Archiv der Kategorie: Ausgabe 04/2011

„Politische Correctness“ als Schwarze Pädagogik. Eine Fußnote zur Hysterie der Moral ODER Jenseits der Psychologie.

Die Jungs, alle kurz vor der Pubertät (ach, erste Härchen sprießen), haben aus Stadt/Land/Fluß ein neues Spiel abgeleitet: Einer nennt einen Buchstaben, die Spieler erfinden jeder für sich einen Namen, dann ein Fluchtfahrzeug sowie eine Todesart, die der erfundenen Figur geschehen, und schreiben dieses nieder in die vorgezeichneten Spalten; kurz: die Grundlagen für den Plot eines Krimis. Die Todesarten, die man wählt, sollen möglichst bizarr, weil nämlich so sein, daß kein andrer darauf komme. Einer wurde in, sagen wir, Haargel ersäuft, ein anderer vermittels eines Tennisschlägers erstickt usw. Die bizarren Fantasien schäumen auch bei den Fluchtfahrzeugen – etwa nach einem bewaffneten Banküberfall mit dem Fahrrad oder auf Rollschuhen, die in ihrer modernen Version Inlines heißen, oder nach einem Eifersuchtsmord rollt sich der Mörder in einem Kinderwagen davon. Auch sollten die Namen der Opfer ausgefallen genug sein, daß Mitspieler ihn nicht ebenfalls wählen. Dann wird verglichen und gelacht, die Punkte werden für die erste Runde vergeben, und ab geht‘s in die zweite. Das alles, selbstverständlich, auf Papier. – Klar, daß die Jungs (es spielten dies nur Jungens, wird behauptet) sich gegenseitig übertreffen im schwarzen Fantasieren.
Das Spiel wird von der Lehrkraft, nennen wir sie Kurdistan, verboten. Bei Verstoß drohen Sanktionen. Das Spiel sei gewaltverherrlichend, so etwas sei an einer öffentlichen Schule strikt zu unterbinden.
Daß indessen solche Spiele ganz im Gegenteil Gewalt verarbeiten – eine Gewalt, von denen die Kinder tagtäglich mehr als nur eine Nachricht bekommen, und von schlimmerer, als sie sich überhaupt ausdenken können, und daß so auch Judenwitze funktionieren, ja der Witz-überhaupt, wird unbegriffen weggewischt – ich möchte wirklich gerne Kurdistan einem Juden seine Witze verbieten sehen: Das würd ein Aufstand! Nichts ist verstanden in dieser reifefreien Pädagogik, „,setzen! sechs.“ – „Sie machen die Kinder krank“, sage ich scharf zu Kurdistan, denn es verbiete den Kindern die Sublimation – jene Kulturleistung also, in der reale Gewalt gerade aufgehoben wird, indem sich die aggressiven Triebimpulse ins Fiktive verschieben. „Sie nehmen den Kindern die Möglichkeit, täglich Erfahrenes angemessen zu verarbeiten.“ Was dringend nötig ist. Schon fangen die Testosterone, drohend, sich aufzuwühlen an… – „Ich kann nichts dazu, wenn die Kinder von zuhause Filme mitbringen, die erst ab 16 erlaubt sind.“ Ja wo lebt dieses Mensch? Und was will es den Kindern n o c h verbieten? Homer vielleicht? Nein, den nicht, den haben sie in der Klasse in einer Version für Kinder gelesen – wohl, damit sie ihn später nicht wirklich lesen? Singe den Z o r n, o Göttin, des Peleiaden Achilles! Oder die Bibel, deren Altes Testament von Massakern nur so strotzt? Und schließlich die gesamte moderne Literatur, soweit sie nicht esoterisch aus Harmonien bewegt ist? Grass womöglich? Céline ja sowieso, und Doderer? Niebelschütz? später wahrscheinlich ganz Pynchon – alles auf den Index? Oder dürfen Schüler sowas zwar lesen, aber nicht schreiben? „So wie das, was die Kinder da spielen, hat Kunst-überhaupt nicht selten begonnen!“ „Darüber diskutiere ich nicht.“ Ach, wehe über die Wehen einer solchen Moral! Wehe unseren Kindern! Und wehe!, wehe!, deshalb, uns.

