Archiv der Kategorie: Ausgabe 03/2010

Inhalt 03/2010

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2010 erschien am 12. Oktober 2010.


In dieser Ausgabe:
Bilder von Moran Haynal, Wus Reise nach Europa, Illusionen, Papiere von Seide, ein Fest der Poeten, zum Hölty-Preis für Lyrik, The Chomskytree-Haiku (Rhizome), Mathematik mit Blumen, Ezra Pound und Rihaku, auflaufende Metaphern, eine bittre Liebe, der Stadtpräsident von Bern, die schlaffe Seele des Leders, die stillen Stellen des Archivs, Über- und Untersprachen, rostrote Räusche, Gerald Eckert und Machaut uvm.

INHALT:

Fr, 6.8.10 (Sa, 7.8.10, 5:14): Gegendämm[er]ung

Text von heute journalistisch, …

— snip! —

Nachhall von Zeiten, Räumen und Textklängen

Die Ensembles reflexion K und voces verbanden in der Nikolaikirche alte mit Neuer Musik.

Eckernförde. Es war „ein sich anders in die Leere Sagen“, wie es der Lyriker Raoul Schrott einmal nannte, als Guillaume de Machaut um 1360 die erste vierstimmige Messe schrieb und damit nicht nur die Mehrstimigkeit, sondern auch die Gestaltung des Raums durch Klang zum Kompositionsprinzip erhob. Vom Papst mit einem Bann versehen und unverstanden war diese „Ars nova“ zunächst – ein Schicksal, das die Neue Musik mit dieser alten lange teilte. Aber nicht nur deshalb stellten das Eckernförder ensemble reflexion K und das Berliner ensemble voces in der Nikolaikirche unter dem Konzertmotto „Gegendämmerung“ Machauts richtungsweisendes Werk vieren des Eckernförder Komponisten Gerald Eckert gegenüber.

Machauts „Messe de Nostre Dame“ klingt rund 650 Jahre nach ihrem Entstehen eigentümlich modern, gerade wenn das ensemble voces die einzelnen Sätze zwischen Eckerts Kompositionen präsentiert. Machaut wie Eckert erweisen sich als „Echolote“, die die musikalischen Parameter Zeit und (Raum-) Klang neu „eichen“. In der rein elektronischen Komposition „Aux mains de l’espace“ („in der Hand des Raums“) ist diese Neuverortung sogar programmatischer Titel. Eckert komponiert hier nicht mit den Klangereignissen an sich, sondern nur mit deren Nachhall, also ihrer zeitlich verschobenen Wechselwirkung mit dem Raum. Auch in „Nen VII“ konfrontiert er den auf Tonband aufgenommenen und elektronisch verfremdeten Nachhall von Flöte und Cello mit deren Live-Klängen, welche Kombination sich wiederum mit dem Raumhall der Nikolaikirche überlagert. Solche in einander verschränkten Klangebenen sind typisch für Eckerts Musik und finden sich im hier möglichen direkten Vergleich mit Machaut auch schon bei letzterem.

Eine weitere Gemeinsamkeit, die sich über die Jahrhunderte hinweg spinnt, wird in Eckerts „Annäherung an Petrarca“ und „Gegendämmerung“ deutlich, in denen auch die menschliche Stimme eine Klangrolle spielt. Machaut machte in seiner Messe den Text zum Klang, indem er ihn über weit gespannte Melissmen (ein Silbe erstreckt sich über viele Töne) dehnte. Die Musik fügt sich so in die „Löcher“, die Leerstellen, die der Text (zu-) lässt. Genauso bei Eckert, der Raoul Schrotts Gedicht „Physikalische Optik V“ in „Gegendämmerung“ eben nicht vertont, sondern es fragmentiert und so den Sinn in etwas sinnlich Wahrnehmbares transformiert. Was schon bei Machaut „unerhört“ im doppelten Wortsinne war, ist so noch heute ein Hall, der die Texte mit Klang und damit neuem Sinn füllt.

— snap! —

… lyrisch …

— snip! —

gegendämm[er]ung

ein and’res in die welt mich fragensagen:
dass ich als nicht und wicht und schüchtern licht
würd‘ alle fensterstürze mutig wagen,
damit ich nicht, was alte kunst uns spricht.

die welt steht kopf, nur wenn wir sie ertragen:
symbol und all das freche metaphoren
den unvergessenen ins grab geschlagen,
auf dass sie sich erst und dann uns verloren.

das rad steht stiller als das kyrie
der plattitüde aller nacht geweihten.
aus sommers fernen schreit die furie,

was sie gesetzt zu früh in lieb‘ der leiden.
ich dämm‘ sie ein, den fluss, das meer, die seen,
und träume mich, zu singen solchen feen.

