Schlagwort-Archive: Prosa

„Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft“ (Essay)

Ist Witold Gombrowicz’ Tagebuch so etwas wie die Urform des literarischen Weblogs? Diese Frage stelle ich mir, seitdem ich angefangen habe, die gesammelten Tagebucheinträge zu lesen. An einer Stelle schreibt er: „Ich schreibe dieses Tagebuch nicht gern. Seine unredliche Aufrichtigkeit quält mich. Für wen schreibe ich? Wenn für mich, weshalb wird das gedruckt? Und wenn für den Leser, weshalb tue ich so, als spräche ich mit mir selbst? Sprichst du so zu dir, daß es die anderen hören?“ (S.59. Alle Zitate aus: Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. Fischer Taschenbuch 2004 bzw. Carl Hanser Verlag 1988) Wer ist dieser Herr Witold, dieser Gombrowicz? (Ich möchte, übrigens, um Nachsicht bitten dafür, daß ich mich mal wieder nicht mit der aktuellen Literaturproduktion beschäftige; ich weiß, da heißt es wieder, der Schlinkert mit seiner seltsamen Neigung zu Gutabgehangenem, zu all diesem alten Zeugs … doch wer mich kennt, der weiß, daß ich mich ausschließlich mit aktuellem Gedankengut beschäftige, ob es nun diese Sekunde veröffentlicht wird oder von Hesiod stammt.) Also: Gombrowicz, Witold, polnischer Schriftsteller, großer Erfolg in Polen 1938 mit seinem ersten Roman ‚Ferdydurke’, einem wunderbar absurd-komischen Roman mit hintergründigem Ernst, der imgrunde auch einen Diskussionsbeitrag zu der Frage darstellt, wie es um den Diskurs zwischen den altständigen und den modernen Polen bestellt ist. Im Jahr 1939 wird Gombrowicz in Buenos Aires vom Ausbruch des Weltkrieges überrascht und bleibt bis 1963 in Argentinien. Dort kleiner Bankangesteller zwecks Lebensunterhaltssicherung, ist er aber vor allem Schriftsteller und – quasi öffentlicher – Tagebuchschreiber, denn von 1953 bis 1969 werden seine jeweils nur mit dem Wochentag datierten Eintragungen in der in Paris erscheinenden polnischen Exil-Zeitschrift Kultura veröffentlicht. (Siehe dazu: Editorische Notiz. a.a.O. S.993.) Es ist also zunächst eine nur kleine Öffentlichkeit, bis dann 1957, 1962 und 1967 polnische Buchausgaben erscheinen.

Was nun macht Witold Gombrowicz so aktuell? Im Klappentext der Taschenbuchausgabe heißt es, Gombrowicz’ Überlegungen zu Themen wie Marxismus, Katholizismus oder Homosexualität seien unerwartet und wiesen auf verblüffende Zusammenhänge, sie seien aufschlußreiche Pamphlete gegen jedwede Lüge und Ideologie – so weit, so gut. Was mich nun unter anderem besonders interessiert sind aber die Fragen, die ich mir als „literarischer Blogger“ stelle (was für ein ekliger Begriff dieses „Blogger“ doch eigentlich ist, fast kommt es einem hoch!), denn wenn das literarische Weblog Literatur ist, die sich vermittels neuer technischer Möglichkeiten direkt und unvermittelt aktuell an Leser:innen wendet, dann scheinen mir diese Tagebuchbeiträge, zumindest in ihrer so schnell als möglich gedruckten Form, als eine Ur- oder Vorform des literarischen Weblogs. Der Vergleich mit Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel. Anderswelt drängt sich dabei geradezu auf, und das nicht nur, weil Die Dschungel ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag darstellt zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur (möge die Literaturgöttin dafür Sorge tragen, diese Beiträge der Nach-Welt zu erhalten!), sondern vor allem, weil beide Schriftsteller eine kompromißlose Haltung zu allem was Literatur ist und sein kann offen (aus)leben, weil beide sich mit einer hohen Risikobereitschaft an ein oder ihr Publikum wenden, ohne Liebedienerei und falsche Bescheidenheit. Deckungsgleich sind die Ansätze deswegen natürlich nicht, schon allein dadurch bedingt, daß ein Alban Nikolai Herbst dem tagebuchartigen Eintrag meist unmittelbar Weiteres folgen läßt, nämlich als direkte Reaktion auf Leser:innen-Kommentare. Diese Unmittelbarkeit ist sicher das eigentlich Neue und erweitert das Genre des Tagebuchartigen.

