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DAS LESEZEICHEN 02/2021 IST ERSCHIENEN!

 

Lesezeichen, Ausgabe 02/2021 vom 18. August 2021.

Marianne Büttiker: Filogramm. In: tempo fugato.

In dieser Ausgabe:

Lob des Universalatlas‘ – Hipsteradresse, ein Beliner Nasenstüber – Déjà-Vus und Haargummis – Staubtuch mit aufgewischten Wörtern als Filogramm – Hundertprozentige Vertrauenswürdigkeit ist ein Anspruch, den man keinem außerhalb des eigenen Gehirns zumuten sollte. – It is not the meaning of a work of art that is its primary message. It is the form of the artwork that is its primary message. – uvam. … 

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Litblogs.net – Literarische und künstlerische Weblogs, hg. von Hartmut Abendschein, Markus Hediger und Chris Zintzen, Bern / Wien 2004-2021

 

 

Inhalt 02/2021

 

Lesezeichen, Ausgabe 02/2021 vom 18. August 2021.

Marianne Büttiker: Filogramm. In: tempo fugato.

 

In dieser Ausgabe:

Lob des Universalatlas‘ – Hipsteradresse, ein Beliner Nasenstüber – Déjà-Vus und Haargummis – Staubtuch mit aufgewischten Wörtern als Filogramm – Hundertprozentige Vertrauenswürdigkeit ist ein Anspruch, den man keinem außerhalb des eigenen Gehirns zumuten sollte. – It is not the meaning of a work of art that is its primary message. It is the form of the artwork that is its primary message. – uvam. 

INHALT:

 

  •  Litblogs.net – Literarische und künstlerische Weblogs, hg. von Hartmut Abendschein, Markus Hediger und Chris Zintzen, Bern / Wien 2004-2021

Hej, hej (Gedicht)

 

Hej, hej

Hej, hej, du kleine Ratte,
du bist so wichtig und so reich,
was thronst du auf der Yoga-Matte,
als seist Du König oder Scheich.

Hej, hej, du kleines Luder,
du lässt dich gerne auch hier sehn,
denkst gewiss, du seist am Ruder,
am Ende gar schon Kapitän.

Hej, hej, ihr beiden Nobelfressen,
da geht’s lang, adieu ihr Zwei,
ihr seid Gezücht gar zum Vergessen,
husch, husch, sonst haun wir euch zu Brei.

Hej, hej, ihr asozialen Blasenaffen,
nur neo seid ihr, niemals liberal,
wir sind dabei euch abzuschaffen,
mit den Waffen unsrer Wahl.

Hej, hej, ihr dummen Angepassten,
was ihr Erfolg nennt ist nur Geld,
ihr könnt nicht ruhen und nicht rasten,
bis ihr die Reichsten auf der Welt.

Hej, hej, ihr aufgeblasnen Wichte,
Zaster nur und Zinsen sind euch Sinn,
doch genau betrachtet und bei Lichte,
macht das am Ende Null Gewinn.

Hej, hej, wer kommt denn da so angewinselt,
ihr würdet lernen, sagt ihr, aus den Fehlern,
schon seid ihr ganz und gar mit Teer bepinselt,
und da ist ja auch der Sack mit all den Federn.

Hej, hej, ihr Göttermenschen neoliberalster Weise,
die Menschheit dankt euch in besondrer Art,
mal echt ’ne andere Art von Götterspeise,
ein echter Gaumenschmaus ihr ward.

***

 

20/21 – Filogramm

 

 

Ein stiller Ort wo Staub sich sammelt an den Rändern des Tages wird sich Zeit in den Augenblick gestalten als wäre es ein zufälliges Prinzip des Werdens dem es folgt in dem es wird eine lose Komposition unendlicher Variationen unzähliger Bewegungen worin sich das Bild findet das im Betrachten die Sinne erreicht und eine Vorstellung eine Genesis dem Vorhandenen entlockt es in seinem simplen Daliegen Gefühle des sinnlosen Fristens im Schatten von Betten und anderem Mobiliar neben Türen in Nischen und planetarischen Umlaufbahnen im Wind der Gedanken. Staubtuch mit vorzu aufgewischten Wörtern über die Poesie des Staubes.

 

 

Über das Vertrauen

 

Gestern Abend stellte ich mir vor, jemand könne sich tatsächlich überall in mir bewegen ohne dass mir ein Ort bliebe, an dem ich unangefochten mit mir selbst zusammensein kann, an dem ich mein eigener Maßstab bin.
Gruselige Idee! Ich behalte mir vor, meine Einschätzungen und Schlussfolgerungen nicht gänzlich zur Disposition zu stellen. Mitwisser zu werden bedeutet die Last zu tragen, nie mehr nicht wissen zu können. Es bedeutet Verantwortung – und ich lehne es ab, Menschen in derartigen Zugzwang zu bringen.

