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Das direkte Streuen der Herzen war grundlos

Andere originelle Theile schwebten herbei; choreografiert
    (hohes Maß an Step 1, Step 2)
    aufgemalte Schritte, Gold=Step Silber=Step
    (Vaslav Nijinsky tanzt einen Faun, übergibt sich erst später hinter
der Bühne in das Costume der ihm schwanenden Kollegin, Pirouettchen
Pinimini. Während die Kotze zu einer Giraffe verläuft, züngelt ihr
Sopran heroisch
    – Ich nehme alles
    erhebt sich & hüpft gen Umkleide; setzt sich centimeter tiefer
auf einen Stein, seine Wanderschaft ebenfalls ein Geheimnis, wie sein
Schall, sein Alter; Bergfüße ragen oben seitwärts heraus, dieses
verblüffende Gaze, seine Formwandlungen. Noch habe ich nicht die Farben
erkannt, bleiche Tochter, grüngelb die Farben
    (oder das ausgebeinte Husarenstück)
    Kamm des Gestern, schön weit hoch von ungerühmter Abstinenz der
Klänge, außerhalb der verpothenen Zone steht die mobile Maniküre bereit;
Tromm frrrr elwirbel : Ovatter, könntest Dich mit dem
Rappen=Punzel messen : die Landsknecht=Trommeln sonoren langkammrig, die
Schnarre verunglimpft Stille, zunächst leise, dann immer lauter, jung,
schön, mit prächtigem Blondhaar. Es wird später gewesen seyn eine
vollkommene Hinrichtung mit eigenem Herd
    (Siedwasser sprudelt & sproint munter für den Thee nachher, der
hat ein wenig was von jedem & jeder darf mal munden mündeln müffeln)
    die Ilias liegt auf dem Tüsch, sanftes Schwertklirren entweicht dem
liebenswerthen Taschenbuch, fantastischer Morast, wenn man die Seiten
blättert)
    sie trat aus dem Haus, konnte frey sprechen im lodernden Gras,
Farbklatsch stand unter den Bänken mit dem Horn, kümmerte sich um den
Rest. Irgendwann hatte es immer einen Anlaß gegeben, war etwas
Unerklärliches geschehen, so daß die Sonne mit ihrer Kraft aufscheinen
konnte. Am Waldrand bewegte sich etwas, wo das Haus mit den 100 Köpfen
stand.
    Sie
    (die früher eine Serviette war)
    trug ihre Schuhe in
den Händen, eigentlich elegant an den Fingern, zu klein ihr Ring, zu
klein auch das Kettchen mit einem Bild von morgen, leuchtend im
Thorbogen, gemeißelt aus Ardennenstein. Allerdings gab es eine
Eigenschaft, die verschwiegen bleiben mußte, aufzusuchen mit geringer
Qualität.
    Er bekam Antwort vor Holzdächern & hölzernen
Pfannen von einem Mädchen mit langen blonden Zöpfen, mit dem Finger nach
rechts schlug sie einen Kreis. Ein heilloses Durcheinander durch eine
trübe Tasse erspechtet, verzerrt spuckend; die Eckkneipe : da trampelt
sie schon herein, schreit
    – Alle mal herhörn ! Wer !?
    aber
das wußte keiner, niemand wußte es, dem Hydranten zum Trotz, von
Feuerbowle genaschter Falt=Tropfen, Abfall abgefallen, außerhalb links :
Sonnenschein
    (derselbe von oben & weiter unten im Text)
    noch im Eckenerkerfenster.
    Sie nahm den alten Rasierpinsel ihres verstorbenen Mannes aus der Schublade, tauchte ihn in das Blutgefäß
    (ein schönes & werthvolles Erbstück ihrer geisteskranken Muhme)
    und pinselte sich den Teint – man mag es drehen und wenden – rot.
    – Wo ist der Daimonenjunge mit dem Kopf ?
   
es gab Essen in schaler Dunkelheit. Es gab Gebein unter dem
Schreibtisch, abgeschabt, staubumfangen. Viele dieser Aufzeichnungen
gingen im Feuer auf, die Buchstaben verendeten in der Luft, der
Geschmack war der nach Zitroneneis. Aus dem Geist des Pedals erhoben
sich unbekannte Formen, man kann nicht behaupten, daß es einen
Anhaltspunkt dafür gab, ein Gerücht, vielleicht auch mehrere, gesäht von
einem zweifelnden Mund, dem bald die Lippen sprangen, die Fetzen Blüten
ergaben.
    Als die Sache aufflog
    (ein Marsch in den Süden)
    sündige
Beine rasiert & voller Autobahn. Die Klinke war gebogen & aus
Metall, eine kühle Halle mit Rauhputz & Kahlheit : die Reden der
Königin in Ausschnitten, ein halbes Bureau, einfach nur Halluzination,
auf den Tischen traten kleine Lampen auf, Du kennst sicherlich die
Geschichte dieses kleinen Landes, die verurtheilten Todesmasken,
Freybier & auch kostenlosen Wein. Weiter vorn brannte kein Licht,
die Lichter des Dorfes; wo er hinschaute, nur Gesichter – und kein
Gesicht hatte der Zahn der Zeit zerstört. Das Haar schimmerte fast
golden, ein Stirnband hielt die Flut zusammen. Schattenhaft die Umrisse,
Dunkelheit nur ihr Schatten. Ich mußte vorsichtiger sein, der breite
Strom trennte beyde Gebirge, wir rollten ins Dorf, in den Fenstern
steckte natürlich kein Glas mehr, abgehauen auch : das Personal.
Weißgrüner Schimmel bedeckte die Wände, die alten Holzbänke, es gab noch
den Tresen. Hier unten roch es muffiger & feuchter, vor unseren
Fußspitzen lag ein quadratisches Loch.
    Die verdrehten Schritte näherten sich kostenlos, das Gewölbe stank
    (welch ein Wunder bey gutem Wurm, bey Regentropfen, die tiefer gingen)
    fernes Lächeln
    (die Edamer Katze)
    meist achtet der Wind nicht darauf, wo er hintritt
    (die verdrehten Schritte)
   
sein Spiel dem Zufall überlassen & nur durch das Medium großer
Künstler lernen wir die Wirklichkeit kennen, angestachelt von den
unterschiedlichen Luftschichten, aufzuklauben, was sich nicht an etwas
anderes krallt. Es waren die Gewichte, die ihn herausforderten, der
unheilvolle Geruch der Maronenbäume darf nicht durch das Fenster
drängen, der erstickende Rauch der Kamine
    (Du wirst Wasser sein, dann und wann Wasser sein)
   
hier ist das Schnitterfest vorbei, die Äpfel liegen rund & schön,
keine Schürze hängt an einem Haken, Jauche füttert die Bächlein, die
durch die Wiese gehen, ein stummes Firmament trägt die Atlaskugel, nicht
der Titan selbst
    (Missy. She was rescued by an animal charity. We had her far over 16 years, before a stroke took her away.)
   
Exploitation der Produktion ist dann zu purer Schönheit erstarrt, wer
nicht zaubern kann, billiger Stoff, verspätete Sätze im Mist
   
(auf den Balkonen drehten altehrwürdige Damen mit zitternden Händen an
den Operngläsern, die ihnen die Fruchtkolben der Jugend heranholten)
   
die Schwester erstickt beinahe brav an einem Samenschuß, den sie dann
aus ihrem falschen Hals mit Tränen schwemmt, die nie wieder so rein seyn
werden, so gemüsebrühig pikant, wie an diesem Tag der Asche, die aus
dem schlottrigen blankbusigen Schlot pfeift, Fruchtfleisch des Lichtes
also, Raumleib & Leib in Zeitgang
    (affentheuerlich & naupengeheuerlich)
   
wir kommen in keinem Buch vor, in das wir uns nicht selbert
hineinschreiben. Angeschissene Wände sieht der Wanderer auf sich zu
   
Blutkloaken, abgerissene Euter von Mensch & Maschine, Sickergruben
& Sand, Geklapper entzwei’ner Dachrinnen, Daimonenspocker &
Ratten Ratten Ratten, mit den Schwänzen anWäscheleinen geklammert
    (die verdrehten Schritte)
    – Hallo!
    (und ich auch : Hallo!)

Die göttliche List – ein Purim Schpiel (Entwurf 1)

Prolog

DER NARR: Seht her, die Bühne ist heut’ zaubertoll
von finst’ren und von listigen Gestalten.
Wir alle sind verwandelt, uns’re Gläser voll
nicht nur vom Wein, auch weisem Rat der Alten.

Ich bin’s, der Narr, der scheinbar nur ist närrisch,
der euch erzählt ein lehrreich’ Maskenspiel,
wie man sich wehrt dagegen, was sich herrisch
gegen uns gewandt und gegen Menschlichkeit als Ziel.

Nicht nur zur Zeit in Persien gab es nichts zu lachen,
auch heut’ noch gibt es welche, die zum Eigennutz
nach and’rer Wohl und Leben trachten,
verborgen hinter neuer Mauern Schutz.

Doch seht, wie man mit gottgegeb’ner List
und ohne jed’ verschlag’ne Tücke
am Ende doch derjen’ge ist,
der lachend schließt die Trauerlücke.

Denn wer zuletzt lacht, lacht am besten
und trinkt den Kelch zur Freude leer –
mit Feinden, die geworden sind zu Gästen,
wenn wir uns machen nicht das Leben schwer.

Die Verschwörung

AHASVEROS: [sichtlich trunken] Ich bin Ahasveros, ein guter König,
weil vielen alten Wein ich hab’ in neuen Schläuchen.
Ich schenk’ ihn gern euch allen ein und stöhn’ nicht.
Doch wenn er schwappt in meinen schwang’ren Bäuchen,

geschieht’s, dass man mir Trunk’nem flüstert ein,
dass solcher Wein doch fließe nicht genug,
wenn Fremde gössen sich davon in uns’rem Lande ein.
Die tränken einfach mit und solches sei Betrug.

HAMAN: [diplomatisch säuselnd] Wohl wahr, mein König, an eurem Busen saugen
Schlangen mit, ein schlimmes Volk von Bettlern.
Die wollen uns und uns’ren Wohlstand auszerlaugen
und machen ohn’hin überall nur schlechtes Wetter.

