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weiter Übersetzungsbeispiele:
Moving Mists on the Hill (17)
Apace, apace, apace (24)
In the Echoes of its Works (44)
Unreadiness (51)
- von James Joyce, Helmut Schulze, Alban Nikolai Herbst
in Die Dschungel. Anderswelt
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weiter Übersetzungsbeispiele:
Moving Mists on the Hill (17)
Apace, apace, apace (24)
In the Echoes of its Works (44)
Unreadiness (51)
Roman Bucheli bespricht Bruno Steigers Buch auf der Zürcher Kulturseite der NZZ:
Man müsste vielleicht das Temperament eines Taschendiebs haben, um dieser Prosa immer und an jeder Stelle angemessen folgen zu können: unentwegt auf alles Unerwartete vorbereitet sein, stets mit den Augen in alle Richtungen schauen, einen Riecher haben für den übernächsten Schritt. Und man käme doch immer zu spät. Denn der Erzähler in Bruno Steigers neuem Prosaband, «Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl», ist wie der sprichwörtliche Igel. Er ist immer schon da, wohin man gerade erst unterwegs war. Man kommt immer einen Schritt zu spät. Kaum hat man einer Erzählung folgen zu können geglaubt, erweist sie sich bereits wieder als hinfällig, und kopfüber stürzt man ins nächste erzählerische Abenteuer.
«Wer nie mit einem Taschendieb befreundet war, hat keine Ahnung, was wahre Freundschaft bedeutet.» Man könnte, was Bruno Steiger im abschliessenden Kapitel unter der Überschrift «Letzte Notizen» gleichsam als voreiliges Vermächtnis mit grandiosem Witz aufzeichnet, auch als Anweisung an die Leser verstehen. Bruno Steiger lesen ist so etwas wie die Vorschule für die Freundschaft mit einem Taschendieb.
Eine andere Vorschule, die dieser ebenso merkwürdige wie grandios komische Prosaband enthält, ist Robert Walsers «Gehülfen» nachempfunden und schildert die Ausbildung älterer Herren zu Privatdetektiven. Genauer: Der Text tut so, als würde er, wie eine ganz konventionelle Erzählung, die Geschichte dreier Herren wiedergeben, die aus unerfindlichen Gründen beschlossen haben, sich zu Privatdetektiven ausbilden zu lassen. Und so trifft der Leser denn auch hier wieder auf den Taschendieb. Denn die Geschichte ist keine Geschichte, lediglich die Simulation einer Geschichte. Wie in diesem wunderlichen Buch alles eine Simulation ist. Oder genauer: Das Erzählen wird im Erzählen immer gleich wieder durchleuchtet und jede Fiktion sogleich mit der Nadel der Theorie wie ein bunter Luftballon aufgestochen und als schlechte Erfindung entlarvt.
Doch der Band enthält auch Herzzerreissendes. So die Geschichte von Freund Edmund, der spätnachts auf den Üetliberg fährt und von da nicht mehr zurückkommt, aber an der Reception des ausgebuchten Hotels immerhin ein Notizbuch hinterlässt, das kleinste und dünnste, «das man jemals in Händen gehabt habe».
Geschrieben ist es ganz in Rot, «nicht verbesserbar: die Korrektur als solche». Und es enthält nicht weniger als den Bericht darüber, wie einer sich selbst die Aufgabe stellt, «im Rahmen eines sogenannten Tagesausflugs vom Erdboden zu verschwinden». Die Verwandlung der Existenz in reine Literatur: Was für ein trauriger Triumph, was für ein schöner Taschenspielertrick.
Nein, man versteht nicht alles in diesem Band. Aber vermutlich spielt das keine Rolle. Manches ist Nonsense, verkleidet als verständige Prosa, und was wie Nonsense erscheint, erweist sich als melancholische Luzidität: «Nur wer Sprache sein lässt, hat Sprache.» Aber schon im Augenblick, da der Satz ausgesprochen wird, erweist sich seine brutale Folgerichtigkeit. Für den leidenschaftlichen Autor gibt es kein Leben ausser der Sprache, in der Sprache freilich auch nicht. Sie ist der doppelte Boden, der sich selbst zum Verschwinden bringt. So trägt denn alles, ob gesagt oder ungesagt, das Signum der Vergeblichkeit.
