths und Annes und Marys, so viele Familiennamen und Titel.

Der Standort der Kathedrale war offenbar von Anfang an nicht sehr klug gewählt. Hinten rechts sackt sie seit Jahrhunderten ab. Von 1906 bis 1911 arbeitete der Taucher William Walker täglich (außer Sonntags) jeweils 2 x 3 Stunden im Schlamm, um das Fundament zu stabilisieren. Eine kleine Statue in der Kathedrale ehrt ihn, draußen ist in unmittelbarer Nähe ein gut besuchter Pub nach ihm benannt.

Trotzdem läuft die Krypta im Winter und Frühling regelmäßig voll, aber hier gilt das tapfere britische Motto „Muddle through.“ Auch bei unserem Besuch stand die Statue „Sound II“ von  Anthony Gormley mysteriös und dekorativ im Brackwasser und betrachtete kontemplativ das Wasser in ihren Händen.

Bei einem Straßen-Antiquar fand ich diese schön illustrierte Sammlung von Briefen Jane Austens:

The Illustrated Letters, Selected and introduced by Penelope Hughes-Hallett, 1990

Die Business-Woman schreibt 1814 an Anna Austen: „Walter Scott has no business to write poems, especially good ones. It is not fair. He has fame and profit enough as a poet, and should not be taking the bread out of other peoples mouths. I do not like him, and do not mean to like Waverley – but fear I must…“ Austen gibt ihrer Lieblingsnichte Fanny Liebesratschläge, sie lästert mit ihrer Schwester über Verwandte und Bekannte, sie korrespondiert mit Bruder Henry über die bestmögliche Vermarktung ihrer Werke.

Wir besuchten das Jane Austen House in Chawton, wo die Autorin in der Lebensgemeinschaft mit drei anderen Frauen ihre produktivsten Jahre verbrachte. Seien Sie gewarnt: Wenn Sie an der Bushaltestelle aussteigen, müssen Sie eine Schnellstraße überqueren, ein lebensgefährliches Unterfangen. Kaum aber betreten Sie den kleinen Ort mit seinen reetgedeckten Häusern können Sie sich eine Zeit vorstellen, in der man sich zu Fuß oder mit einer kleinen offenen Kutsche fortbewegte, wie sie im Austen House zu besichtigen ist. Etwas außerhalb des kleinen Ortes, neben der malerischen Kirche, findet sich Chawton House, einer der Landsitze, die Janes, von einem reichen Verwandten adoptierter, Bruder Edward Austen Knight erbte. Zu seinem Besitz zählte auch das im Dorf gelegene Wohnhaus, das er seiner Mutter, seinen Schwestern und deren Freundin zum Wohnen zur Verfügung stellte. Jane unternahm regelmäßig den kurzen Spaziergang zum „Great House“ mit seinem weitläufigen Garten, hütete Edwards zahlreiche Nachkommenschaft und nutzte die Bibliothek.

Seit 2003 beherbergt Chawton House das von Cisco-Gründerin Sandra Lerner gegründete  „Centre for the Study of Early Women’s Writing 1600-1830“ mit Original-Handschriften und Erst-Ausgaben vieler englischsprachiger Autorinnen. Bei unserem Besuch sahen wir eine spannende Ausstellung unter dem Titel „The Art of Freezing the Blood“, die uns die Romane der weiblichen „Gothic“-Autorinnen näher brachte, auf die sich auch Austens „Northanger Abbey“ bezieht. Chawton House hat einen wunderschön angelegten weitläufigen Garten, der bei Regenwetter aber auch Gefahren für ältere Besucherinnen bereit hält (s.o.)

If adventures will not befall a young lady in her own village, she must seek them abroad.” 

(Jane Austen, Northanger Abbey)
 

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Reise-Tipp: Wir übernachteten in Winchester im „The Old Vine„, einem wunderbar altmodischen Pub mit 5  geräumigen Gästezimmern, die individuell gestaltet sind. Morgens gibt es kein Buffet, sondern Frühstück a la carte (auf Wunsch auch aufs Zimmer) mit fabelhaften, frischen Produkten aus Hampshire. Auch das Dinner können wir sehr empfehlen.