Es gibt einen ganz bestimmten Ort, an dem ist man alleine mit der eigenen Unbedingtheit. Mit dem Vertrauen, das man nur ins Eigene hat und in niemanden sonst, weil man nur selbst bereit ist, die Konsequenzen dessen zu tragen, was die eigene Wahrnehmung einem als Wirklichkeit zur Verfügung stellt.
Ich finde, hundertprozentige Vertrauenswürdigkeit ist ein Anspruch, den man keinem außerhalb des eigenen Gehirns zumuten sollte. Ich will meine Stabilität und mein Lebensglück nicht davon abhängig machen, dass jemand abwägt, ob er mir zu Seite stehen kann oder nicht, weil noch andere Menschen zu berücksichtigen sind. Ich passe auf mich selbst auf – schlichtweg, weil ich der einzige Mensch bin, auf den ich keine Rücksicht nehmen muss. Das macht mich vor mir selbst real.

Fakt ist, ich werde älter. Es gibt eine Stimme in mir, die Ja zu diesem Älterwerden sagt und der ich wohlwollend Raum geben will. Dieser Wehmut. Liebevoll erspüre ich meine Konturen. Die Umrisse meiner Kraft, meiner sexuellen und intellektuellen Potenz. Die Frau, die ich geworden bin, ist erstaunlicherweise immer noch in einem Zustand multipler Optionen – doch ich nehme mir das Recht auf Ungeschminktsein und Erbarmen mit mir selbst. Solche Zustände sind Solotänze mit meinem eigenen Gehirn, mein intimer evolutionärer Prozess, in den niemand reinurteilen darf.

Ich spüre dieses Eigene in mir nur richtig, wenn ich alleine bin. So wie jetzt. Manchmal ist meine Oberfläche so zugewuchert von Fremdwahrnehmungen, Außenurteilen und profanem Wildwuchs, dass ich keine Chance habe, nach unten zu mir vorzudringen; ich müsste dann erstmal die Oberfläche von den Scheiß-Seerosenblättern freiharken. Das braucht Power und Lust und ein Selbstwertgefühl, das ich nicht immer aufbringen kann. Ich nehme mir das Recht heraus, gelegentlich ein ignorantes armes Würstchen zu sein, ohne dass mich jemand dabei beobachtet und mein Handeln oder Nichthandeln bewertet.
hugh.

 

 

Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening

 

Lotte Lyon, Ausstellung Hard opening
mag3, 1020 Wien. Eröffnung 09.07.2021

 

Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening
 
Wir Kultuwissenschafter und Textproduzenten beneiden die Bildhauer: Wir schaffen Wortketten und unendliche Satzschlangen auf dem platten Papier und füllen diese in die leicht stapelbaren Container der Buchkultur. Selten wird es uns mit unseren Hervorbringungen gelingen, in den begehbaren, in den haptischen und in den körperlichen Raum vorzudringen.
Bildhauer dahingegen wohnen und leben und arbeiten in Raum, ja, sie arbeiten ganz wesentlich mit der Dimension des Raums. Im Raumgreifenden verwirklichen sie sich: Gestatten, ich bin so frei: ich nehme mir den Raum.

Raum und Gestaltung

Im Thema des Raums und dessen Gestaltung (bzw. in dem Thema von “Gestaltung im Raum”) berühren einander die Disziplinen von Bildhauerei und Architektur. Gleich daneben wohnen die perspektivischen Traditionen der Zeichnung und die Kompositionsprinzipien der Malerei.
Für all diese Modalitäten der Behandlung, Darstellung, Gestaltung und Modellierung des Raums gilt allerdings eine fundamentale Regel: Raum wird erst durch seine Begrenzung und Rahmung wahrnehmbar. Schauen Sie sich um: Dieser Galerie- und Projektraum, wird durch seine Wände begrenzt und durch seine Öffnungen strukturiert: Türen und Fenster geben diesem Raum seine besondere Gestalt; anhand der Proportionen von Boden, Wänden und Decke erleben wir und erfahren wir den Raum und dessen Kubatur.
Wir selbst befinden uns als Körper in diesem Raum: Unsere eigene Körperlichkeit und das Verhältnis dieser körperlichen Dimension zur Dimension dieses Raumes bestimmen wesentlich, wie wir den uns umgebenden Raum wahrnehmen. Körper und Raum sind also wechselseitig aufeinander bezogen und sind von Begrenzungen (Rahmungen) bestimmt.