— snap! —

… und filmisch:

Ad Küha uf Sassförkle

o Kühe, rehäugige, taumelkrauthighe, euterpralle
dem Himmel so nah! dem Himmel einschwebende:
Angela, Afra, Anja, Rosi, Streusel! s wuseln Molche
in euren feuchten Hufabdrücken, die ihr hinterließt

dieweil ihr entschwebt, Molche & Alpensalamander
zu Füßen eures eleganten Tritts: der Almrausch
rostrot! euer Glocken! den himmelblauen Himmel
zu rocken, Blick auf Fleischberge, die ihr hinterließt

ein großes Reich im Kleinen. im Großen. noch seid
ihr geerdet, herdet in enzianischem Blaulicht, stellt
euch für Fotos in Posen; seid so verdammt boden-

ständig, daß mans garnicht glauben kann. s rocken
nur die Engel droben, Kühe, scheckige, merkts euch
mit euren Rehaugen merkt euch auch das Wort Metzger

er legt es ein u.a.

1 er legt es ein …

er legt es ein
in sprechenden
wind

er führt
das „bang“
auf die weide

und reimt:

ein klappern
sich um
ohren

wie seide
wie gang
wie schnee

2 fünf hände …

fünf hände
an jeder
hand

ersticken
die welt

schreiben
ihr sie zu

ohne würge-
male zu
hinterlassen

3 in die über- …

in die über-
sprach’ wehte ein

wind

der sprach zu der
untersprach’ die

sich wand

in die augen
senkte sich die

stund’

da wußte was
er schweigen mußt’

der mund

in die augen
hingestirnt ein

kind

Alexander Tschäppät

alexander tschäppät heinrich gartentor henri racz

eine handvoll kunst, rednerinnen, besucherinnen und und… wir sind uns auf der “stadt bern” nie sicher ob und was hier kunst ist oder nicht.

so sind wir auch nicht in der stadt, treffen dann aber auf den stadtpräsidenten der zunächst trefflich über kunst referiert und dann eine längere vortrag über ein gartentor zum besten gibt. schiff? stadt? gartentor? kunst? ausstellung? installation? treffen einen galeristen, eine besetzte kajüte…

also wir sind ein wenig verwirrt, aber hoffen natürlich den dingen auf der “stadt bern” noch auf die spur zu kommen.

A Poem A Day – Laura Riding / THE ROUGH HOLDERHOUSE

Die Welt und Ich

Das ist nicht ganz, was ich meine
Viel mehr als die Sonne ist Sonne.
Doch wie lässt sich das genauer deuten
Wenn die Sonne nur beizeiten scheint?
Was für eine Welt aus Unbeholfenheit!
Wie viele feindliche Sinn-Einlagen!
Womöglich ist das einem Sinn so nah
Wie Wissen womöglich seinem Entstehen.
Ansonsten müssen, denke ich, die Welt
Und ich, fremd miteinander, leben, sterben –
Eine bittre Liebe, jeder im Zweifel, ob
Das jemals Thema war: den andern lieben.
Nein, besser sind sich beide beinah sicher
Jeder für sich – genau dort, wo
Genau Ich und genau die Welt
Einander nicht begegnen, um ein Haar, ein Wort.

***

The World and I

This is not exactly what I mean
Any more than the sun is the sun,
But how to mean more closely
If the sun shines but approximately?
What a world of awkwardness!
What hostile implements of sense!
Perhaps this is as close a meaning
As perhaps becomes such knowing.
Else I think the world and I
Must live together as strangers and die–
A sour love, each doubtful whether
Was ever a thing to love the other.
No, better for both to be nearly sure
Each of each–exactly where
Exactly I and exactly the world
Fail to meet by a moment, and a word.

***

Ausgesucht und übersetzt von Christian Filips
Eine Auswahl von weiteren Gedichten der Anti-Dichterin und „weißen Göttin“ Laura Riding erscheint demnächst im roughbook 013, RIDING & PARA-RIDING.


THE ROUGH HOLDERHOUSE

Die Wiederbelebung der unendlichen Semiose (II, XIII, XXI)

Bildlich gesprochen. [WduS II]

1.

Sie beschrieb es ihm, er malte es sich aus.

2.

Bildlich gesprochen:
Die Mutter aller Metaphern.

[Die Wiederbelebung der unendlichen Semiose. Ich suche auch Metaphern, die in wissenschaftlichen Publikationen breite Verwendung finden. Vorschläge werden dankend entgegengenommen.]

Psychisches Wrack. [WduS XIII]

Sie haben ihn auflaufen lassen.

 
Wenn Träume sich in Luft auflösen. [WduS XXI]

Einatmen.