MÖBELHAUSSCHAURAUMBÜCHER

1950s living rom chic

Echtbuch oder konfektionell hergestellte Blindbände ? Seit je beschäftigt uns in|ad|a|qu|at die flagrante Frage , womit Einrichtungshäuser für ihre Katalogfotos und Schauräume das nötige Buchmaterial akquirieren , welches dann in lockerer Streuung – es soll ja “wohnlich” und nicht “verkopft” wirken – den zur Schau gestellten Wohn- und Regalwände , Arbeits- und Relaxnischen appliziert wird .

Wie also bespielen etwa die weltweist 322 IKEA- Möbelhäuser ihre Regale ? – Da der “Buchschmuck” zur Deko zählt , folglich mit keiner Warenummer , keinem Preis und keinem Diebstahlschutz versehen ist , müssten Gegenstände dieser Art – sollten sich die Titel einer unspezifischen Beliebtheit erfreuen – ganz oben auf der Liste der kleptomanisch veranlagten Mitbürger zu stehen kommen .

Abgesehen davon , dass ein Coelho , eine Allende oder ein Dan Brown keine zwei Tage im Schauraum verblieben , sind auch Bestseller sozial konnotiert und nicht nur einem Einschluss- sondern ebenso einem Asschlussverfahren unterlegen . Ein solcher Ausschluss wäre natürlich Gift für den Schauraum , da mit dem als ausschliessend decodierten Buch das gesamte Regal verworfen würde .

Unser heimlicher Verdacht , dass mit der Weihnachtsbüchersammlung , welche Starbucks jedes Jahr inszeniert , in Wahrheit nicht etwa Witwen- und Waisen- , sondern Möbelhäusern zugute kommt , erhärtet sich immer wieder angesichts des realen wie symbolischen Nullwerts der solcherart gesammelten Bücher . Da kaum auszuschliessen ist , dass die Billigleister im Schichtdienst des Kaffee- IKEA ( “transportiere und bau Dir Deinen Kaffee selbst !” ) mitunter einen netten Fang machen und sich am vorvorvorletzten Reisser von James Patterson bedienen , liefert der sichtbare Bücherkorb der Sammlung im Schnitt das perfekte Buch ohne Eigenschaften , das man nicht einmal bei langen Wartezeiten in die Hand nehmen würden .

Und genau eine solche Auswahl wäre für Möbelhäuser ideal : Allerlei diffuses Zeug , das allerdings der Ästhetik halber allerdings einigermassen “wertig” rüberkommen muss , des Weiteren aber nicht den Greifreflex der Raumschauer triggern oder gar “Stammleser” dazu verleiten , einige aufeinanderfolgende Tage lang während der Mittagspause herbeizueilen , um – bequem auf einem Schauraumsofa ausgestreckt – das Schauraumbuch zu verschlingen . Dächte man dieses No- Go– Szenario multipliziert um die Anzahl der Filialen und Schauräume durch , gelangte man rasch zu bestürzenden Resultaten .

Grundsätzlich zählt das Raumschau- oder Schauraum- Buch- Syndrom ( siehe dazu grundlegend I. K. Ea : SRBDShowroom Book Disorder . A Case Study , including Statistic Material from Various Sources – Almhult : Billy Press 1990 ) zum Critical Catalogue of Furniture Display ( CCoFD ) , welcher deviante oder dem Verkaufszweck adverse Kundenverhaltensweisen in Möbelhäusern listet .

Glücklicherweise sind Zeitgeist und Wohnmode keine statischen Entitäten , sondern in stetem Wandel , sodass sich neuerdings vermehrt andere , zur Warenpalette des Möbelhauses zählende und auch hinsichtlich der sozialen , ideologischen , generationellen und individuellen Konnotierungen neutrale Gegenstände in den Schauraum- Regalen der Raumschauen finden : Da sind sie nun , die in allen Variationen greifbaren und möglichst aus pflanzlichem Flechtwerk bestehnden Körbe und Körbchen , welche einerseits das Prinzip “Ordnung” symbolisieren , zugleich aber – qua echtem oder imitiertem Naturmaterial – den Hauch einer entspannten “Ökologie des Wohnzimmers” atmen .

Auch die – im Wohnbereich immer keusch “getarnten” – Arbeitsnischen benötigen in jüngerer Zeit keine Bücher mehr , um das Thema “Geistesarbeit” anzuspielen : der Laptop fungiert in diesem Kontext als gender- , alters- und ökonomisch unspezifisches Signalobjekt . Zumal auf der Fotografie . Im Möbelhaus selbst werden schauraumfähige Objekte aus dem Sortiment ( Zeitschnriftenordner ) an dieser kritischen Stelle plaziert , um die Kaufreize zu erhöhen . Der besagte Laptop bzw. das Signal  ”dies hier ist ein Laptoparbeitsplatz”  beruht allein auf den dementsprechenden Abbildungen im Katalog .