„Ein altes, echt englisches Vergnügen“

„A company at football“ (Aus: John Ashton, Chap-Books of the Eighteenth Century, London 1882)
„A company at football“ (Aus: John Ashton, Chap-Books of the Eighteenth Century, London 1882)

Aus der Sportgeschichte ist zu erfahren, dass es schon vor mehr als 2000 Jahren in China ein dem Fußball ähnliches Spiel – Cuju genannt – gegeben hatte. Auch bei den präkolumbianischen Kulturen Mittelamerikas sind derartige Spiele nachweisbar, und in Europa waren spätestens ab dem Mittelalter Mannschaftskämpfe beliebt, bei denen es um Ballbeherrschung durch entsprechende Fußtechnik ging.

Der Ursprung des modernen Fußballsports aber liegt – darin ist man sich in Fach- und Fankreisen einig – in England. Dort formierten sich Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im militärischen Bereich sowie an Schulen und Colleges die ersten Fußballmannschaften. 1848 wurden an der Universität Cambridge die ersten Fußballregeln formuliert, die als „Cambridge Rules“ in die Sportgeschichte eingingen und die Basis für das heute gültige Regelwerk bildeten.

Es sollte noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis sich Fußball als die europaweit (und dann auch international) populärste Breitensportart durchgesetzt hatte. 1879 wurde der erste Schweizer Fußballverein gegründet, der „FC St. Gallen“ (der damit der älteste noch bestehende Fußballverein auf dem europäischen Festland ist). 1888 folgte mit dem „Berliner Fußball-Club Germania“ der erste deutsche Verein, 1894 mit dem „First Vienna Football-Club“ (bald nur kurz „die Vienna“ genannt) der erste österreichische.

Match der Old Etonians gegen die Blackburn Rovers (um 1870)

Match der Old Etonians gegen die Blackburn Rovers (um 1870)

 

Das Interesse an der „neuen“ Sportart war groß. Schon als der Fußballboom in England einsetzte, lieferten die Zeitungen entsprechende Informationen. So etwa widmete die „Wiener Zeitung“ im September 1852 dem, wie es im Übertitel hieß, „Englischen Nationalspiel“ einen eigenen Artikel, den man aus der „Kölnischen Zeitung“ übernommen hatte:

„Fußball ist ein altes, echt englisches Vergnügen und wird jetzt namentlich auch von den Soldaten in ihren Mußestunden häufig gespielt. Man bedient sich zum Spiele einer Ochsenblase, welche mit weichem, jedoch starken Leder wohl überzogen ist; diese wird aufgeblasen und auf das sorgfältigste zugenäht, sodass die Luft nicht entweichen kann und die Blase ihr volle Elastizität behält. Ein solcher Ball wird zwischen zwei Parteien, die ganz ähnlich wie beim Shinty[1] aufgestellt sind, hoch in die Luft geworfen, und das Bestreben jeder Partei ist nun, denselben über die im Rücken des Gegners befindliche Spielgrenze zu bringen; denn, wenn dieses gelungen, so ist das Spiel gewonnen.

Wie schon der Name andeutet, darf der Ball nur mit dem Fuße geschleudert werden, und es ist höchst überraschend, zu welcher Fertigkeit es selbst ganz junge Knaben im Spiele bringen; denn es kommt hier viel mehr auf Geschicklichkeit als auf physische Kräfte an. Fußball bietet fast alle Vorteile des Shinty, ohne die harschen Seiten desselben zu teilen; es ist ein Spiel höchst gemütlicher Natur, welches zu gleicher Zeit den Muskelbau der Spielenden ausbildet und ihre Gewandtheit und Schnelligkeit befördert.

Fußballmatch in England, um 1890

Fußballmatch in England (um 1890)

 