Erstaunt es, dass dieser Autor jüngst auch ein Kinderbuch geschrieben hat? Und dass er auch darin mit der Sprache den Boden unter den Füssen ein wenig ins Wanken bringt? Mag sein, dass die Kinder für die leichten Sinnverschiebungen in den Worten noch ein ganz anderes Sensorium haben. Das Spielerische ist ihnen noch nicht gänzlich wegerzogen worden. Der Erwachsene, ob er nun das Kinderbuch «Die Palmeninsel» liest oder sich vom «Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl» überraschen lässt, tut gut daran, nicht allein den Ernst und nicht allein das Spiel, sondern im einen das andere zu erkennen, um den Zauber dieser seltsamen Prosa ergründen zu können. Selten ist einem der Alltag in Geschichten so vertraut und so fremd zugleich erschienen, so bizarr und banal in einem, so unentwegt tröstlich wie verstörend.
Bruno Steiger ist ein Sprachmagier, poetischer Taschendieb und Wortzauberer in einem. Tausendundeine Geschichte erzählt er in seinem Buch, als wäre er eine Scheherezade des Alltags, unter deren Hand alle Banalität nobilitiert und jeder Schrecken entschärft wird. Das Glück des Verstummens ebenso wie der Rausch des pausenlosen Plauderns kennen Steigers Erzählfiguren: Sie gehen allesamt in die Schule des Scheiterns und freuen sich über jeden missratenen Satz mindestens so sehr wie über sogenannt gelungene Sätze.
Eine «nichtspekulative Poetik des Seufzers» stehe noch aus, heisst es einmal: Sollte es sie geben, dieses Buch käme ihr am nächsten. Vielleicht kann man auch darum in diesen wunderlichen Geschichten, die man so leicht niemandem verständig nacherzählen könnte (noch wollte), die zauberhaftesten Sätze lesen, deren schönster zweifellos dieser ist: «Ein Lieblingsbuch ohne Leser ist immer noch ein Buch, aber ein Leser ohne Lieblingsbuch ist nur noch ein Mensch!» Darüber könnte man allerdings stundenlang nachdenken – oder sich kurzerhand dieses Buch zum Lieblingsbuch auserwählen.
Bruno Steiger: Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl. Roughbook 021, Zürich und Solothurn 2012. 198 S., Fr. 16.– (plus Fr. 1.50 Versandkosten bei Bestellung über www.roughbooks.ch).
(aus: Badische Neueste Nachrichten, 5. September 2012):
Spröde, sehr spröde ist Nora Bossongs Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Zumindest jene Passagen, die sie bei der 29. „Lesung Süd“ im Kulturraum Kohi las. Es klang, als seien sie einem Sachbuch über Wirtschaft oder einer Industriellen-Biografie entnommen. Das ist insofern naheliegend, als dass die aktuelle Peter-Huchel-Preisträgerin einen Roman geschrieben hat über den Aufstieg und Fall eines Familienunternehmens, das mit Frottee-Handtüchern weltumspannende Geschäfte macht. Im Zentrum der Lesung steht Kurt Tietjen, ein inzwischen alt gewordener Unternehmer, der in New York eine letzte Zuflucht nach einem getriebenen Leben sucht. Seine Tochter Luise, 27 Jahre alt, soll seine Firma erben, „Jahresumsatz 38 Millionen Euro, Umsatzentwicklung minus 2,7%“, sprich die Firma „Tietjen und Söhne“ ist auf dem absteigenden Ast. Zwischendurch berichtet Nora Bossong vom Firmengründer am Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch das klingt wie eine nüchterne Reportage aus dem „Handelsblatt“. Entsprechend blass bleiben alle drei Figuren, was allerdings an Bossongs etwas unglücklicher Text-Auswahl gelegen haben mochte, mehr noch, an ihrer kühlen und distanzierten Vortragsweise. Aufschlussreich