So bin ich dir ein treuer Diener, wenn ich empfehle:
Ich schaff’ sie dir vom Leib durch Mauern, die sind Mord.
Wir lassen keinen rein in deine Hofgefilde,
und wer doch kommt, den jagen wir gleich fort.

DER NARR: So sprach der Satte (einst wie heut’) sich selbst
und seinem König aus der schwarzen Seele.
Und lauschst du auf den Straßen: es gefällt
so manchem, dem der Hass so heimlich schwelte

in vom Wohlstand stolz geschwellter Brust.
Und jene riefen: Ja, wir haben nichts zu teilen,
schon gar nicht uns’re feiste Lust.
Woher die kamen, da sollen sie auch bleiben!

Und so geschah’s, Ahasver folgte falschem Rat.
Und so geschieht’s noch immer heute in Europa,
jener Festung, die dem Mitmensch gute Tat
verweigert und aussperrt all die „And’ren“ aus Utopia.

Die erste List

MARDOCHAI: [im Bettlergewand vor Ahasveros tretend]
Ein solcher bin ich, der hier vor euch tritt,
nicht euren Wein, doch euer Mitleid achtend.
Bevor ihr zum Gesetz erweitert jenen Schritt,
bedenkt, dass and’re als wir euch nach dem Leben trachten.

Es ist zum närrisch Werden, was geschieht!
Lasst euch darum nicht von den falschen Zungen narren.
Vielmehr erkennt, wie Narren, den’n die Narrheit flieht,
euch vor dem Irrtum woll’n bewahren.

AHASVEROS: Was willst du, weiser Mann, mir raten?
Dass ich auf dich hör’ statt Vertraute?
Zu trunken bin ich wohl, dass solchen Taten
nicht folgen sollte, was solch’ „Whistleblow“ verlautet.

Man kleide dich in meine Kleider, und setz’ dich auf mein Ross.
Für’s erste glaub’ ich dir, mein trauter Freund,
doch ist, was aus der Flasche in mich floss,
noch keine Träne, die dir nachgeweint.

Die zweite List

DER NARR: Tja, so sind die Herrscher, deren Hintern
breit sitzt und schweißig klebt auf Plüschgethrone.
Sie wissen, wie zu überwintern,
solang’ vom Sommerwein sie haben einen in der Krone.

Allein: Obwohl dem Haman solche Abfuhr ward erteilt,
der Schlimme lässt noch lang’ nicht locker.
Er volksentscheidet landesweit
und steigt als Demagoge auf den Hocker.

Das Wandervolk, es passe nicht auf Blut-und-Berge-Erde,
es sei die Plage, die es auszutilgen gilt.
Und ach, er findet in des Heimatvolkes Herde
so manches Schaf, das blökte breit auf seinem Schild.

ESTHER: Doch noch ist unser Tage Abend nicht.
Ich hab’ noch eine List, die wie einst Josef bei dem Pharao
uns kann des Herrschers Gunst verleih’n Gewicht.
Wartet ab, denn jetzt kommt meine Solo-Show! [tanzt]

AHASVEROS: [noch trunkener] Wer bist du, Schöne, die mich so betört?
Von woher stammt dein überhübscher Arsch?

ESTHER: Ich bin aus Juda, dem ich nicht abschwör’,
aus jenem Volk, das du verfolgst so harsch.

Doch sag’, wenn ich dich wie der Wein berausche,
der auch nicht auf den deinen Hängen wächst,
was ist dann wert dein Ohr, das Haman lauschte,
der dir allein den Speichel, doch nicht die Tränen leckt?

AHASVEROS: So sei’s, dass ihr hier lebet und befruchtet
unser karg’ Gebirge zu dem Paradiese,
wo nur des Gotts Natur die Täler schluchtet,
doch nie ein Mensch den Mensch vertriebe.

Epilog

DER NARR: Die Narren, nicht die Herren haben Oberwasser,
all die Träumer von der bess’ren Welt.
Sie träum’n nicht nur, sie sind Erb-Lasser,
dass ein jedes, wo es ist, sich wohlgefällt.

Das war der Auftrag uns’res Gottes, als er uns
die Liebe, nicht den Hass und Neid hat eingegeben.
Und dazu noch die seines Reimens Kunst,
der wir uns einverstanden haben hingegeben.

Und schaut, habt Gott ihr darin je gesehen?
Auch er hat sich zum Purim-Fest verkleidet,
sein Wirken, von dem Her zum Hin zu gehen,
satyrhaft und wie ein Flüchtling sich verschleiert.

So ist das Fest, das wir heut’ feiern,
ein Fest der Liebe und – der List,
die manchmal, uns von Lästen zu befreien,
muss Licht sein über finst’rer Zeiten lange Frist.

Links:
Infos zum jüdischen Purim-Fest
Das Buch Esther
„lern! denk! schieß!“

DIE MACHT UND DAS KIND (noch einmal: Königliche Körper)

Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert erhielt der Hofmaler Francisco Goya den Auftrag, die spanische Königsfamilie um Karl IV. zu malen. Goya hatte vorbereitend eine Reihe von Einzelporträts angefertigt, um sie schließlich zu einem großformatigen Gruppenbildnis zusammenzufügen. Unverkennbar orientiert er sich hierbei an Las Meninas von Velázquez, seinem berühmten Vorgänger als Hofmaler am spanischen Hof. Velázquez Beispiel folgend stellt er die Figuren in einem Raum des Palastes auf und sich selbst auf der linken Seite des Bildes vor seiner Staffelei dar.

Velázquez, wie Swetlana Alpers gezeigt hat, entwickelt in Las Meninas ein faszinierendes Spiel unterschiedlicher Ebenen der Repräsentation von Familie und Herrschaft, in dem die ausgeklügelten höfischen Machtstrukturen durch die Überschneidung der Blickachsen von Betrachtern und Dargestellten sichtbar werden. Velázquez kleine Infantin wird durch den elterlichen Blick aus dem Spiegel in den Blick der Betrachterin gerückt, dem sie unverwandt begegnet. Sie ist das königliche Kind, in dem und durch das die Einheit von Herrschaft und königlicher Familie sich herstellt, vor dessen selbstverständlicher Würde und Bedeutung die Hofdame kniet und die Betrachterin sich verneigt. Seitlich hinter ihr steht der Maler, der die Betrachterin in den Blick nimmt, als jene Instanz, vor der die Macht und die Familie inszeniert werden und durch deren Anerkennung zugleich die Ausnahmestellung der mächtigen Familie  konstituiert wird. Die Herrschaft der königlichen Familie wird in Stand gesetzt als selbstverständliches Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten. Die königlichen Körper sind Träger der Macht, ohne dadurch ihre „Besitzer“ im Stich zu lassen. Die Familie des Königs ist auch im Inneren des Palastes durch und durch königlich. Dass der Maler und die Betrachterin, die Hofdamen und das Königspaar sich der Mittel dieser Inszenierung bewusst werden, wird noch nicht zu deren Denunziation. Denn: Die königliche Familie hat kein „Privatleben“.