Es kann allerdings nur an schönen, ruhigen Tagen gespielt werden, aber dann ist es auch ein Hauptvergnügen und die Unterhaltung, welche es gewährt, nicht gewöhnlicher Art; und wer an einem heiteren Sommer-Nachmittage auf dem Gemeindeplatze in Greenwich oder im Hydepark von London die Soldaten im Fußballspiele beobachtet hat, wird mir beipflichten, dass das Spiel wohl verdiente, in deutsche Kasernen und Kadettenhäuser eingeführt zu werden; es zeigt sich da eine Lebendigkeit und eine Gewandtheit der Bewegung und eine Elastizität im Gange, als nur durch derlei Übungen gewonnen werden können. Ein jeder fühlt sich geistig erfrischt und körperlich gestärkt, ohne im Geringsten ermüdet zu sein. Es wird dieses Spiel auch namentlich noch auf der schottischen Grenze gespielt, wo alljährlich größere Wettkämpfe stattfinden; und es ist ein schöner Anblick, hier den leichtfüßigen Schäfer mit dem kräftigen Pflugmann um die Ehre des Tages streiten zu sehen – Gesundheit und Vergnügen strahlt aus jedem Antlitze.“

Wiener Zeitung, 25.9.1852 (Abendblatt). Der Originaltext wurde der heutigen Orthografie angepasst.

[1] Shinty ist eine Sportart keltischen Ursprungs, die v.a. in Schottland betrieben wird und als Vorform des Hockeys gilt.

das buch mit den seiten

mein neues buch ist beim deutschen verlag topalian & milani erschienen:

 

»das buch mit den seiten« von anatol knotek
»das buch mit den seiten« buchhandelsausgabe (links) und                      sonderausgabe (rechts) von anatol knotek
82 seiten, farbiger vor- und nachsatz, halbleinenbindung, geprägter umschlag, gedruckt auf munken lynx und von hand individualisiert.
isbn: 978-3-946423-10-2
preis: 28 € (D), 28,80 € (A), 34 CHF
erhältlich im buchhandel oder online bestellbar bei buch7.de oder morawa und vielen weiteren online buchhändlern.
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die limitierte sonderausgabe (20 handgefertigte exemplare) kann im museumsshop der villa rot, in der buchhandlung aegis in ulm oder direkt beim verlag topalian & milani erworben werden.

Hektor hat Angst

Es fällt ihm heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was er empfindet. Sicher gibt es einen Experten? Hektor wendet sich an sein TV. Es gibt immer Experten. Sie treffen sich in Runden und lassen ihn zuhören. Nonstop.
„Man unterscheidet sechs Basisemotionen“, erläutert einer von ihnen gerade. „Diese sechs sind nicht erlernt, sondern genetisch bedingt.“
Hektor, drinnen im Wohnzimmer, neigt verständig den Kopf.
„Sie werden kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt“, fährt der Mann fort. „Es sind Wut, Trauer, Freude, Überraschung, Ekel und Angst. Die bestimmen uns von ganz unten.“
Gottseidank, denkt Hektor. Es gibt also eine Liste.
„Ist das nicht ein wenig zu übersichtlich?“, fragt der Moderator, der nur Moderator ist.
„Aber ja“, erwidert der Experte kühl. „Es gibt ja noch Verachtung. Und dazu Scham, Schuld, Verlegenheit und Scheu.“

Plausibel, findet Hektor.
Er selbst hantiert erratisch mit seinen Gefühlen. Die meisten Challenges auf Arbeit lassen sich besser erledigen, wenn er nicht weiß, welcher Motor ihn gerade antreibt. Wenn man voll in Fahrt ist, muss das Ding laufen. Fertig. Und die Karosserie muss sitzen. Den Unterbau zu zeigen kann Hektor sich nicht leisten. Plötzlich wäre er exponiert. Nicht ausgeschlossen, dass die Experten dann über ihn talken würden. Aber eben nur über ihn.

– Ob er dann verlegen wäre? Hallo? Es ist kein Zuckerschlecken, ein Beispiel zu sein! Man müsste hart trainieren, um damit umgehen zu können. The biggest Looser.
Hektor überlegt, ob er das Programm wechseln soll, bleibt dann aber am Ball.

Angst und Scham sind seine ältesten, verlässlichsten Gefühle. Spürt er nicht immer eher seine Bedrohungen als seine Möglichkeiten? Der Wert seines So-Seins würde ihn nicht davor schützen, unter die Räder zu kommen.
(Oder?)

Es kommt auf dich nicht an, raunt der Experte. Du hast keine Bedeutung und es gibt keinen Schutz. Tu’, was angesagt ist, und geh’ danach in Deckung, bevor dich jemand angreift. Das ist die verfickte Challenge. Versau’s nicht.

(- Hat der das eben wirklich gesagt?)