indessen war die Selbstauskunft der 30-jährigen Autorin, die in Essen, New York und in China gelebt hat und deshalb wie selbstverständlich auch über die drei Handlungsorte schreiben kann. Es sei ihr darum gegangen zu erzählen, wie sich das Verhältnis von Wirtschaft und Moral verändere und gleichzeitig von einer jungen Frau, die einerseits versucht, ihren eigenen Weg zu gehen und dabei Familie und Firma zusammen zu halten. Sogar zur europäischen Schuldenkrise hat die Lyrikerin und Erzählerin etwas zu sagen: Wir seien weltweit eine „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Immer solle der jeweils andere haften, nur nicht die Gruppe, der man gerade selbst angehöre. Die Griechen wollten, dass die Europäer haften, die Deutschen jedoch nicht für die Griechen. Ob das alles so einfach ist? maske
P.S. Besprechungen von Veranstaltungen dürfen bei den BNN nur noch maximal 2000 Zeichen umfassen…
(Scheußlich sind die Tage unter dem Virenmond. Fett ist mir die alte Erkältung in die Glieder gekrabbelt, festgebissen hat sie sich wochenlang. Erika Fuchs würde übersetzen: Hust, hust, schnief, schnief, hatschi.
Sicher schon der siebte oder achte Infekt in diesem Jahr. Es verfolgt mich dieses leichte Fieber, seit meine Mutter mich ausgespuckt hat. Ich erinnere Schnee im grauen Raum hinter meinen glühenden Augenlidern, ein Gekrissel, das sich auf das ICH legte und es eindeckte nächtelang.
Schon wieder war ich zwei Woche in dieser zeitlosen Welt der Krankheit eingewickelt, und in mir schwappte eine Sehnsucht nach Sanostol empor. Nur schade, dass man sich als ausgebildeter Vater nicht einfach hinlegen kann, dass man vielmehr dem Kind schlapp hinterher hetzen muss, denn das Kind ist nur ein Überträger, das Kind wird nie krank, weil das Kind einen gesunden Lebenswandel hat, und nicht raucht, und nicht trinkt).
Hier bin ich also wieder, zwar mit einem Ziehen und Zwacken in den Gliedern, mit einem entfernten, hölderlin-artigen Frühlingsgefühl in den Knochen, aber noch haben sie mich nicht in den Turm gesteckt.
Ich las die letzten Tage wieder – nach Jahren – seine späten Gedichte, die mich schon hingerissen haben, als ich Zwanzig war. Damals wollte ich meinem eigenen Urteil nicht trauen; ich fragte mich: hat das nicht ein Wahnsinniger geschrieben, ein Mann, dem die Synapsen durchgebrannt sind; sollten nicht die früheren, die klassischen Gedichte besser sein, kann man diesen ewigen FrühlingSommerHerbstUndWinter denn lieben?
Jetzt lese ich sie wieder, die letzten Verlautbarungen des guten Scardanelli, und es schlägt mir mitten ins Herz, schlägt gegen den Takt meiner Herzschläge an.
So eine eisige Klarheit, so ein fokussieren auf die unwesentlichen, auf die echten und übersehenen Dinge, das ist es, was diese späten Hölderlin-Gedichte ausmacht. Während der Herr Hölterlein ausgemacht war… von seiner Welt, Umwelt, Umbra Vitae. Er musste nur mal schnell austreten (das Aas treten), musste nur mal schnell neben sich her treten, in die Welt hinein treten, ganz andere Wege gehen. Und kritzelte ab und an auf Papier, so wie es gut hundert Jahre später der Herr van Hoddis tat, dem man die Papiere wegnahm, von dem nichts scardanelli-artiges übrig blieb, weil seine Lehnsherren in den Irrenasylen nichts von dem Gekritzel verstanden. Sie haben es nicht vernichtet, sie haben es einfach nur weggeschmissen, kurz bevor van Hoddis nach der Vorhölle verschifft wurde.