Velázquez: Las Meninas

Anders als sein Vorgänger versteckt sich Goya auf dem Gemälde beinahe hinter der dargestellten Königsfamilie, stellt sich hinter der prunkvollen Inszenierung im Wortsinn „in den Schatten“. Von hier aus nimmt er Blickkontakt zur Betrachterin vor dem Bild auf, eine heimliche Übereinkunft zwischen Betrachterin und Maler, von der die königliche Familie ausgeschlossen bleibt. Goyas Gemälde erscheint auf den ersten Blick simpler, schlichter konstruiert als Velázquez´ komplexe Komposition. Die Familie steht aufgereiht vor der Wand, Goya hat sie kaum in die Tiefe gestaffelt. Nur der König selbst und sein Thronfolger treten ein wenig hervor, bilden auch durch die spiegelbildliche Körperhaltung einen Rahmen für die Königin und ihrer jüngsten Kinder. Die beiden Männer, die die dynastische Erbfolge verkörpern, werden von hinten durch die weniger bedeutenden Familienmitglieder geradezu gestützt, aufrecht gehalten: der Kronprinz durch seinen jüngeren Bruder, der König durch seinen Schwiegersohn, den Fürsten von Parma.
Die Enge der Situation, die Goya herstellt, lässt die königliche Familie in diesem Bild „wie an die Wand“ gedrückt erscheinen. Trotz des Prunkes, den ihre Kleidung ausstrahlt, beherrscht die Familie die Bildsituation nicht, sondern muss sich ihr gleichsam „stellen“, wird gestellt durch den Maler und die Betrachterin, zwischen denen sie wie eingeklemmt erscheint. Während die beiden männlichen Stützen der Dynastie sich links und rechts behaupten, weil sie durch die Verwandtschaft noch den Rücken gestärkt bekommen, steht die Königin Maria Luisa prachtvoll geschmückt mit ihren beiden jüngsten Kindern im Zentrum isoliert. Goya liefert die spanischen Bourbonen dem Blick einer Betrachterin aus, die in ihren prächtigen Königskostümen das Schlichte, das Hässliche, das Hochmütige, das Schüchterne, kurz: das Private der Figuren entdecken kann und soll.
Schon zu Lebzeiten Goyas ist darüber gerätselt worden, warum die Königin dieses sie beinahe entstellende Porträt akzeptiert hat. Doch Goyas Darstellung ist nicht karikierend und verletzend; er stellt die königlichen Körper lediglich so dar, wie sie sind: Kostümierte Menschen, die eine Rolle spielen, die Rolle der königlichen Familie. Diese Familie, zeigt das Bild,  steht (noch) zusammen und zerfällt zu gleich in drei Gruppen: die Gruppe um den Thronfolger, die Gruppe um den König, die Königin mit ihren Jüngsten.Die Familiensituation ist konfliktreich und problematisch. Das Private und das Politische kreuzen sich in diesen Körpern, kommen aber nicht mehr zur Deckung. Keine der Figuren nimmt die andere in den Blick. Sie schauen ostentativ an einander vorbei, einige auf die Betrachterin, andere über sie hinweg oder an ihr vorbei. Goyas Bild, indem es die königliche Familie als Privatfamilie zeigt, mit ihren familiären Ähnlichkeiten, ihren Störungen und Entstellungen, kündigt das Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten auf und verwandelt es zu einem Einverständnis zwischen Maler und Betrachterin. Es ist das neue Wissen darum, dass die Träger der königlichen Körper „auch nur Menschen“ sind.
In den frühen Nuller-Jahren dieses Jahrtausends saß ich wegen einer Arbeit über Goyas Gruppenbild der Königsfamilie am Esstisch, den Katalog aufgeschlagen vor mir. Amazing, mein älterer Sohn, damals etwa 8 oder 9 Jahre alt, trat hinzu und betrachtete die Abbildung im großen Bildband. Nach einer Weile beobachtete ich, wie er sich eigentümlich hinstellte, seine Haltung immer wieder korrigierte, bis er zufrieden war. Ich fragte ihn: „Was machst du?“ Er deutete auf den schönen, kleinen Prinzen in Rot auf dem Gemälde. „Ich probiere aus, wie der Junge dasteht.“  „Und?“ Der Amazing sagte: „Er hat Angst. Er will nicht so dastehen.“ Ich war erstaunt. Aber der Amazing zeigte mir, wie der Oberkörper des Jungen leicht nach hinten kippte und wie fest er die Beine in den Boden stieß. „Und seine Mutter?“ „Hält ihn fest.“ Ich verstand, was der Amazing sagen wollte. Das Festhalten der Mutter, der Königin, war beides: Stütze und Fessel.
Auch Goya, sah ich, hatte wie vor ihm Velázquez ein königliches Kind ins Zentrum des Interesses der Betrachterin gestellt. Zwar steht auf Goyas Gemälde in der Bildmitte die Königin, doch der Blick wird auf den kleinen Jungen in hellen Rot zwischen seinen Eltern gelenkt, der die Verbindung und die Trennung zwischen beiden anzeigt, ausgeschnitten gleichsam aus dem Familienzusammenhang zeichnet sich sein schönes Gesicht vor dem dunklen Hintergrund der Wand ab. Überbetont hat Goya auch den starken Arm der Königin, mit dem sie das Kind an der Hand hält. Wie Velázquez kleine Infantin schaut der Junge den Betrachter direkt an. Aber es ist nicht mehr der selbstbewusste Blick eines königlichen Kindes, das sich seiner Ausnahmestellung von Anfang an bewusst ist, unterstützt durch die Unterwerfung erwachsener Hofdamen unter seine auf der Verwandtschaft zu König und Königin beruhende Autorität. Goyas Knabe wird von seiner Mutter gehalten, die auch Königin ist und ihre Macht inmitten ihrer Familie demonstrieren will. Doch die Macht der königlichen Mutter allein kann dem Kind die Ausnahmestellung nicht mehr sichern, denn an der Mutter selbst wird das Auseinanderfallen von Rolle und Person sichtbar.
Das königliche Kind, der Amazing hat es am Körper gespürt, will sich nicht präsentieren lassen und nicht repräsentieren. Es erfährt, unbewusst, die Gefährdung, die das Auseinanderbrechen von Privatheit und Öffentlichkeit für die Macht der königlichen Familie bedeutet, am eigenen Körper. Nach diesem historischen Umbruch wird der königliche Körper nicht mehr seinem Träger gehören und zugleich dessen Machtstellung repräsentieren, sondern öffentliches Eigentum werden, Paparazzi-Gut. Der Träger des königlichen Körpers wird durch das schauende Publikum von seinem Körper enteignet werden.
An Goyas Bild lässt sich jene bis heute wirkende Veränderung von Präsentation und Repräsentation der Körper der Mächtigen ablesen, die durch die Trennung von Privatem und Öffentlichem im bürgerlichen Zeitalter hervorgerufen wurde. Das Private ist nun zwingend unpolitisch. Die Mächtigen müssen daher auf der Hut sein, nicht zuviel von sich zu präsentieren und die Repräsentanten werden ohnmächtig, wie die bloß noch repräsentativen Monarchen unserer Tage. Mit dieser Veränderung verlässt das Kind die Bühne der Macht. Wo die Macht gemeint ist, kann das Kind nicht mehr erscheinen. Das Kind wird zum bloßen Repräsentanten der Privatheit der Mächtigen: Bilder mit Kindern und Enkeln unterstützen nun nicht mehr den Machtanspruch der Mächtigen und drücken ihn aus, sondern sollen zeigen, dass auch die Mächtigen „menschlich“ sind.
Von unserer Gegenwart her betrachtet ist an diesem Wandel auch noch etwa Anderes interessant: Die Macht hat, indem sie sich nicht mehr mit und durch das Kind repräsentieren ließ, auch aufgehört, sich auf die nächste Generation zu beziehen. Die Repräsentation enthüllt das Dilemma einer Macht-Perspektive, die sich in keiner Zukunft erkennen kann. Die Macht zeigt sich in unserer Zeit im Gruppenbild der gerade aktuell Mächtigen. Morgen schon können andere an dieser Stelle stehen, auf dem Gipfel der 20 oder 8, der EU oder des transatlantischen Bündnisses. DieTräger der Macht sind im Bild austauschbar geworden. Dass das Private nicht mehr politisch ist und sein darf, hat die Macht zugleich von der Verpflichtung auf die Zukunft und der Bindung an die Vergangenheit abgeschnitten. In den Bildern kann dieser Verlust sichtbar werden.
(Es gibt aus diesem Dilemma keinen anderen Ausweg als die Einsicht darein, dass Macht und Politik nicht dasselbe sind.)

Bitterstoffe

1

Großes Hallo Richtung Lohhausen-Flughafen.

“Luise, meine zwölftbeste Freundin! Wie siehts aus? Hast du dein Röckchen dabei..?”

“Zwei, Edith, zwei. Eins mit Rüschen, eins mit Schlitz. Extra für dich, Liebes!”

“Na Prösterchen! Dann kanns ja losgehn!”

Luise und Edith thronen auf ihren Gepäckstücken und begiessen die kommenden zehn Tage Mallorca im klimatisierten Beach Club mit hochprozentigen kleinen Schweinereien, während ich schon am nächsten Halt raus muss. In Fahrtrichtung links, wie die Stimme von Band freundlich befiehlt, vermutlich weil man in Fahrtrichtung rechts voll in den Inter-City nach Dortmund kracht.

Es ist September, es ist zu kühl für September und ich bin auf dem Weg zur Auftaktveranstaltung. Sechs Monate warten darauf, mich in Geiselhaft zu nehmen, sechs Monate Maßnahme des Job-Centers, sechs Monate und nicht einen Maßnahmetag weniger. Andererseits – alles besser als Mallorca all inclusive, oder nicht.

Die Maßnahme findet im stillgelegten Trakt einer alten Volksschule statt und dient der Stabilisierung der Beschäftigungssuche, wie es im Anschreiben heisst. Hätte man das Kind beim Namen genannt, es hätte Sechs Monate raus aus der Statistik heissen müssen, und die Referenten Reinigungskräfte. Statistiksäuberer.

Putzerfischchen, mit Urlaubsanspruch.

Allein die Formulierung Stabilisierung der Beschäftigungssuche ist mir ein Rätsel. Wie zum Henker lässt sich eine Suche stabilisieren? Forcieren lässt sich eine Beschäftigungssuche, sie lässt sich aufgeben oder anpassen oder sonstwie gestalten, doch stabilisieren?! Werden da stramme Bambusstäbe und Rankstützen ausgeteilt? Oder doch lieber direkt als Dragee zur innerlichen Anwendung, für die ganz Sensiblen?

Wenn ich im Leben eins gelernt habe: Eine Formulierung in einem offiziellen Schreiben ist nie umsonst, es steckt immer etwas dahinter. In diesem Fall der unausgesprochene Vorwurf, der Verdacht: Langzeitarbeitslose sind nicht stabil. Sie finden keine Arbeit, weil sie nicht hart genug daran arbeiten, Arbeit zu finden. Sie geben zu schnell auf, sie sind haltlos und labil, sie pennen bis in die Puppen, verschlampen Unterlagen und kleben in der Bewerbungsmappe das falsche Foto falschrum auf die falsche Seite,

HERRGOTT!!

NUN STABILISIEREN SIE SICH DOCH ENDLICH, SIE.. SEELCHEN!

2

Ich hab noch Zeit und entscheide mich, im Schnellcafe am Hauptbahnhof einen Hauptbahnhofs-Espresso zu nehmen. Ist ja immer ein Risiko. Wenn man Pech hat, erwischt man einen Espresso, der nach allem, aber nicht nach Kaffee schmeckt, nicht mal lauwarm nach Hauptbahnhof, trotz all der Vollautomaten. Der hier geht. Ist zwar nicht so schwarz, dass man gleich zum Gospelsänger wird, aber geht.

Ich blicke aus dem Fenster und entdecke Pauli auf dem Bahnhofsvorplatz. Seine knorrige Visage ist unübersehbar, auch wenn er selbst blind wie ein Maulwurf  ist und sich eher tastend durch die Welt bewegt. Meist hat er einen Schmöker aus dem Fantasybereich in Arbeit, er liest ununterbrochen. Er liest im Gehen, er liest im Bus, er liest, wo immer er sich gerade aufhält, die Schwarte so nah vor den Augen, als würde sie bräunen.

Ohne was zu lesen bin ich kein Mensch, hat er mal gesagt, doch an diesem Morgen ist er ohne Buch. Kein Mensch. Was ich sehe, ist Pauli ohne alles sozusagen. Er steht unbeteiligt auf dem Bahnhofsvorplatz und beobachtet den Himmel über den Taxis. Ich zögere einen Moment, geh dann hinaus, den heissen Pappbecher in der Hand.

“Lange nicht gesehen, Pauli.”

Für die Uhrzeit umweht ihn schon eine stolze Fahne, und ohne mich groß anzusehen legt er sofort Beschwerde ein. Er habe drei Monate im offenen Vollzug abgesessen, wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe, aber niemand in der Szene, er wiederholte: NIEMAND!, hätte seine Abwesenheit bemerkt.