Ratschläge finden in Hektors Leben nur wenige statt, seitdem er kein Kind mehr ist. Die kommen durchweg von Männern und zielen darauf ab, ihn zu optimieren. Frauen finden ihn meistens super, aber die sind einfach zu nett, um wahr zu sein. Befürchtet er.

Er streckt die Oberschenkel, die vom langen Sitzen ein wenig krampfen.
Wie er sich dafür schämt, sich als wertlos zu empfinden! Nach allem, was er geleistet hat! Nach der Anerkennung, die ihm immer wieder gezollt wird!
Ge-zollt!
Wie kommt es, dass all die Likes ihn nicht vor sich selbst schützen können? Ist er etwa dumm? Beschädigt? Schwach? Machtlos?
Der alte Loop.

Hektor schließt die Augen. Fast unmerklich sinkt seine rechte Hand in seinen Schritt.
Und jetzt,
endlich,
darf er kriechen.
Unten sein.
Die Challenge ist vorbei.

Er sollte sich schämen für seinen Gehorsam, doch tatsächlich ist der jedes Mal ein Sieg. Hektors Wert bestimmen nun die Experten. Was für eine ungeheure Befreiung, dafür nicht mehr zuständig sein zu müssen! Wie könnte er sie nicht lieben, ihnen nicht verfallen?
Er und die Experten sind eins, sind die gleiche Person: Hektor macht sie zu vollständigen Menschen. Und sie ihn.
Er legt den Kopf nach hinten.

Die holländische Wollmotte

Zugegeben, ich reise nicht eben viel. Gedanklich und imaginativ zwar schon, mitsamt meiner Ganzheit aber eher weniger. Letztes Jahr immerhin war ich in verschiedenen deutschen Ländern und in der Schweiz, in (Ober-) Italien und Österreich. Das Absonderlichste aber habe ich nicht in Zürich, Essen, Frankfurt, Innsbruck, Wien oder am Gardasee gesehen, sondern in Westfalen, nämlich ein seltenes Exemplar der holländischen Wollmotte. Die bis zu vierzig Zentimetern großen Motten, bei einer Flügelspannweite von bis zu fünfzig Zentimetern, leben sehr im Verborgenen, durchaus nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in den Nachbarländern Belgien und Westfalen. Da sie sich nur des Nachts bewegen, ihre Nahrung besteht aus Kleininsekten, Mäusen, Fröschen und so weiter, glauben viele zufällige Beobachter, sie hätten eine Eule gesehen, die, aus welchen Gründen auch immer, untypische Flugbewegungen vollzieht. Eine Wollmotte tagsüber zu beobachten ist dagegen, wie allgemein bekannt, fast unmöglich, so dass ich nicht wenig staunte, ein Exemplar mitten am Tage an der Fensterscheibe meiner westfälischen Stipendienunterkunft in Schöppingen kleben zu sehen. Zum Glück von außen, denn ich ekele mich ein wenig vor behaarten und bewollten Flugtieren. Es gelang mir, trotz meiner nachvollziehbaren Aufregung, ein Foto des Exemplars zu schießen, weswegen ich nun einer der ganz wenigen Menschen überhaupt bin, denen dies Kunststück gelungen ist. Die Motte machte sich, kaum hatte ich sie abgelichtet, leider wieder von dannen, ich hätte sie gerne noch ein wenig betrachtet. Dennoch aber hat dieses kleine Erlebnis, das muss ich sagen, meinen Aufenthalt in Schöppingen um einiges aufgewertet, was ja nun auch nicht das Schlechteste ist.

Mit Stern

sollen wir alle gemeint sein? das Mädchen mit der Sterntüte ebenso, wie der Mann mit dem sternblauen Auge, die Alte mit dem Sternglas voller Wein, das Baby mit dem durchdringenden Sternschrei, noch ungeboren, klar: Rücken an Rücken haben wir Sternform und kommen aus dem Glitzern gar nicht mehr raus, dieses Glitzern am nachtschwarzen Abgrund, vielleicht wollen wir ihn nicht sehen, oder sollen es nicht, um nicht zu merken, dass wir eigentlich wütend sind, leben wollen, doch mit dem morgendlichen Anspringen der Heizung besänftigen sie uns, nehmen jegliches Funkeln aus unserem Mord- wie Worttrieb, gerade mal ein voller Einkaufswagen mit zur Hälfte unverrottbarem Krempel, damit wir fernbleiben vom Firmament, an dem sie blenden, um jeden Abend lodernd unterzugehen, wie die letzte Glut einer Zigarette, von der wir dachten, sie tue uns gut. Wir Kinder. Wir Sternschnuppenkinder. Wir Libellenlarven, die aussehen wie Bergmolche, doch nun hohl zwischen ihnen dahintreiben. Dabei können wir fliegen! wenn wir die PCs erstmal abgestreift haben.