Ich las das auf einem Kindle (mein neues Interface in die Gutenberg-Galaxis), und es war ganz umsonst, dieser Text, diese Poesie. Die ich mir herunter lud für UMME (Hölderlin nimmt die WUMME und lässt dein Gehirn an die Raufasertapete des Turmzimmers spritzen. Spritz, spritz).
Ah, das schönste Spielzeug, ein E-Book-Reader (don´t follow leaders, watch the e-book-readers). Ich bin so glücklich und begeistert am Anfang dieses Umbruchs zu stehen, in einem Zeitalter zu leben, das es mit dem Gutenbergs aufnehmen kann. Ich habe eine Luther-Bibel in den Händen (89 Cent im Kindle-Shop), ich werde dabei gewesen sein, zu dem Zeitpunkt werde ich dabei gewesen sein, an dem die Welt eine andere wurde, als die größte intellektuelle Revolution des 21ten Jahrhunderts begann. Ihr werdet sagen: Voß, haben wir es nicht auch eine Nummer kleiner. Und ich werde sagen: Nein, ihr Ignoranten.
Ich werde auf eure Bücher spucken. Im Licht meines Kindle-Bildschirms.
Jetzt muss ich wieder husten, der Schleim löst sich schwerfällig, die Nacht ist auch erkältet – Sommer, wer bist du, dein Gesicht habe ich lange nicht mehr gesehen. Nenn mich Herbst, mein Junge, ich habe Stoppeln aus gelbem Kraut im Gesicht, meine Füße sind kalt und rau, meine letzte SMS geht an die kalte Schlampe Winter.
Aber es war ein schöner Tag, auch wenn ich Hitzewallungen hatte, hochgedrückt im Körper vom letzen Aufflammen des Fiebers.
Wir saßen am Wahnsee, wir waren auf einem Fest. Meine Frau hustete wie Franz Kafka im Frühjahr 1924. Aber das Kind, der Überträger, das war glücklich. Es lief mit den anderen Kindern unter Kastanien und Eichen zum Ufer. Von der Terrasse aus beobachtete ich ihn, schaute zu ihm hin, sah den kleinen, blonden Jungen, wie er von den größeren Kindern getragen und herum gewirbelt wurde, sah, wie er lachte und glücklich war.
Das Kind stand an einem alten Baum und zählte bis Zwanzig. Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein. Ich komme!
Und die Nacht senkte sich ganz langsam, und der See glitzerte ein letztes Mal, und die Kinder sprangen in die Dämmerung.
Und ich musste an Kafkas Buch „Betrachtung“ denken, und dass diese erste Miniatur dort das atemlose, sommerwarme Gefühl von elternlosen Kindern besser beschreibt, als ich es je könnte. Das Gefühl von Sand unter den Füßen, den Eindruck, den die Schattenrisse vor dem letzten Licht machen. Am See schwanken die Segelboote auf der dunklen Fläche, und die Takelagen machen dieses Geräusch, für das es noch kein Wort gibt. Die Eltern sind weit entfernt, man hört sie kaum, nur ein verwehtes Lachen und Tuscheln. Hey, dort ist ein Zaun, und in dem Zaun ist ein Loch. Ob es dahinter wohl in eine andere Welt geht?
Ich sah mein Kind, und ich sah, dass es glücklich war, und deswegen war ich glücklich.
Ich stand auf der Terrasse und aß Roastbeef, und dort drüben, gleich hinter dem nächsten Yachtclub, da hatte Kleist ein Verhältnis mit einer Pistole gehabt, und ein Stück weiter, im kalten, kalten Winter hatte Heym nicht aufgepasst.
Aber mein Kind leuchtete mit seinen blonden Haaren in die Nacht hinein. Und war ein Leichtturm des Lebens.
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Karl Friedrich Schinkel „Der Morgen“ |
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