“Ich bin schwer enttäuscht!”

Ich muss lachen und klopf ihm auf die Schulter.

“Das wird schon wieder, Pauli. Guck mal, ich hab dich sofort erkannt – das ist doch schon mal was.”

“Ach, du.. redest doch nur mit dem Mob, damit du was zu schreiben hast. Nee, mein Freund, du zählst nicht. Du bist out of order.”

Ich kenne Pauli aus längst verschollenen Haus der Jugend-Tagen. Schon damals war er als Suffkopp verschrien. Zwischenzeitlich dem Pulver verfallen und in den Knast gewandert, ist er nun reumütig zum Jägermeister zurückgekehrt, vielmehr zur Billigvariante Gold-Förster oder Försters Gold, aus meiner Perspektive lässt sich das schlecht zu entziffern. Was Pauli schon immer auszeichnete, das filigrane Klauen von Spirituosen, ob im gut sortierten Einzelhandel oder in Discountermärkten, hat er immer noch drauf. So was verlernt man nicht, meint er bescheiden und hakt sein Talent unter der Etüde Fingerübung ab.

“Wieso hast du kein Buch dabei?” frag ich.

“Keine Ahnung, was ich noch lesen soll. Die Buchhandlungen sind voll bis unter die Decke, aber ich find nichts, was ich nicht schon irgendwo gelesen hätte. Bei dir hab ich auch mal geblättert, bei nem Kumpel am Rechner. Wie heisst das, Blog? Fand ich jetzt auch nicht so berauschend. So ein Mix aus Bukowski und.. ja, keine Ahnung was. Sorry, Babe, aber so isses nun mal.”

Sprichts, und taucht unter in der Fußgängerzone. Ich blicke ihm hinterher und frage mich, wie das eigentlich kommt, dass unter meinen Bekannten so auffallend viele Arbeitslose, Kleinkriminelle und arbeitslose Kleinkriminelle sind, aber auch ganz herkömmliche Trinker und Junkies ohne Job und Perspektive. Ha ha! Sehr witzig!

Alles halb so ha ha.

3

Es nieselt, der Wind wird heftiger. Bis zum Schulungsgebäude sind es zu Fuß zehn Minuten – immer die Fußgängerzone runter und unten am Marktplatz rechts. Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dort eine Maßnahme mitmache. Dass einem Fallmanager was eingefallen ist .

“Ich glaub, wir müssen da noch mal was machen mit Ihnen.”

(Ich glaub, Sie müssen noch mal für ein paar Monate aus der Statistik raus.)

(Ich schätze, meine Vorgesetzte wird sonst unruhig.)

(Ich hoffe, ich schaffs noch bis zur Rente.)

Maßnahmen des Job-Centers sind die reine Zeit-und Geldverschwendung, und alle wissen Bescheid, alle spielen mit. Jedem Beteiligten ist klar, dass niemand schneller einen Job ergattert, nur weil er an einer Maßnahme teilnimmt. Maßnahmen dienen allein dazu, die Maschinerie der Trägervereine am laufen zu halten, die sich rund um die kommunalen Arbeitsämter und deren Budget für Langzeitarbeitslose aufgebläht hat.

Natürlich kommt es schon mal vor, dass Teilnahmer innerhalb weniger Tage die Fronten wechseln. Eben noch als arbeitslose Sozialarbeiter einer Maßnahme zugewiesen, werden sie vom Trägerverein vom Fleck weg als Referent engagiert und stehen als Ex-Arbeitslose vor Immer noch-Arbeitslosen und wissen nicht so recht, was sie eigentlich erzählen sollen. Warum sie plötzlich auf der anderen Seite stehen und aus dem Du ein Sie werden soll.  Ist aber auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es bei der Übermittlung der Kontodaten keine Zahlendreher gibt. Das wäre asozial.

Eine Maßnahme hat aber auch gute Seiten. Man ist von Leuten umgeben, die in ähnlichen Situationen stecken wie man selbst und von denen man noch was lernen kann. Denn mal ehrlich, was ist das Leben groß? Man wird allein geboren, man stirbt allein, und zwischendurch trifft man ein paar Leute, die einem was beibringen – wenn man Glück hat.

Ausserdem ist es ja nicht so, dass allen Erwerbslosen SOFORT der HIER, ICH! ICH! ICH!-Schaum vorm Mund steht, sobald irgendwo eine Stelle frei wird. Nicht jeder Erwerbslose, (das Wort benutzt mein Vater immer), will unbedingt und unter allen Umständen einen Job finden. Nachbar Timo zum Beispiel will gar nicht mehr arbeiten, er ist vom Macher zum Lasser geworden. Als er einen Termin im Job-Center hat und vom Fallmanager gefragt wird, wie er sich das denn vorstelle mit seiner beruflichen Zukunft, antwortet Timo ohne jeglichen Anflug von Ironie:

“Ich plane, demnächst mehr beim Lotto zu gewinnen.”

Und das ist nicht mal gelogen. Timo, ein hochintelligenter Bursche mit einem IQ von 130, hat lange Jahre als Personalberater in einer renommierten Headhunter-Kanzlei gearbeitet, doch das ist beinahe ein Jahrzehnt her. In der Zwischenzeit hat er von seinen Ersparnissen gelebt, so lange, bis sie restlos aufgebraucht waren, trotz eingeschränktem Konsum von so ziemlich allem, wie er sagt. Nach zehn Jahre Arbeitslosigkeit hat er sich nun endlich arbeitslos gemeldet und bezieht Hartz IV.

Timo, ein ruhiger Vertreter, der nicht viel Wert auf Gesellschaft legt, verbringt seine Abende damit, bei abgestellter Türklingel klassischer Musik und Opern zu lauschen, am liebsten Puccini, am liebsten über Kopfhörer. Und wenn nicht gerade Mitarbeiter des Job-Centers in der Nähe sind, gibt Timo freimütig zu, dass die Sache mit der Arbeit für ihn erledigt sei. Dass ihm, unlängst 50 geworden, das Leben zu schade sei, um davon jede Woche sechzig Stunden abzuknapsen.

Oder 38,5.

“Ich hab das hinter mir. Ich hab das lang genug gemacht. Ich brauch das alles nicht mehr. Ich will die restlichen zwanzig Jahre meines Lebens geniessen und nicht bloß ein Jahr Rente beziehen und dann tot umfallen.”

Er hat sich einen Hund zugelegt, einen quirligen Collie, mit dem er auf Frisbee-Wettbewerben bis hinauf nach Belgien brilliert und das Bergische Land durchwandert, oft in tagelangen Touren. Alles besser als die Tretmühle Arbeit, sagt Timo. Alles besser als Mallorca, sag ich.

Unter einem schlackegrauen Himmel springe ich in der Fußgängerzone von Vordach zu Vordach, von Markise zu Markise, bis ich halbwegs trocken das Schulungsgebäude erreiche.

Die Auftaktveranstaltung beginnt Punkt zehn. Schnell noch eine rauchen, unter diesem speziell für Raucher gezimmerten Unterstand mit Aschenbecher, wo schon ein Haufen Leute wartet, alle mit dem gleichen Passierschein in der Hand, der sie als Teilnehmer der Maßnahme ausweist.

“Hallo.”

Kaum jemand grüsst, als ich mich dazustelle. Nur ein langer Stoffel mit Stirnglatze nickt freundlich. Rottner, stellt er sich vor. Wir unterhalten uns ein bißchen, dann gehts los.

Träger der Maßnahme zur Stabilisierung der Beschäftigungssuche ist eine als gemeinnützig anerkannte Fortbildungsakademie mit Sitz in Frankfurt, die in ganz Deutschland Ableger gebildet hat und gut im Geschäft ist. Pro Teilnehmer kassiert ein Veranstalter einige Tausend Euro, je nach Dauer und Intensität der Maßnahme. Es gibt Maßnahmen, da muss man ein halbes Jahr lang Tag für Tag seine acht Stunden abreissen, es gibt Maßnahmen, da schaut man am Montag- und am Donnerstag-Vormittag kurz auf einen Maßnahme-Kaffee rein und hat ansonsten seine Ruhe.

Ruhe ist das Stichwort, Ruhe zum Schreiben. Um ein Minimum an Ruhe zu haben, sozusagen die existentielle Portion, gibt es eine amtliche Voraussetzung: Man muss aus der Zeit fallen. Man darf nicht dazugehören. Nirgends. Wenn die Leute dich angucken, muss ihnen auf Anhieb klar sein, intuitiv und unmissverständlich: Dieser Mann kriegt keine sms-Nachricht von mir. Den rufe ich nicht an. Der ist definitiv nicht eingeladen. Nirgends. Dann hat man seine Ruhe. Das Minimum.

Die Gräfin und ich pflegen eine besondere Form von Autismus: Wir versuchen so viel wie möglich von der Welt mitzukriegen, ohne von ihr behelligt zu werden. Kein leichtes Unterfangen.

“Am besten, wir schleichen uns in eine betreute Aussenwohngruppe ein, damit wir den Kopf frei haben für die wirklich wichtigen Dinge”, so die Gräfin leuchtend:  “Dann sind wir Königin!”

Das ganze hat allerdings einen faden Beigeschmack, und ich werde ihn nicht los. Es stellt sich nämlich die Frage, warum die Gesellschaft für einen verschnarchten Autor aufkommen soll, der kein Buch auf die Reihe kriegt. Warum ihn mit Hartz IV durchziehen, bis er wann auch immer ein Bein auf die Erde bekommt. Und was, wenn dieses Bein niemals bis zur Erde reicht? Wenn es sich auf Dauer als Phantombein entpuppt? Blutleer und zu nichts nütze?

Tja, Freunde, das war die Sorte Fragen, die mir nicht in den Kram passt. Und weiter.

4

Was mir sofort gegen den Strich geht, ist dieser große Aufkleber über der Tür, der uns Teilnehmer empfängt:

ARBEITSFABRIK.