Vertikale Perspektive

Heute haben wir das Glück, neue skulpturale Arbeiten der Künstlerin Lotte Lyon in diesem Raum wahrnehmen zu dürfen. Wir sehen ein Arrangement von scheinbar einfachen Holzobjekten und wir sehen einen Paravent, einen Raumteiler aus Lochplatten.
Vorangegangene Arbeiten der Künstlerin waren als lineare oder als flächige Gestaltungen auf Wänden aufgebracht oder waren als kubische Objekte auf den Boden platziert. in dieser Ausstellung aber montiert Lotte Lyon ihre Objekte an der Wand und bespielt damit die Vertikale. Die Objekte selbst haben das massive Aggregat der Bodenhaftung abgestreift: Als durchbrochene, gerahmte Rechtecke bieten diese Objekte jetzt neue Perspektiven.
Auffallend ist die lakonische Nüchternheit der Objekte. Die formale und materielle Reduktion dieser modellhaften Gestaltungen lädt dazu ein, über einen graduellen Vermittlungsprozess zwischen den planlinearen Zeichnung einerseits, dieser reduktionistischen Form der Skulptur und andererseits den Kubatur-Realisationen der Architektur nachzudenken. Und darüber, was Skulptur ist, in welche kulturellen und ästhetischen Praxen das Skulpturale eingebunden ist und welche Erwartungen wir üblicherweise dem Medium der Skulptur entgegenbringen.
Chris Zintzen: Bodenlose Kisten – Raum als Objekt und Lücke | Zur Ausstellung Lotte Lyon: Hard Opening

Skulptur als Medium

Auf diskrete Weise lenkt Lotte Lyon unseren Blick auf das Medium der Skulptur, die wir uns orthodoxer Weise als Festkörper im Raum, als zentralachsiales Gebilde, als Kunstwerk mit Schwerkraft vorstellen. Hier aber sehen wir etwas anderes: Wir sehen luftige Gebilde mit Ein- und Durchblick, wir sehen vertikal angebrachte Schau-Kästen, die der Schwer-Kraft des Skulpturalen entraten. Zudem verwandeln diese Objekte aufgrund ihrer visuellen und konstruktiven Transparenz ein traditionell tonnenschweres Thema der Kunstwahrnehmung in ein anregendes Spiel und suggerieren:
It is not the meaning of a work of art that is its primary message. It is the form of the artwork that is its primary message. 
Die primäre Botschaft eines Kunstwerks besteht nicht in seiner (möglichen) Bedeutung, sondern in seiner Form.
Das Geschäft des Deutens und Be-Deutens wird sekundär, denn Form an sich bedeutet ja etwas: Sie bedeutet Form, die es zu betrachten, die es zu erkunden, die es womöglich auch zu berühren und zu ertasten gilt. Anders als es die Interpretationsmaschinerie suggeriert, schöpft die Kunst ihre Seinsberechtigung nicht daraus, etwas zu bedeuten, eine “meaning” zu haben, ein Narrativ zu erstellen. Kunst ist keine Dienstleistung für “Sinn” oder “tiefere Bedeutung”.
Kunst ist, was sie ist – wie eine Blume ist, was sie ist.

Lakonische Objekte

In dieser Ausstellung der Form als Objekt der Form inszeniert Lotte Lyon einen Dialog zwischen BetrachterIn und Objekt. Die Objekte sind keine Multiples, sondern individuell angefertigte Stücke mit je individuellen Maßen. In wechselnden Variationen spielen die Einzelobjekte mit dem Motiv der Rahmung, mit der Idee des Kastens, mit dem Sujet der Leerstelle (Mallarmés blanc) sowie mit Fügungen aus rechten Winkeln und Schrägen bzw. Diagonalen.
Listig konfrontiert uns Lotte Lyon mit Offenheiten und Geschlossenheiten: Was wir sehen, ist oft zunächst einmal sozusagen das Brett vor dem eigenen Kopf. Denn trivialerweise erinnern uns diese Objekte – zumal in Augenhöhe und in Reichweite angebracht – an bekannte Dinge aus unserem Alltag: Fenster, Schränke, Kästchen, usw. Und doch hat jedes einzelne Objekt eine kleine Verfremdung eingebaut, die uns darauf aufmerksam macht, dass uns diese offenbar so durchschaubaren Objekte paradoxerweise mit etwas konfrontieren, das wir noch nie gesehen haben.
Lotte Lyons lakonische Objekte lenken das Augenmerk darauf, in welch hohem Maße der Raum nur anhand seiner Umgrenzungen wahrnehmbar ist, wie sehr das Gestalten das Nicht-Gestalten miteinschließt und wie sehr nicht zuletzt das Sagen und das Zeigen auf dem Schweigen, auf der Lücke und auf der Leerstelle beruhen.
Lyons Arbeiten schärfen unseren Sinn für die Verschränkung des “Sehens, was ist” mit dem “Sehen, was nicht ist”.
Sehen wir also zu, Lotte Lyons Objekte anzusehen.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.

***** The Baedeker That You Can Take Anywhere

 

Any guide can get you
to where you know
that everyone wants to go —
but this one
can get you to want
where no one knows to go.

Whether you’re an unversed walker or a seasoned trekker, this book affords you all the surprises that you might need, whenever you decide to undertake your next hike. If you’re sick of planning your journeys beforehand, or if you’re just keen on forgoing your bearings afterwards, this book lets you find a way to lose yourself en route. If you follow these paths, reading them on any map of your choice, your preordained destination is sure to find you.
Come join the adventure.

– Christian Bök, Melbourne, Australia