Zum Tod von Günter Herburger

Saurüssele

Das Wichtigste,
was man von Schweinen
lernen kann: kein Mensch zu sein.

Sie sind sehr sauber,
sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch,
kämpferisch, aber dann lieben
sie einander wieder,
und wenn sie weinen,
was sie gerne tun, schreien
sie kaum und lächeln dabei.

Einen Tag, bevor sie
geschlachtet werden sollen,
sind sie nervös und konfus,
rennen umher und beschmutzen sich.
Dann beginnen sie zu singen,
sehr tief und sehr hoch,
wir vermögen es nicht zu hören.

Kein einziges Schwein ist bekannt,
das alt, krank und mager
noch auf der Weide lebte,
ganz und gar nicht allein,
weil umgeben von Igeln,
sodass, wenn es stirbt,
es auch ein Häufchen wäre,
bedeckt von Blättern und Geschmeiß,
deren Konzerte
wir niemals vernehmen.

Günter Herburger
6. April 1932 – 3. Mai 2018

glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller

india

~ : louis
to : Mr. vladimir nabokov
subject : PROPELLER

Lieber Mr. Nabokov, vor langer Zeit, Sie erin­nern sich viel­leicht, hatte ich Ihnen einen Brief notiert, welchen ich heute wieder­ent­deckte. Plötz­lich war ich mir nicht sicher, ob Sie den Brief tatsäch­lich erhalten haben, deshalb sende ich ihn unver­än­dert ein weiterer Mal: Gestern Abend, nach einem Spazier­gang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halb­wegs betrun­kene Freunde saßen, hab ich mich an ihre Vorle­sung über Franz Kafkas Verwand­lung erin­nert, an Ihre liebe­volle und akri­bisch genaue Unter­su­chung des Textes, an ihre Käfer­zeich­nungen von eigener Hand, mit welchen Sie versuchten eine Vorstel­lung zu gewinnen von Wesen und Gestalt jener Hülle, in die Gregor Samsa einge­schlossen worden war. Ja, die Genau­ig­keit, mit der man sich erfin­dend einem Gegen­stand nähert oder die Genau­ig­keit, mit der man einen erfun­denen Gegen­stand sezieren kann, immer wieder begegne ich während meiner Arbeit Ihren Unter­su­chungen, Ihrer Methode. Vorges­tern hatte ich bei einer ersten Annä­he­rung an eine Geschichte, die von lebenden Papieren erzählen wird, das Wort Propel­ler­flügel in den Mund genommen, ohne zu ahnen, dass Propeller in der Welt lebender Orga­nismen nur sehr schwer zu verwirk­li­chen sind, weil ein Propeller sich doch frei bewegen muss, drehend in einer Fassung, die ihn lose hält, sodass ein lebender Orga­nismus aus einem weiteren Körper bestehen müsste, der ganz zu ihm gehören würde und doch nicht ganz zu ihm gehören kann. Nun habe ich beschlossen, die Vorstel­lung der Propel­ler­flügel nicht so ohne weiteres aufzu­geben. Ich habe mir gedacht, dass ein Propeller, der aus orga­ni­schen Mate­rialen bestehen wird, viel­leicht auf atomarer Ebene einem flug­fä­higen Körper verbunden sein könnte, verbunden durch Mole­küle, die im Moment einer Flug­be­we­gung, den Rotor von Haut und Knochen einer­seits anzu­treiben in der Lage sind und ande­rer­seits je für einen kurzen Moment in die Frei­heit entlassen. Und jetzt bin ich glück­lich und hoffe, dass sie an meinem Entwurf Gefallen finden werden. – Mit aller­besten Grüßen Ihr Louis – stop