Erst denk ich, die haben sich irgendwie vertan in der Aufregung, dass da schon wieder zwei Dutzend Kunden anrücken, die Ende des Monats für ihren Lohn  sorgen, doch dann seh ich mir den Banner genauer an und entdecke Spuren von Abnutzung – der Aufkleber ist nicht neu, der hängt schon länger. Das ist durchdacht, das Wort Arbeitsfabrik, und es klingt gespenstisch. Arbeitsfabrik hätte man auch hoch oben über einem Konzentrationslager montieren können, zur Begrüßung. Warum nicht gleich Arbeit adelt.

Nach einer Weile finde ich Arbeitsfabrik nur noch dümmlich und doppeltgemoppelt. Es soll wohl darauf hinweisen, dass in diesen Räumen hart gearbeitet wird, mit klar definierten Strukturen und Hierarchien, ohne das übliche Maßnahmegesäusel und Bewerbungsgewäsch, aber mit klipper und klarer Ansage:

hier herrscht Pünktlichkeit. Sauberkeit. Ordnung.

5

Zweiter Tag der Maßnahme. Heute sind Einzelgespräche anberaumt. Anwesend sind zwölf Langzeitarbeitslose. Nur zwölf, am ersten Tag waren es noch dreiundzwanzig, die sich in die Anwesenheitsliste eintrugen. Die Hälfte der Leute hat sich schon verabschiedet. Ich frage mich, wie die das hinkriegen. Haben die alle Husten und sich krankschreiben lassen? Oder ist ihnen plötzlich aufgegangen, dass sie ja doch einen Job besitzen und nur vergessen haben, da auch hinzugehen. Kann natürlich jedem mal passieren, so ein Malheur. Logisch.

Ist klar.

Einzelgespräche bedeuteten, dass stets ein Arbeitsloser ins Büro gerufen wird und die anderen elf Leute herumsitzen und nichts zu tun haben. Zwar gibt es nebenan einen großen Technik-Raum, ausgestattet mit funktionstüchtigen Rechnern und schnellem Internetanschluss, doch zumindest an diesem Tag bleiben alle den Monitoren fern und lernen einander kennen.

Mohammed, genannt Momo, rechts von mir, ein stabiler Bursche mit Backenbart, hat sich am Morgen das Kinn ausrasiert. Nun ist es so schwer gerötet, er sieht aus wie nach einer Brandrodung.

Momo stellt sich mit Handschlag vor. Sein Vater ist ein aus Marokko eingewanderter Metzger. Er hatte diesen Beruf auch für seinen Ältesten vorgesehen, und weil Momo ein braver Muslim ist, der Vater gehorcht, begann er eine Metzgerlehre, die er aber nach ein paar Monaten schmiss.

“Ich kann keinen Hammel mehr riechen, Baba! Die machen mich ganz bräsig, deine Hammel!”

Er überwarf sich mit der Familie und siedelte nach München über, jobbte bei BMW am Band, verdiente gutes Geld, war einsam, kehrte zurück und heuerte im typischsten aller Solinger Berufe an, dem Schlieper, dem Messerschleifer.

“Ich hab auch am Stein gearbeitet”, mischt sich ein spätes Mädchen ein, um die fünfzig, krumme Haltung, doch Momo lässt sich nicht beirren. Wir erfahren, dass er eine Weile vor hatte, professioneller Bodybuilder zu werden, “für die Frauen”, wie er betont.

Tatsächlich hat er Oberarme wie Straßenkreuzungen und ein strammes Kreuz. Beste Voraussetzungen für eine Karriere als Kraftpaket. Als ihm jedoch mehr und mehr klar wurde, dass er dafür sein ganzes bisheriges Leben über den Haufen werfen und stattdessen jede Menge Stereoide fressen müsste, entschied er sich schweren Herzens dagegen.

“Wegen den Frauen.”

Ich bin überrascht, was die Leute so alles für Jobs hatten, bevor sie arbeitslos wurden. Unter den Teilnehmern, die anwesend sind, befindet sich der 57jährige ex-Chefredakteur einer Zeitung, eine Ukrainerin, die Mathematik in Kiew studiert hat sowie ein junger Fitnesstrainer mit einem auffälligen Tattoo: Eine tintenblaue Schlange rekelt sich an seinem schlanken Hals empor. Eine Szene, die ich eher auf Porzellan vermutet hätte, auf Teegeschirr.

Der Fitnesstrainer, ein gutaussehender Bursche, ist irgendwie atemlos. Es fehlt ihm an Ruhe. Er hat zu gleichen Anteilen deutsche und serbische Vorfahren und ist exakt seit einem Jahr arbeitslos, obwohl er im Besitz hochwertiger Trainerscheine ist.

“Ich hab einfach kein Glück”, nölt er, und im weiten Rund nicken die Köpfe wie an Schnüren gezogen, sie nicken und nicken.

Ursprünglich komme er aus Baden-Württemberg, erzählt der Fitnesstrainer und beschwert sich, dass man in Solingen nur Kiffer kennenlerne.

“Achtzig Prozent aller jungen Solinger kiffen.”

Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, führt er fort, “aber ich kiffe nicht, ich bin ja Fitnesstrainer.” Wir fragen uns, was eigentlich die übrigen zwanzig Prozent Solinger mit ihrem Leben anstellen, die nicht kiffen. “Saufen, fixen, tralala”, sagt jemand, ich glaub, ich bin das.

Tarik, EDV-Fachmann, ist gut ausgebildet und noch keine dreissig Jahre alt. In jedem Kurs gibt es mindestens einen arbeitslosen EDV-Fachmann. Es gibt zu viele von ihnen. Sie stehen sich gegenseitig auf dem Fuß und nehmen sich die wenigen verbliebenen 400 Euro-Jobs weg.

Tarik kann sich maßlos darüber aufregen, dass das Job-Center für die Hin-und Rückfahrt zur Auftaktveranstaltung keinen Pfennig Fahrgeld erstattet, während es ab Tag 1 der regulären Maßnahme Fahrgeld gibt. Ausserdem, so Tarik, ein kleiner Nerd, hat er bei dem Betrag, den alle Teilnehmer für einen Monat Busfahren im voraus erhalten sollen, eine andere Summe errechnet: 35, 20 Euro statt 33, 00.

Er steht mächtig unter Strom und wiederholt die Zahlen, bis sie auch der letzte von uns parat hat und zornig aus der Wäsche guckt. Tarik ist kein unsympathischer Kerl, mit einem verschmitzten Lächeln und Gespür für Komik, doch beim Geld hört für ihn der Spaß auf.

Als wir das Fahrgeld am Nachmittag abholen sollen, ausgezahlt wird es einige Strassenzüge weiter bei einer Aussenstelle des Maßnahmeträgers, macht Tarik sich frühzeitig auf die Socken. Er fliegt beinahe durch die Fußgängerzone, will unbedingt der erste sein. Dass ihm womöglich 2 Euro 20 Cent weniger ausbezahlt werden als ihm zusteht, lässt ihm keine Ruhe. Er will unbedingt Beschwerde einlegen, ist sich aber nicht sicher, wo – ob beim Maßnahmeträger oder besser direkt beim Arbeitsamt.

“Wahrscheinlich schicken die mich sowieso von einem zum anderen und wieder zurück, bis ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht,” seufzt er. “Das ist ein ganz abgekartetes Spiel!”

Und wieder sieht man Köpfe nicken.

6

Die beiden Referenten haben wenig Zeit für die Teilnehmer. Sie sind vollauf damit ausgelastet, dicke Akten anzulegen, die ständig aktualisiert werden müssen. Meist stecken sie mit der Nase in irgendwelchen Ordnern und rufen uns einzeln ins Büro, wo wir Formblätter zu unterschreiben haben, deren Richtigkeit sie wiederum gegenzeichnen müssen.

Nur hin und wieder gelingt ihnen in den sechs Monaten so etwas wie ein Vermittlungserfolg: Momo bekommt eine Praktikumsstelle. Bei den angeblich so vielfältigen Beziehungen zur heimischen Industrie keine große Nummer.

7

Mir gefallen Menschen, die sich mit einer gewissen Nonchalance durchs Leben bewegen, und unauffällig. Typen, die man schnell mal verwechselt, weil sie auf den ersten Blick so gar nichts besonderes an sich haben, bis man sie näher kennenlernt und feststellt, he, der ist ja ganz locker, der Blödmann. Der macht einfach nur wenig Wind um sich.

Rottner, der lange Stoffel, ist ungefähr in meinem Alter. Er hat eine Stirnglatze und ständig diese Jesus-Sandalen an den Füßen, egal ob bei Sonnenschein oder Regen. Mit den Latschen und dem karierten Holzfäller-Thermohemd wäre er in den frühen 90ern noch anstandslos als Sozialkundelehrer durchgegangen, mit halber Stundenzahl, doch wir schreiben das Jahr 2011 und Rottner ist seit 11 Jahren arbeitslos.

Zuvor hat er zwei Jahrzehnte lang Wärmespeicher auf großen Frachtschiffen ausgetauscht, für eine international tätige Firma in Cuxhaven. Nun lebt er in Solingen. Warum lebst du in Solingen? frage ich. Warum nicht? nuschelt er, und wir belassen es dabei.

So genau wollte ich es  ohnehin nicht wissen.

Rottner hat einen Hund. Nun haben viele Arbeitslose einen Hund, sie haben ja auch die Zeit dafür, aber nicht alle haben einen Hund mit einer Geschichte wie sein Hund Bootsmann, ein Boxer-Rüde.

“Bootsmann? Och. Wie der Hund auf Saltkrokan?”

Rottner nickt. Viele Worte macht er nicht. Er hat einen leichten Sprachfehler: Die Zungenspitze klopft beim Sprechen gegen die Schneidezähne, so leicht, dass es nicht direkt als Lispeln durchgeht, eher als kleine Marotte, das ‘s’ zu Bett bringen zu wollen, auch am hellichten Tag, mitten im hellichten Satz.

“Der Hund von den Kleinen Strolchen hiess auch Bootsmann”, meint Rottner.