Da indes mittlerweile als statistisch erwiesen gelten kann , in wie hohem Masse der Content des aktuellen Katalogs im Mittelfristgedächtnis der Kunden verankert ist , sodass selbige von sich aus die “Leerstellen” im Schauraum quasi automatisch mit dem im Katalog zugeordneten Objekten ( recte : Laptop ) füllen , ist die im Schauraum reale Absenz der Symbolischen Objekte für den gut geschulten Kunden kaum wahrnehmbar .

Schliesslich bleibt die für Malls und Schauräume eiserne Regel des “in Eile Verweilens” oberstes Gebot : Trotz Probesitzen und haptischer Annäherung an die libidinös besetzten Objekte muss der Kundenstrom flüssig bleiben und darf nicht – wie von John Fiske ( Reading the Popular – London : Unwin Hyman Ltd 1989 ) eindrücklich herausgearbeitet – stagnieren bzw. durch unangemessen lange Verweildauern Sichtbarkeitseinschränkungen auf seiten anderer Kunden generieren .

Beides kann mithilfe von klugem Schauraum- Design in Kombination mit freundlichem Hilfs- , recte : Kontrollpersonal eingedämmt werden . Die nötige Literatur finden Sie in der Raumschau Ihres bevorzugten Möbelhauses .

|||

KLANGAPPARAT

Dass es sich doch mitunter lohnt , den Empfehlungen anderer Social- Net- Mitglieder nachzugehen , zeigt sich immer wieder neu auf Soundcloud , dem äusserst praktikablen Musiklieferdienst czz-hoerempfehlung( von dem extremen Streaming @ Spotify sei vorerst geschwiegen ) . Diesmal sind wir einem Hinweis des geschätzten Graintable nachgegangen und auf eine dynamisch spannende musikalische Skizze des nicht weiter spezifizierten Lorn ( “Woods , Antarctica” ) gestossen : in Kompression vs. Vollsound , hinsichtlich Melodiestimme und breitem Anklang in etwa dem Akkordeon verwandt , offenbart sich hier eine anregende kleine Soundstudie .
Pours (DRUGS) by Lorn

|||

Heroinrauchen

In der Szene, in der ich mich bewegte, fixte kaum jemand. Eine Spritze war ein Apparat, der einen verletzte, der einem ein Loch in den Arm machte, wir hatten keine Lust mit einem Loch im Arm durch die Gegend zu rennen. Wir wollten unsere Ruhe haben. Die meisten Heroinkonsumenten wollen ihre Ruhe haben, wenn sie in die Jahre kommen. Vielleicht ein bißchen Euphorie, ein bißchen nett sein zu den Leuten, mit denen man abhängt,  aber die wilden Sachen, die man mit 20 auf Droge macht, finden schon zehn Jahre später nicht mehr statt.

Zu dieser Zeit, Ende der 80er, grassierte eine neue Mode, die mir sehr gelegen kam. Die Leute begannen Heroin plötzlich zu rauchen und sich damit die Lunge zu ruinieren. Da lag weniger am gepanschten Stoff, dessen Wirkstoffgehalt selten 15 % überstieg, es lag an der beschichteten Aluminiumfolie, auf der das Pulver erhitzt wurde.

Zwar flämmten die gewissenhaften unter den Heroinrauchern die Folie vor dem Rauchen ab, doch die meisten User hatten dazu weder Lust noch Muße. Sie waren einfach zu geil aufs Breitwerden, um zuvor solch eine Lahme Enten-Aktion einzuschieben, die eine halbe Minute in Anspruch nahm. Eine halbe Minute weniger breit war eine halbe Minute weniger breit.

Noch Fragen.

Es gab Blower, die sich gleich ein halbes Gramm aufs Blech packten, einen richtig kleinen Hügel bauten. Sobald das Pulver heiß wurde und sich verflüssigte und zur dunkelbraunen, nach bitteren Mandeln oder aufgekochten Wundpflastern riechenden dampfenden Pampe geworden war, liess man es über die Alufolie hin und her rollen, von links nach rechts, wie eine Schiffsschaukel auf der Kirmes, immer verfolgt vom Mundröhrchen, durch das der Heroinrauch angestrengt eingezogen wurde: Ein Ritual, das weltweit als „den Drachen jagen“ bekannt wurde.

