10.30 – Großer Herzinfarkt

Oder: Eine koronare 3-Gefäßerkrankung, wie es in den Entlassungspapieren des Städtischen Klinikums geschrieben steht. Es begann vor drei Wochen, an einem Donnerstagmorgen. Wir saßen beim Frühstück, und sie blickte mich von der Seite an.

“Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge”, sagte sie.

Was sie manchmal so sagt, morgens. Kleine rätselhafte schöne Sachen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, den Schlaf aus dem Auge zu reiben, denn das war es ja, worum es ging, doch dann würde es ja nicht mehr glitzern. Das machte keinen Sinn. Das würde niemand wollen. Also liess ich es so, wie es war, eine Spezialität von mir, an die kaum jemand heranreicht, bis heute nicht, und beschäftigte mich wieder mit meinem Marmeladenbrötchen und der Wochenzeitung. Man reibt sich keinen Schmuck aus dem Auge, dachte ich, schon gar nicht, wenn es eine Träne ist.

Tears are a boy’s best friend.

Während sie nach dem Tee griff und schon beim nächsten Thema war, ihre Ausstellung in Remscheid sollte zwei Tage später beginnen, nahm ich das Notizbuch vom Frühstückstisch und hielt den Satz fest, Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge. Dahinter ihr Kürzel S., um in Fragen des Urheberrechts erst gar keine Unsicherheit aufkommen zu lassen, und das Datum, 10. Mai 2012, zu dem ich meinen ersten schnellen Senf beigab:

Na. Ich weiß auch nicht.

Anderthalb Stunden später, viertel vor elf, raste ein Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn durch die Nordstadt ins Klinikum, mit mir hinten drin. Herzinfarkt. Mitten in der Fußgängerzone. Bei schwüler Hitze, zwischen Sparkasse und Stadtkirche am Fronhof. O LAND LAND LAND, HÖRE DES HERRN WORT. Mit dem Hund an der Leine und einem wild trompetenden Elefanten auf dem Brustkorb. Das ist ein Herzinfarkt, ging es mir durch den Kopf. (Davon an anderer Stelle mehr.)

“Einmal Diazepam läuft durch!” hörte ich im Rettungswagen den Sanitäter und ich lag da und dachte, Scheiße, Dias, die machen nur wirr im Kopf, und verlor das Bewusstsein, schmierte ab, “HE! JUNGER MANN!” Kehrte zurück. Was ist mit dem Hund, sagte ich schwach. Haben Sie die Nummer meiner Frau notiert? Die richtige Nummer? Sie ist bei meiner.. Schwiegermutter. Keine Sorge. Darum wird sich gekümmert, sagte der Notarzt. Und wir kümmern uns um Sie, fügte eine andere Stimme hinzu.

Mit Diazepam fortlaufend ruhig gestellt wurde ich an der Krankenhausambulanz vorbei in die Kardiologie gerollt. Herzkatheterraum. Der Oberarzt schimpfte, weil ich nicht still liegen wollte, erst seine massive Zurechtweisung, HERRGOTT, WIR WOLLEN IHNEN DOCH NUR HELFEN, und die Drohung SONST MÜSSEN WIR SIE FIXIEREN zeigten Wirkung. Zwei Engstellen in den Herzkranzgefäßen (“voller Plaque”) wurden per Ballon aufgedehnt und anschliessend mit Stents versorgt, um die Gefäße offen zu halten. Stents. Sind kleine Gittergerüste, sagte der Oberarzt. Klettergerüste? Ich sah einen von Plaqueablagerungen verwüsteten Kinderspielplatz vor mir. Auf links gedreht, die Luft raus. Ab hier kein Transport. Minimalinvasiv.

Was noch Eindruck hinterliess: die Kühle auf dem OP-Tisch, die routinierte Geschwindigkeit, mit der das OP-Team mich entkleidete, und wie gekonnt eine OP-Schwester mit dem Einmalrasierer einen Teil meiner Schamhaare rasierte. “Wir müssen an Ihre Leiste ran.” Kalter Schweiß, weisser Pimmel. O Herr, soll ich jetzt hochkommen?!

Als ich am frühen Nachmittag auf die Intensiv gebracht wurde, war ich verblüfft von der Helligkeit und Freundlichkeit der Station. Die todkranke alte Frau neben mir wurde von Schläuchen beatmet, ich hörte Monitore bei der Arbeit, aber ich sah sie nicht, nicht mal ihre Füße, mein Blick wurde von einem weißen Vorhang verstellt.

Ich durfte mein rechtes Bein nicht bewegen. Der Kardiologe war durch die Leiste bis zum Herzen vorgedrungen. 24 Stunden still liegen, sonst kann es passieren, dass Sie innerlich verbluten.

“Da sind Sie dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen”, meinte eine Krankenschwester, was ich zunächst als Floskel abtat, mit der man neue Herzinfarktpatienten empfängt. Erst als der Oberarzt erschien, in Begleitung weiterer Ärzte und Ärztinnen, und mit ernstem, aber nicht hoffnungslosen Blick von einem schweren Herzinfarkt sprach, den ich nur deshalb überlebt hätte, weil ich so rasch auf seinem OP-Tisch gelandet war, (“Ein Zugang war schon komplett zu, der Herzmuskel wurde nicht mehr mit Blut versorgt”), erst da wurde mir bewusst, wie knapp das alles war. Mann, da hab ich die 80er überlebt, die 90er, sogar die dumm-dreisten 00er haben mich nicht umgebracht, und jetzt das.

Und hätte mich der Herrgott an diesem Vormittag nach dem Frühstück nicht in die Innenstadt gelotst, um Geld abzuheben, sondern, wie am Tag zuvor, mit dem Hund in die Wupperberge, abseits der Fußwege und wie immer ohne Handy, dann wäre meine Überlegung, wie man eine Herzinfarkt-Geschichte beginnt, obsolet gewesen.

Hoffnungslos veraltet.

Und was wäre mein vorletzter, je geschriebener Satz gewesen? Ein kleiner Satz von ihr im Notizbuch, Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge.

Und der letzte Satz:  Na. Ich weiss auch nicht.

Perfekt, eigentlich.

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