Vor- oder Urform also des literarischen Weblogs der Haltung zum Schreiben, zum Künstlersein wegen und vor allem auch aufgrund der so gelebten und gestalteten Beziehung zu den Leser:innen!? Doch birgt diese Art, sich an ein Publikum zu wenden, naturgemäß auch allerlei Gefahr in sich – die nämlich, sich trotz aller Offenheit selbst in die Tasche zu lügen. Gombrowicz schreibt: „Die Falschheit, die schon in der Anlage meines Tagebuchs steckt, macht mich befangen, und ich entschuldige mich, ach, Verzeihung … (aber vielleicht sind die letzten Worte überflüssig, sind sie schon affektiert?)“ (S.60.) Dies schrieb er 1953, und man sollte bedenken, daß er als Exilant in einer dauerhaft mißlichen Lage war, schon allein deshalb, weil er sich seine Leser unter seinen (fernen) Landsleuten zu suchen hatte und sein Heimatland zugleich noch unter der Knute des Stalinismus wußte  – wenngleich, auch das scheint mir bedenkenswert, er immerhin als Fremder in einem Land auch durchaus kleine Freiheiten hatte, die ein einheimischer Künstler, der sich als Künstler im eigenen Land fremd fühlt, was nicht selten der Fall ist, niemals haben kann. Was aber trieb nun unseren Autor zu dieser öffentlichen Form des Schreibens, zum reflektierend-nachdenklich-erzählenden Tagebuch? Das zuletzt Zitierte weiterführend schreibt Gombrowicz: „Dennoch ist mir klar, daß man auf allen Ebenen des Schreibens man selber sein muß, d.h. ich muß mich nicht nur in einem Gedicht oder Drama ausdrücken können, sondern auch in gewöhnlicher Prosa – in einem Artikel, oder im Tagebuch – und der Höhenflug der Kunst muß seine Entsprechung in der Sphäre des gewöhnlichen Lebens finden, so wie der Schatten des Kondors sich über die Erde breitet. Mehr noch, dieser Übergang aus einem in fernste, fast untergründige Tiefe entrückten Gebiet in die Alltagswelt ist für mich eine Angelegenheit von ungeheurer Bedeutung. Ich will ein Ballon sein, aber an der Leine, eine Antenne, aber geerdet, ich will fähig sein, mich in die gewöhnliche Sprache zu übersetzen.“ (S.60.)

Vereinfacht gesagt ringt Gombrowicz in seinem Schreiben insgesamt darum, als Künstler Mensch und als Mensch Künstler zu sein – daß dies nicht im Verborgenen und nicht in aller Bescheidenheit vor sich gehen kann, liegt in der Natur der Sache. Anmaßung ist hier das Stichwort, und wer Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel in den Jahren aufmerksam verfolgte, der weiß, wie oft Kommentatoren Herbst angriffen wegen seiner vermeintlichen Eitelkeit, seiner vermeintlichen Großtuerei. Auch Gombrowicz muß diesem kleingeistigen, imgrunde unterwürfigen Denken ausgesetzt gewesen sein, denn er bezieht klar Stellung zur Seinsweise des Künstlers (und weist zugleich seinem Tagebuchschreiben, indem er es nicht für sich behält, den Sinn und Platz innerhalb seines Gesamtwerkes zu). Er schreibt: „Ich weiß und habe es wiederholt gesagt, daß jeder Künstler anmaßend sein muß (weil er sich einen Denkmalssockel anmaßt), daß aber das Verhehlen dieser Anmaßung ein Stilfehler ist, Beweis für eine schlechte »innere Lösung«. Offenheit. Mit offenen Karten muß man spielen. Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft.“ (S.61.) Dschungel-Leser wissen, daß Alban Nikolai Herbst dieselbe Überzeugung lebt, die er in seinem Weblog den Lesern folgerichtig nicht vorenthält. An einer Stelle schreibt Herbst: „Künstler jedenfalls, wenn sie das sind und also etwas zu sagen haben, kämpfen mit offenem Visier. Ausnahmslos. Schon, um ihre ästhetische Position zu bestärken, was wiederum ihr Werk stärkt und durchsetzt.“ (Interessant hier die doppelte Bedeutung von Durchsetzen: einmal im Sinne von Durchdringen, das andere Mal im Sinne von Erfolg auf dem Literaturmarkt.)