Blödsinn, entgegne ich. Der hiess anders, doch noch eine ganze Weile ist Rottner nicht davon abzubringen, dass nicht nur der Hund auf Saltkrokan, sondern auch der Hund der Kleinen Strolche Bootsmann hiess. Und natürlich sein Hund, der Boxer-Rüde, klar, der auch. Es geht also insgesamt um drei Hunde, die Bootsmann heissen oder heissen sollen.

“Der hatte so ein fettes schwarzes Klätschauge”, sagt Rottner, “der Bootsmann von den Kleinen Strolchen.”

“Ja, der hatte ein schwarzes Klätschauge, aber der hiess nicht Bootsmann, der.. der hiess anders.. Schibulsky oder so.”

“Schibulsky? Der hiess doch nicht Schiebulsky! Das war doch kein polnischer Pfannkuchen!”

“Ah Mann.. natürlich hiess die Töle bei den Kleinen Strolchen nicht Schibulsky, das weiss ich auch, das war SPASS! Aber erst recht nicht Bootsmann..!”

“Na schön”, gibt Rottner sich geschlagen, als er spürt, wie ernst es mir damit ist. “Aber auf Saltkrokan, der dicke Hund, der heisst Bootsmann.”

“JA!” schreie ich. “DER SCHON!”

Über einen Bekannten erhielt Rottner die Anfrage, ob er nicht Lust hätte, dem örtlichen Boxerhundeverein beim Renovieren zu helfen. Das alte Blockhaus auf dem Vereinsgelände hatte es nötig. Na schön – Rottner war arbeitslos und handwerklich nicht ungeschickt, er schlug ein.

Nach vierzehn Tagen harter Arbeit kam der Vorsitzende des Vereins auf ihn zu und fragte, ob er, Rottner, unbedingt eine Rechnung brauche oder ob man das vielleicht auch so regeln könne, unter der Hand.

“Nö”, sagte Rottner. “Ich will ihr Geld nicht, ich will einen Hund.”

So kam es, dass unmittelbar nach dem nächsten Wurf des hochprämierten Zucht-Weibchens Daxa von Bückeburg, “oder wie die Boxer-Tante da hiess”, Rottners Telefon klingelte: er könne jetzt ins Clubhaus kommen und sich einen Welpen aussuchen. Jetzt, auf der Stelle.

Rottner latschte hin und entschied sich für einen flinken kleinen Rüden, dann latschte er wieder heim. Und dann dauerte es noch einmal zwei Monate, bis ihm der kleine Hund vorbeigebracht wurde, als Bezahlung für Renovierungsarbeiten am Clubhaus.

“Sagen Sie, haben Sie Erfahrung mit Hunden, Herr Rottner?”

“Hunde? Wer? Ich? Nö. Nicht direkt. Aber ich weiss schon, wie er heissen soll. Ich hab schon einen Namen.”

“Ja sicher. Das ist Carlo von Bückeburg, der II.”

“Hm? Nee, der heisst Bootsmann.”

Der kleine Hund ging in die Hundeschule und absolvierte die Welpengruppe, zuletzt die Rockergruppe. Allerdings ohne Rottner. Der hatte keine Lust mitzukommen, das übernahm die Frau des Vereinsvorsitzenden, zweimal die Woche, drei Monate lang, und auch nicht ganz freiwillig.

“Machen Sie mal”, hatte Rottner zu ihr gemeint, “Sie machen das schon. Hauptsache, Sie versauen mir den Hektor nicht.”

“Welchen Hektor?”

“Na den Bootsmann.”

Später gewann Bootsmann Preise auf Ausstellungen, er war von bemerkenswert schönem Wuchs, was Rottner auch nicht groß berührte, Schönheitswettbewerbe waren nichts für ihn, alles zu affig da unter all dem Gepudel.

Mittlerweile ist Bootsmann im besten Hundealter und Rottner und er sind gute Freunde geworden. Wenn Rottner, wie während der Maßnahme des Job-Centers, den halben Tag aus dem Haus ist, übergibt er Bootsmann in die Hände seiner Nachbarin.

“Die geht mit dem Joggen in der Heide. In Ordnung hab ich zu ihr gesagt, machen Sie mal, gehen Sie ruhig Joggen mit dem Kerl, Hauptsache, er kommt hinterher nicht zu mir an und beschwert sich, he, Langer, die Tante ist mit mir jeden Tag drei Stunden durchs Unterholz gehoppelt.”

8

Es dauert eine Woche und ich gerate mit einem 57jährigen Ex-Chefredakteur aneinander, der zudem eine halbe Karriere als Radiomoderator hinter sich hat sowie eine dreiviertel Karriere als Rockmusiker. Die Betonung liegt bei allen drei Karrieren auf hinter sich, was allerdings mit 57 nicht ungewöhnlich ist.

Früh am Morgen reisst er gleich das Maul auf, wenn auch mit einer angenehm klingenden, sehr sonoren Alexis Korner-Blues-Stimme, was den Stuss, den er absondert, halbwegs abfängt und mildert.

Er sei immerhin Chefredakteuer gewesen, mault er zum wiederholten Male vor versammelter Mannschaft, man habe ihn zu dieser Maßnahme “zwangsrekrutiert”. Als wären auch nur einer von uns freiwillig hier. Von welcher Zeitung er kommt, lässt er unerwähnt, trotz Nachfrage. Erst auf mein Drängen hin, ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe, rückt er mit dem Namen der Zeitung heraus,  “Die Brücke”.

Die Brücke ist ein Obdachlosenmagazin und wird in den bergischen Großstädten verkauft. Das ist an sich kein Grund, die Nase zu rümpfen, aber wenn jemand sich als ex-Chefredakteur aufspielt.. Na schön. Wir erfahren weiter, dass er in der Redaktion als 1-Euro-Kraft angefangen hatte, sich hocharbeitete und als die Zeit vorüber war, beschäftigte man ihn weiter, bezahlt aus Töpfen des Arbeitsamts.

“Die hatten mir versprochen, ich dürfte dableiben bis zur Rente. Und dann war plötzlich doch kein Geld mehr da”, jammert er sonor. (Der könnte ins Radio gehen, denke ich, da wusste ich das noch nicht mit seiner halben Radiokarriere.)

Es ist neun Uhr, als wir um den Tisch herum sitzen. Zuvor hat eine Krankenschwester einen 45minütigen Vortrag über Gesundheit und richtige Ernährung gehalten, so als wären Langzeitarbeislose zu doof zum Fressen. Die Krankenschwester ist allerdings okay soweit. Sie arbeitet im Klinikum im Nachtdienst und verdient sich tagsüber mit Vorträgen etwas hinzu. Sie ist der Typ vorsichtige Radfahrerin Mitte vierzig, der im Verkehr nervt, aber sie erinnert mich an meine Schwester. Da kann sie eigentlich sagen, was sie will, sie hat bei mir ein Stein im Brett.

Am Ende des Vortrags erzählt sie irgendetwas über Kalorienzufuhr, als der ex-Chefredakteur, der zufälligerweise neben mir sitzt, plötzlich ausholt, um seine Sicht der Welt darzulegen. Es beginnt mit unserer von riesigen Konzernen versauten Industrienahrung (wir werden mit Abfall zugestopft) und endet bei Quantenphysik. Für sich genommen macht das alles Sinn, doch er wirft alles in einen Topf und rührt darin herum, bis irgendein unausgegorener Mist herauskommt.

Besonders auf den Geist geht mir, dass seiner Meinung nach alles, was aus Indien und China kommt, gaanz toll ist, und alles was aus dem Westen kommt, gaanz böse. Da platzt mir der Kragen.

“Du redest nur Scheisse”, fahre ich von der Seite an. “Von vorne bis hinten nur Müll.”

Zuletzt hatte er behauptet, eine positive buddhistische Grundstimmung könnte bei Rauchern sogar Lungenkrebs verhindern.

“Mein Gott, natürlich erleichtert positiv denken das Leben, aber es macht den Krebs nicht weg! Das ist doch voll Kokolores.”

Ich werde aggressiv und rücke ihn mit seinem Gefasel in Sektennähe.

“Den Quark, den du zusammenquasselst und wie du das tust, erinnert an Scientology.”

Das Wort “Scientology” habe ich hinter meinem Rücken aufgeschnappt, wo es Rottner gerade ausgesprochen hatte, der Wärmepumpenaustauscher und Besitzer von Bootsmann, der den Scheiss auch nicht mehr mitanhören kann. Seltsamerweise reagiert der ex-Chefredakteur weniger auf meine Kritik als auf die Heftigkeit meiner Worte, die mich selbst überrascht hat.

“Ich wollte hier niemanden auf die Füße treten und Aggressionen auslösen”, sagt er.

9

Momo, der verhinderte Bodybuilder, berichtet von der wilden Zeit, als er davon träumte, Profi zu werden und die Kraftsportbühnen der Welt zu besteigen, mit eingeölten Muskelsträngen. Damals plante er den Tagesablauf strikt nach der Ernährungsvorgabe. Dazu gehörte auch, den Wecker auf drei in der Nacht zu stellen, um eine Portion Nudeln zu kochen und zu sich zu nehmen. Damit sollte der Körper mit den Kalorien aufgefüllt werden, die er im Schlaf gerade verbrannt hatte.

“Um den Energieabfall zu minimieren. Das war zu der Zeit, als ich gnadenlos auf Masse gemacht hab.”

Um auf Masse zu machen gabe er Monat für Monat Hunderte von Euro für Pülverchen und Vitamin-Shakes aus.

“Das war schon geil, das Massemachen. Mit Anabolika baut man viel schneller Muskelmasse auf als nur mit Training. Da glaubst du jeden Morgen, du könntest die Welt aus den Angeln heben. Doch sobald du die Anabolika absetzt, fällt alles zusammen und du bist nur noch Gewürm.”

Als Momo endete, war Stille. Ich fühlte mich fatal an Heroin erinnert. Nur dass Heroin keine Muskeln aufbaute, sondern Illusionen. Aber der Zusammenbruch war der gleiche.