Drachenjäger sind geduldige Leute. Je nach Menge, die man sich aufs Alu streut, kann eine Prozedur zwanzig Minuten dauern bis nur noch ein letzter öliger Klecks Heroin samt Streckmittel übrigbleibt, der in einer gewaltigen Orgie von Qualm aufgeht und sich in die Lunge frisst, ein wilder zügelloser Moment, ein ultimatives Zumachen. Allein das Schreiben darüber und die Erinnerung lässt mich nach hinten wegkippen und lang aufschlagen.

Dann gibt es noch die Punktraucher. Ringo war ein Punktraucher. Ringo hatte gerade 2 Jahre Haft hinter sich und jobbte in einem Elektronikfachmarkt. Ich traf ihn spätabends bei einem gemeinsamen Bekannten, von dem ich bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatte, dass er ein gemeinsamer Bekannter war.

Alles war schon bereit zum Aufbruch, als mir diese Bahn Alufolie in die Hand fiel, über und über mit rußig-schwarzen, kaum nagelkopfgroßen Punkten bedeckt. Sie lag direkt vor Ringo auf dem Tisch.

„Was hast du denn da fabriziert?“ fragte ich. Es sah nach einer ungeheuren Fleißarbeit aus. Vor lauter schwarzen Punkten war kaum noch das Alu darunter zu entdecken.

„Der Ringo ist Punktraucher“, meinte Kilian krächzend. Er lag schon auf der Matratze, die er sich aus dem Schlafzimmer rübergeschoben hatte, um nichts zu verpassen, jetzt wartete er nur noch darauf, dass wir endlich die Biege machten. Es ging ihm nicht gut. Er war schwer erkältet. Es war fast ein Witz: da war man bis zum Kragen voll mit Morphin, fing sich aber einen Schnupfen, der einen umhaute. Schon am Tag zuvor, als Kilian vor mir die Treppe hinaufgestiegen war, kam er mir wie ein alter Mann vor, wie er sich da bewegte, ein krummschnabeliger lahmer alter Papagei, der dem Käptn auf der Schulter hockte.

„Hat der Glumm mal wieder nichts mitgekriegt, wah?“ tönte Ringo und erklärte mir kurz das Wesen der Punktraucherei. Hierbei streute man nur wenig Pulver aufs Blech, gerade mal eine halbe Messerspitze. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Beim Blowen größerer Mengen passierte es immer wieder, dass man den aufsteigenden Heroindampf nicht zu 100 % erwischte, dass etwas daneben geriet, wenn man den Drachen jagte. Das war doppelt ärgerlich. Zunächst geriet es natürlich nicht in die Lungenbläschen, wo es hingehörte, zum anderen nicht ins Röhrchen, das selbst aus Aluminiumfolie angefertigt wurde, um das dort abgefangene, sich ablagernde Heroin nochmals rauchen zu können.

Die Punktraucherei war anstrengend. Anstatt die Schore auf dem Blech fröhlich hin und herlaufen zu lassen, musste man immer wieder nachlegen. Es war die reine Fließbandarbeit. Etwas für Stoiker. Ringo war tatsächlich der einzige konsequente Punktraucher, der mir je unter die Augen kam, und er gab es nach einer Weile ebenfalls auf. Genau wie ich stieg er bald vom Blowen aufs altbewährte Sniefen um.

Sniefen hatte den Nachteil, dass die Schleimhäute das Material erst verarbeiten und weiterreichen mussten, bis es endlich im Zentrum der Sucht andockte, und bis dahin vergingen gut 20 Minuten. Sniefen war eine langsame altmodische Geschichte. Der Vorteil: Die Wirkung hielt länger an. Wenn die Blower schon wieder an ihren Vorrat mussten, hingen wir Nasenzieher noch ganz entspannt im Fernsehsessel, mit dem Schädel auf die Lehne geknallt.

Ach Kinder, Sniefen war eine herrliche Angelegenheit. Schade, dass ich es kotzeleid bin.

*

..

Die Leute wissen gar nicht, was das für eine scheiß Arbeit ist, Junkie zu sein. Das ständige Geldauftreiben, das ständige Auf-Achse-sein, das Warten und Leuten hinterhertelefonieren, denen du Geld mitgegeben hast, das ständige Abgezocktwerden und selber Leute abzocken, der ewige Schiss vor den Bullen und der Untersuchungshaft – und wofür? Nur, um nicht von jetzt auf gleich aus dem Himmel zu fallen und dir die Seele aus dem Bauch zu kotzen.

..

Mehr in 1960