Schlagwort-Archive: Dichter

Über Musen (Altra Ego)

»Für einen Mann ist das Antlitz eines Mädchens natürlich das Antlitz der eigenen Seele«, schrieb ein russischer Dichter, und genau das steht hinter den Heldentaten von Theseus oder dem Heiligen Georg, der Suche von Orpheus und Dante. Die schiere Mühsal jener Unternehmungen zeugt von einem anderen Motiv als einzig und allein der Begierde. […]

Ein junges Mädchen ist, kurz gesagt, das Double der eigenen Seele, und man nimmt sie genau deshalb ins Visier, weil man keine Alternative findet, außer vielleicht in einem Spiegel.

Joseph Brodsky

••• Glücklicherweise ist p.- nach kurzzeitiger Absenz wieder ins Online-Leben zurückgekehrt und übernimmt heute per Kommentar die Rolle der Muse. So kann ich dieses Brodsky--Sequel endlich fortsetzen, nachdem auch ich die letzten Tage ein wenig absent war.

Im weiteren Verlauf seines Essays über die Muse und den Dichter als vermeintlichen notorischen Wüstling macht Brodsky einen Schwenk. Künstlerische und erotische Aktivität seien beide Ausdruck schöpferischer Energie und damit beide Sublimationen. Indem Brodsky weiter den russischen Dichter zitiert, macht er den Dichter, von dessen Muse er spricht, vom bloßen Scribenten auch wieder zum Autor.

Die Muse in ihrer körperlichen (menschlichen) Erscheinung ist der bewusst oder unbewusst gewählte Spiegel oder auch ein Verstärker für die Signale, die zu schwach wären, um von sich aus hörbar zu werden. Was auch immer “diktiert” wird, war im Dichter (die -innen mögen verzeihen, sie sind selbstredend einbezogen) vorhanden. Die Muse löst lediglich die Zunge oder meinetwegen das im Unbewussten verhedderte Wort, so dass es hörbar wird und geschrieben werden kann.

Könnte die Muse (das fragt nicht Brodsky, sondern ich) dann nicht wahlweise auch eine bewusstseinserweiternde Droge sein, eine gelungene Sitzung beim Analytiker, eine Hypnose etc. pp.? Wenn man bedenkt, was in manches Dichters Unbewusstem so auf Wortwerdung wartet, kann es klüger erscheinen, die recht gewählte Muse (den genau passenden Verstärker gewissermaßen) gerade nicht zur Geliebten zu machen.

Die Muse als Altra Ego – betrachte ich es so, wird mir im Nachhinein so manche eigene “-Wahl” verständlicher. Ich hätte nur die Sublimationen nicht so oft vermischen sollen.

Autor wieder da

Felix Philipp Ingold im Perlentaucher (Volllektüre empfohlen):

„(…) Elektronisches Schreiben ist, im Unterschied zur herkömmlichen Schriftkultur, nicht mehr vorrangig auf die Fertigstellung und Stabilisierung des Texts angelegt, sondern auf dessen Verflüssigung, das heißt auf die stetige Modifikation des Corpus durch Umschichtung, Verschiebung, Löschung, Wechsel des Schrifttyps u.a.m. Die stetige Unfertigkeit dichterischer Werke, von der schon Francis Ponge weitläufig gesprochen hat, scheint sich neuerdings in vielen Bereichen der Textproduktion als Normalität durchzusetzen; sie ergibt sich – soll man sagen: naturgemäß – aus den neuen funktionalen Möglichkeiten elektronischen Schreibens, war aber in den avancierten literarischen Schreibverfahren des 20. Jahrhunderts bereits vorgebildet, auch wenn diese damals noch im Kopf konzipiert und von Hand praktiziert wurden. – Heute benennt man diese Verfahren mit Begriffen wie „Cut & Paste“, „Hyper_Scriptionen“, „Hypertext“, „Hyperfiction“, „Cyberfiction“, „Concreativity“, „schwebendes Schreiben“ u.ä.m., doch all das geht über die längst erprobten Techniken von Schnitt und Montage, von Serialität und Permutation, wie die klassische Moderne sie entwickelt hat, nur unwesentlich hinaus.

6

Schriftsteller, die mit dem PC aufgewachsen und als digitale Schreiber zu Autoren geworden sind, bilden heute unter den Literaturschaffenden sicherlich die Mehrheit. Dass aber das gewandelte, technisch hochgerüstete Schreibgerät die Textproduktion – nicht als Verfahren, sondern im Ergebnis – nur unwesentlich modifiziert und auch die Poetik kaum berührt hat, ist belegt durch eine Vielzahl aktueller Publikationen, welche insgesamt – meist beglaubigt durch Kritiker und Juroren – die „zeitgenössische Literatur“ ausmachen, zumal die deutschsprachige.

Da stellt man nun erstaunt fest, dass das erzählerische oder lyrische „Ich“ seligen Angedenkens nach wie vor fröhliche, bisweilen auch wehleidige Urständ feiert; dass es den Schreibenden mehrheitlich und vorrangig um die Kommunizierung privater Befindlichkeiten oder Erfahrungen geht; dass dafür jedoch (wiederum mehrheitlich) entweder auf kanonisierte Stilformen und Textsorten zurückgegriffen oder ein rezenter, in hohem Maß formelhafter, syntaktisch schwacher Alltagsdiskurs bemüht wird, der in Schriftfassung – da die Intonation entfällt – subjektive Einfärbungen weitgehend vermissen lässt, obwohl unentwegt „ich“ gesagt wird und auch „ich“ gemeint ist. (…)“

aus: Felix Philipp Ingold, Ego_Firmen im Alltagsdiskurs

Mit einer impliziten Erklärung, warum Matthias Politycki verschwunden ist …

Michael Perkampus

perkampus_pic.jpg

Geboren 1969 im Fichtelgebirge. Sprachakteur.

Bibliographie (Auswahl): 1991 Equipe Propheta (Vermischte Schriften) Gideon-Verlag. 2007 Seelen am Ufer des Acheron (Roman) Edition Neue Moderne. 2007 Evolution der Unnahbarkeit (Die Gedichte 1986 – 2007) Edition Neue Moderne. 2008 Die Geschichte des Uhrenträgers (Erzählung) Edition Neue Moderne.
Sprechtheater: 2005 Ouroboros Stratum (Wortskulpturen). 2006 Timber (lyrisches Märchen). 2007 Die Gilde der peschwarzen Liebe. 2011 Guckkasten (Hörstücke) edition taberna kritika.

Das Wichtigste aber sind die ‚traumhaften Begebenheiten‘, die dem Dichter erscheinen. Eben: er denkt sie sich nicht aus. Sie sind ein jenseitiges Gespinst seiner Wahrnehmung.
Jedes Dichten ist erinnern, also: finden (auffinden, wiederfinden). Wie wenig ist das wert, wenn man keine Spache hat! Diese Sprache muß sich von jedem Vorwurf der Sprachkonvention freimachen, die ja nur zum beschreiben anhält. Nicht beschreiben sondern verdichten. In der eigenen Sprache sprechen, die wir nur in unseren Träumen lernen.

Litblog / URL:
Die Veranda
http://veranda.michaelperkampus.net/
GrammaTau
http://grammatau.blogspot.de/