Links neben mir sitzt eine hübsche Ukrainerin, die Mathematik und Statistik in Kiew studiert hat und in ihrem blauen 80er Jahre-Kostümchen an eine alternde Stewardess erinnert. Nach dem Ernährungs-Vortrag der Krankenschwester meldet sie sich und will wissen, wie man am effizientesten Bitterstoffe zu sich nehmen könne, doch die Krankenschwester kann nicht viel weiterhelfen.

Gewisse Gemüsesorten wie Fenchel enthalten Bitterstoffe, sagt sie. Doch würden Bitterstoffe zunehmend aus unserer Nahrung herausgeschwemmt, damit es fluffiger schmecke.

Pernod, sage ich, ist auch bitter, und links von mir die Frau kichert. Es ist die Frau mit schiefer Haltung, die behauptete, auch schon am Stein gearbeitet zu haben. Eine nette Frau. Dreimal verheiratet, drei Kinder von drei Männern. Stammt ursprünglich aus Freiburg und hat hoch im Norden in der Verwaltung eines Rüstungsbetriebs gearbeitet.

“Ich hatte die Panzerketten unter mir.”

In Solingen ist sie der Liebe wegen gelandet. Hat hier das dritte Mal geheiratet und 10 Jahre lang (wieso eigentlich immer genau 10 Jahre?) in einem Familienbetrieb Messer geschliffen. Seither ist ihr Rücken lädiert, vom langen Sitzen am Schleifstein.

Tatsächlich bildeten Haltungsschäden über Jahrhunderte so etwas wie das Krankheitsbild Nr. 1 unter der Solinger Arbeiterschaft, und noch heute sind orthopädische Deformationen dieser Art im Stadtbild präsent: Buckel, Höcker, Schulterkröpfe.

10

Ausser einem EDV-Spezialisten befindet sich in jeder Maßnahme auch ein Zombie. Ein graues Etwas, das auf seinem verhuschten Pfad durchs Dasein gerade Station in der Langzeitarbeitslosigkeit macht. Wobei an dieser Stelle einschränkend gesagt werden muss: Langzeitarbeitslosigkeit beginnt definitionsgemäß bereits nach einem Jahr ohne steuerpflichtige Beschäftigung. Meines Erachtens ist man nach einem Jahr aber noch lange nicht langzeitsarbeitslos. Dazu fehlt dann doch noch ein bisschen was.

In unserer Stabilisierungs-Maßnahme heisst der Zombie Eileen. Eileen ist um die vierzig und hat es an den Nerven. Das Haar gebrochen und voller Spliss, der Blick getrübt, der Mund eine Kneifzange, dazu nachlässige Kleidung – insgesamt ist Eileen eine einzige Altlast.

Einmal stapfen wir nebeneinander durchs Treppenhaus. Sie ist furchtbar unsicher und wägt ihre Worte ab, sie will bloß nichts dummes, nichts falsches sagen. Da tut sie mir ein bisschen leid, und fortan mag ich sie.

Sie zählt zur Abteilung Ich möchte keinem auf den Wecker gehen, aber ich bin so unglücklich, merkt das denn niemand? Nicht selten weiss ich bei diesen Menchen nicht, wie ich ihnen meine Sympathie deutlich machen kann, ohne sie gleich in die Arme zu schliessen. Ein aufmunterndes kleines Lächeln hier, ein aufmunterndes kleines Lächeln da, das kann jedenfalls auf Dauer dümmlich wirken und eher das Gegenteil bewirken.

Also belasse ich es oft bei meiner heimlichen Sympathie und gehe davon aus, dass diese Mitmenschen meine Gefühle schon irgendwie mitkriegen, oder zur Not eben erraten. Eine trügerische Annahme, die mich im Leben schon oft in die Bredouille gebracht hat.

In einem Fall wie Eileen geht es nur darum, dass jemand spürt, dass ich auf seiner Seite bin, doch in anderen Fällen wurde ich schon komplett missverstanden, nur weil ich den Mund nicht aufmachte. Weil ich davon ausgegangen war, dass Menschen meine Gedanken und Blicke schon richtig einschätzen.

So war ich automatisch davon ausgegangen, dass meine beiden Geschwister es mir nicht verübelten, dass ich kaum noch Einladungen annahm, ob zum gemeinsamen Essen, zum Spieleabend oder zum traditionellen Osterfeuer. Aus dem einfachen Grund, dass ich keinen Alkohol mehr trank und mir jede Gesellschaft nach spätestens einer Stunde lästig wurde und ich nur noch heim wollte. Das müssen die doch wissen, dachte ich. Die kennen mich doch. Pustekuchen.

Was ich dabei nämlich unterschlug: Andere Leute, selbst Geschwister, die mit dir aufgewachsen sind, haben den Kopf und das Herz voll anderer Dinge, die ich nicht mitkriege. Das macht es so nötig, dass man sich hinstellt und sagt, was man will und was man nicht will, was man mag und wasn man nicht mag, was man schlachtet oder besser heile lässt, was man küsst oder fortstößt, was man sich einverleibt oder was man auskotzt.

Wer sagt, was er will, kriegt, was er braucht, meint die Gräfin, als ich abends nach Hause komme und von meinem Tag erzähle. Zum Abendessen gibt es überbackenes Fenchelgemüse.

Bitterstoffe, sag ich.

Und ich weiß nicht

Im Schatten unterm Khakibaum sitzt sie auf einem niedrigen Holzbett im Hof. Ihre Töchter haben Kissen hinausgetragen und ihr den rostroten Teppich auf die Bretter gelegt. Sie trägt die große, eckige Hornbrille ihres Mannes, der vor Jahrzehnten gestorben ist. Ihre Haare sind eisengrau und hinterm Kopf in zwei spillerige Zöpfe gebunden, ihr schwarzer Rock ist wenig über knielang, ihre Beine stecken in dicken, grauen Nylonstrümpfen. Langsam saugt sie an der Wasserpfeife, spricht selten, lächelt viel, trinkt starken Tee aus dünnen, goldgeränderten Gläsern. Wenn sie später aufsteht und ins Haus geht, tut sie es wie ein Seemann: schmal und winzig wankt sie auf rundesten O-Beinen bedächtig von rechts nach links. Sie hat, so viel steht fest, keinen Namen, denn alle rufen sie immer nur Mamanjoun, >Mütterchen, und man hat mir nicht gesagt, wo sie begraben liegt.

Mongo

Mongo.

Das ist vielleicht mongo, sagt er und bleckt die Zähne. Mongo, nach einem chilenischen Comic aus den fünfziger Jahren, fügt er hinzu, von ihm aufgegriffen auf Anregung durch einen chilenischen Flüchtling, der den Alexanderplatz so nannte, weil er ihn an die Darstellung zukünftiger Städte erinnert hat. Mongo, das ist die Haltung, die eine solche Stadt hervorbringt, ein Wohnkästchen neben und über dem anderen, eine Menschenschachtel neben und über der anderen.

Götz greift nach einer Mappe im Regal links neben ihm und holt eine Zeichnung heraus, die die Dehnbarkeit dieses Begriffs demonstrieren soll. Ein grünschwarzes Menschenmonster – auch das ist mongo. Mongolisch, mongoloid. Wer ist hier nicht mongo, wir alle sind mongo, auch ich bins, wenn ich so etwas anfertige.

Er zeigt eine von ihm entworfene Postkarte: Rotes Herz hinter grauem Gitter; darüber der Text: Ein herzhaftes 1983. Mongo bin ich aber auch, weil ich zu feig war, es zu verschicken, damit ich keinen Ärger bekomme. Er blickt zu Beate: Und du bist mongo, weil deine Familie mongo ist.

Ärger.

Götz dämpft seine Zigarette im leeren Schnapsglas vor ihm kraftvoll aus. Bevor sie bei der Frau König eingezogen sind, sagt er, ist er mehrmals hier herumgegangen, um die Leute zu fragen, wie denn das Wohnen in der Gegend sei. Dabei ist er an ein älteres Ehepaar geraten, das sofort aggressiv reagiert hat. Die Frau habe die Handtasche gegen ihn erhoben, der Mann habe sich nicht ausreden lassen, er sei ein ZDF-Reporter und wolle die Leute zu Aussagen über die hiesige Umweltverschmutzung erpressen. Wenn das nicht mongo ist!

Traum.

Er habe – im Traum – einen Antrag für eine Reise nach West-Berlin gestellt. Ein S-Bahn-Fahrer habe ihn aber, bevor irgendeine Antwort eintraf, mehrmals nach drüben mitgenommen, sozusagen auf Probe.

Einmal bin ich in einem riesigen Kaufhaus gelandet, sagt Götz, im KADEWE, und staunend und völlig euphorisch an den vollgefüllten Regalen vorbeigezogen, von einem Stockwerk zum anderen, und immer noch dieses Überangebot, diese Unmenge verschiedenster Waren, bis in den letzten Winkel. Schließlich habe ich in der Käseabteilung haltgemacht und mich nicht satt sehen können an den mehr als hundert Sorten aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark.

Bei einer Selbstbedienungskassa in der obersten Etage habe ich eine Portion BULEX verlangt, in der Meinung, das sei etwas völlig Exotisches, das sei ein von mir irgendwann erfundener Markenname für eine himmlische Speise, die ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich setzen müssen – auf meine eigenen Unterarme, denn Sitzgelegenheiten hat es keine gegeben -, und die Verkäuferin hat mir mit der größten Selbstverständlichkeit eine riesige Portion BULEX über die Theke gereicht, wobei ich mich nachher nicht mehr erinnern konnte, woraus das Gericht eigentlich bestanden und wonach es geschmeckt hat.

Mongo.

Klar vor Augen sei ihm aber noch die Szene, wie er sich einen 5 kg-Sack Knoblauch gegen den Widerstand des Mädchens erstanden habe: Selbst im Traum sei er von dem Gedanken verfolgt gewesen, hier gebe es Knoblauch nur alle zwei Jahre und dann nur in winzigen Mengen.

Mongo.

Dann habe er sich allerdings verirrt, sei rauf und runter gefahren, doch die Treppe habe kein Ende gehabt, und vor ihm mit seinem Knoblauchsack seien alle Leute geflüchtet, er habe sich ständig über die Augen wischen müssen, was das Falscheste war, was er tun konnte.

Jetzt ist kein menschlicher Laut mehr zu vernehmen gewesen, flüstert Götz, nur das Geräusch der rasch rollenden Treppen, wobei diejenige, auf der ich gestanden bin, sich immer schneller, mit immer schnellerem Knacken hinunterbewegt, ein immer stärkeres Rauschen erzeugt hat, bis dann plötzlich Stille eingetreten ist und mich das Gefühl erfaßt hat, ich würde schweben, hinunterschweben, den Knoblauchsack an die Brust gepreßt, immer mehr aus allen Poren schwitzend – lautlos bin ich dem Erdmittelpunkt entgegengesunken.

Mongo.

Götz zündet sich eine weitere Zigarette an. Und Stefan starrt auf seine rote Lena, die ihm noch weiter unter den Tisch gerutscht erscheint, während er ein Gläschen Schnaps nach dem andern in sich versiegen spürt, gerade die richtige Wärme erzeugend, um das Auftauchen der Phosphoreszierenden Frau – falls sie ihr Versprechen auch einhält – ertragen zu können.

Verirren.

Wer von der Richtigkeit seines Wegs überzeugt ist, behauptet Götz, genießerisch an seiner Zigarette saugend, der kommt auch nicht um, der kehrt heim. Er habe sich einmal mit Freunden in der Hohen Tatra verirrt, die Gruppe jedoch retten können, weil er an einer Wegkreuzung hundertprozentig sicher gewesen ist, der richtige Abstieg sei links, nicht rechts. Mit denen, die sich ihm angeschlossen hätten, habe er die lebensrettende Hütte gefunden und dann auch noch die restlichen Kameraden herunterholen können.

Weg und Ziel.

Die Abweichung vom Weg, sagt Götz, das Aus-den-Augen-Verlieren-des-Ziels. Die Angst vor den Mühseligkeiten des Wegs, die Zweifel an der Richtigkeit des Wegs. Die Zweifel an der Richtigkeit des Ziels. Das Wagnis, das als Wagnis bestehen bleibt, auch ohne Weg und Ziel.

Weg könne auch heißen Lebensweg, und da müsse er sofort an seinen Freund Rolf denken, der viel weniger Glück gehabt habe als er: Als begleitender Kameramann eines Bergsteigerteams im Kaukasus hat er mit diesen die Orientierung verloren. Man hat unter einem Felsüberhang Unterschlupf gefunden und sich unter einer Plache zusammengekauert, wobei Rolf am äußersten Rand seinen Platz gehabt haben muß, weil ihm, ohne daß er es merkte, der linke Fuß abgefroren ist.

Dabei ist es aber nicht geblieben: Der zweite Fuß ist dem Rolf beim Verladen eines Findlings in der Nossentiner Heide zermanscht worden; so, mit dem Mus im Schuh, ist er bis zur nächsten Ortschaft gewankt, wo dann das Schicksal in Form einer Krankenschwester zugeschlagen hat. Sie hat ihm durch ihre inbrünstige Pflege alle Lust auf Abenteuer jeglicher Art gehörig ausgetrieben, ihn umgepolt in Richtung Ehe, Seßhaftigkeit, Kleben an einem Fleck, Zuspecken, gegenseitigem Bekochen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

„art moves“ 5th international festival of art on billboards (fotos)

„so sorry billboard“ © anatol knotek

 

„so sorry billboard“ (aufbau 1) © anatol knotek

 

„so sorry billboard“ (aufbau 2) © anatol knotek

 

 

von links nach rechts: egor kraftanatol knotek

 
heute erhielt ich einige fotos vom „art moves“ festival, bei welchem ich zur zeit mit einer arbeit teilnehme. mehr fotos und informationen über das festival gibt es hier: http://artmovesfestival.org/ und auf dieser facebook seite: http://www.facebook.com/pages/Art-Moves-Festival/222833667733103
 
ein kurzer tv-bericht (auf polnisch) kann hier betrachtet werden: 

10.30 – Großer Herzinfarkt

Oder: Eine koronare 3-Gefäßerkrankung, wie es in den Entlassungspapieren des Städtischen Klinikums geschrieben steht. Es begann vor drei Wochen, an einem Donnerstagmorgen. Wir saßen beim Frühstück, und sie blickte mich von der Seite an.

“Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge”, sagte sie.

Was sie manchmal so sagt, morgens. Kleine rätselhafte schöne Sachen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, den Schlaf aus dem Auge zu reiben, denn das war es ja, worum es ging, doch dann würde es ja nicht mehr glitzern. Das machte keinen Sinn. Das würde niemand wollen. Also liess ich es so, wie es war, eine Spezialität von mir, an die kaum jemand heranreicht, bis heute nicht, und beschäftigte mich wieder mit meinem Marmeladenbrötchen und der Wochenzeitung. Man reibt sich keinen Schmuck aus dem Auge, dachte ich, schon gar nicht, wenn es eine Träne ist.

Tears are a boy’s best friend.

Während sie nach dem Tee griff und schon beim nächsten Thema war, ihre Ausstellung in Remscheid sollte zwei Tage später beginnen, nahm ich das Notizbuch vom Frühstückstisch und hielt den Satz fest, Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge. Dahinter ihr Kürzel S., um in Fragen des Urheberrechts erst gar keine Unsicherheit aufkommen zu lassen, und das Datum, 10. Mai 2012, zu dem ich meinen ersten schnellen Senf beigab:

Na. Ich weiß auch nicht.

Anderthalb Stunden später, viertel vor elf, raste ein Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn durch die Nordstadt ins Klinikum, mit mir hinten drin. Herzinfarkt. Mitten in der Fußgängerzone. Bei schwüler Hitze, zwischen Sparkasse und Stadtkirche am Fronhof. O LAND LAND LAND, HÖRE DES HERRN WORT. Mit dem Hund an der Leine und einem wild trompetenden Elefanten auf dem Brustkorb. Das ist ein Herzinfarkt, ging es mir durch den Kopf. (Davon an anderer Stelle mehr.)

“Einmal Diazepam läuft durch!” hörte ich im Rettungswagen den Sanitäter und ich lag da und dachte, Scheiße, Dias, die machen nur wirr im Kopf, und verlor das Bewusstsein, schmierte ab, “HE! JUNGER MANN!” Kehrte zurück. Was ist mit dem Hund, sagte ich schwach. Haben Sie die Nummer meiner Frau notiert? Die richtige Nummer? Sie ist bei meiner.. Schwiegermutter. Keine Sorge. Darum wird sich gekümmert, sagte der Notarzt. Und wir kümmern uns um Sie, fügte eine andere Stimme hinzu.

Mit Diazepam fortlaufend ruhig gestellt wurde ich an der Krankenhausambulanz vorbei in die Kardiologie gerollt. Herzkatheterraum. Der Oberarzt schimpfte, weil ich nicht still liegen wollte, erst seine massive Zurechtweisung, HERRGOTT, WIR WOLLEN IHNEN DOCH NUR HELFEN, und die Drohung SONST MÜSSEN WIR SIE FIXIEREN zeigten Wirkung. Zwei Engstellen in den Herzkranzgefäßen (“voller Plaque”) wurden per Ballon aufgedehnt und anschliessend mit Stents versorgt, um die Gefäße offen zu halten. Stents. Sind kleine Gittergerüste, sagte der Oberarzt. Klettergerüste? Ich sah einen von Plaqueablagerungen verwüsteten Kinderspielplatz vor mir. Auf links gedreht, die Luft raus. Ab hier kein Transport. Minimalinvasiv.

Was noch Eindruck hinterliess: die Kühle auf dem OP-Tisch, die routinierte Geschwindigkeit, mit der das OP-Team mich entkleidete, und wie gekonnt eine OP-Schwester mit dem Einmalrasierer einen Teil meiner Schamhaare rasierte. “Wir müssen an Ihre Leiste ran.” Kalter Schweiß, weisser Pimmel. O Herr, soll ich jetzt hochkommen?!

Als ich am frühen Nachmittag auf die Intensiv gebracht wurde, war ich verblüfft von der Helligkeit und Freundlichkeit der Station. Die todkranke alte Frau neben mir wurde von Schläuchen beatmet, ich hörte Monitore bei der Arbeit, aber ich sah sie nicht, nicht mal ihre Füße, mein Blick wurde von einem weißen Vorhang verstellt.

Ich durfte mein rechtes Bein nicht bewegen. Der Kardiologe war durch die Leiste bis zum Herzen vorgedrungen. 24 Stunden still liegen, sonst kann es passieren, dass Sie innerlich verbluten.

“Da sind Sie dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen”, meinte eine Krankenschwester, was ich zunächst als Floskel abtat, mit der man neue Herzinfarktpatienten empfängt. Erst als der Oberarzt erschien, in Begleitung weiterer Ärzte und Ärztinnen, und mit ernstem, aber nicht hoffnungslosen Blick von einem schweren Herzinfarkt sprach, den ich nur deshalb überlebt hätte, weil ich so rasch auf seinem OP-Tisch gelandet war, (“Ein Zugang war schon komplett zu, der Herzmuskel wurde nicht mehr mit Blut versorgt”), erst da wurde mir bewusst, wie knapp das alles war. Mann, da hab ich die 80er überlebt, die 90er, sogar die dumm-dreisten 00er haben mich nicht umgebracht, und jetzt das.

Und hätte mich der Herrgott an diesem Vormittag nach dem Frühstück nicht in die Innenstadt gelotst, um Geld abzuheben, sondern, wie am Tag zuvor, mit dem Hund in die Wupperberge, abseits der Fußwege und wie immer ohne Handy, dann wäre meine Überlegung, wie man eine Herzinfarkt-Geschichte beginnt, obsolet gewesen.

Hoffnungslos veraltet.

Und was wäre mein vorletzter, je geschriebener Satz gewesen? Ein kleiner Satz von ihr im Notizbuch, Jeden Morgen glitzert eine ungeweinte Träne in deinem Auge.

Und der letzte Satz:  Na. Ich weiss auch nicht.

Perfekt, eigentlich.

Kurztitel & Kontexte bis 2012-07-01