Das zugleich intime und zur Einsichtnahme gedachte Tagebuch ist ja bekanntermaßen keine Erfindung unserer Tage, das sei noch kurz angemerkt, sondern ist hierzulande seit gut dreihundert Jahren Bestandteil der literarischen Welt. Oft wurden Tagebücher zu Memoiren, eigenen Lebensbeschreibungen bzw. Autobiographien oder auch Romanen verarbeitet, man denke nur an die Memoiren der Glückel von Hameln (Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, veröffentlicht 1910), Ulrich Bräker, Salomon Maimon, Adam Bernd, Heinrich Pestalozzi, Johann Heinrich Jung-Stilling, Karl Philipp Moritz und viele andere, wobei die gezeigte Offenheit oftmals einen stark aufklärerischen Impetus hat (Adam Bernd, Pestalozzi, Jung-Stilling), durchaus aber auch schon den Protagonisten zugleich als Künstler heraushebt (Bräker, Moritz), der als solcher das eigene Leben schreibend auf eine Art offenbart, die auf eben diese künstlerische Art hinaus in die Welt muß. Die Möglichkeit, als Schriftsteller Tagebucheinträge (so wie Gombrowicz) fast unmittelbar in einer Zeitschrift, beziehungsweise sie heutigentags tatsächlich unmittelbar auf einer eigenen Website unter Klarnamen zu veröffentlichen, ist somit nichts weiter als eine Erweiterung der Möglichkeit, in aller Offenheit und auf zugleich höchstem Niveau als Künstler zu sein und zu wirken und (s)ein Werk zu schaffen.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-03-24

Kurztitel & Kontexte bis 2013-03-17

Kurztitel & Kontexte bis 2013-03-10

Inhalt 04/2012

Die Lesezeichen-Ausgabe 04/2012 erschien am 14. Januar 2012.


In dieser Ausgabe:
Geheimschriften der Väter, Vergangenes und die Möglichkeiten der Leere, Städte und ihre Ambulanzen, Wetter in Tüten, aufzupäppelnde Tage, authentische Baden-Badener Klischeebilder, John Maynard und ein Kobboi, drei Propheten und die Relativität der Zeit, warme Betten und Pferdewetten, Michael Hamburger und die Manson-Clique, Blindschleichen und Bukowski, Proposition Joe abseits der grossen Strassen, Abschreibsysteme und abrupte Montagen, Pelze und Lorgnetten uvm.

INHALT:

LITERATUR ALS RADIOKUNST | Elisabeth Wandeler-Deck im ORF- Studio | Produktionsnotizen

||| SPRACHE KONKRET | BEHARRLICHE ANLAGE | KLANG- RAUM | HÖR- ZEIT | RELATED

EWD studio 01

SPRACHE KONKRET

Sprache ist kein Ding , man kann sie nicht anfassen. Sprache lässt sich nicht in Portionen teilen . Sie ist schliesslich kein Konto , von dem wir abheben oder Zinsen kassieren können . Sprache ist ein abstraktes System , das die Regeln der Wort- und Satzbildung , der Flektion oder der Subjekt-Position organisiert und in Bahnungen leitet . Sichtbar , hörbar , erfahrbar wird Sprache erst in der konkreten Äusserung : bei Rede und Gegenrede , Sagen und Sprechen , Schreiben und Lesen .

Die französischen Strukturalisten haben dies schlüssig gefasst , indem sie das abstrakte System als “langue” bezeichneten und die verbale Konkretion als “parole” . Sprache ist indes nie ein neutrales Material , da ihre Komponenten – Wörter , Sätze und andere Fügungen – mit Bedeutungen aufgeladen sind . Bedeutungen mithin , welche immer auch Deutungen der Phänomene enthalten . Grosse Konfigurationen solcher Deutungen nennt man dann “Diskurse” .

Für die Schweizer Autorin und Musikerin Elisabeth Wandeler-Deck ist Sprache Material, das sie in jedem ihrer Werke nach poetischen und konzeptuellen Prämissen formt und konfiguriert . Dabei werden Bedeutungen kanalisiert , welche – oft in abrupter Montage – nicht den gängigen Modellen von Welterzählung , Welterklärung , Weltverklärung folgen . Genres wie Prosa , Essay und Lyrik sind für Wandeler-Deck Matritzen, welche Weisen der Weltwahrnehmung konfigurieren . Die Autorin bedient sich dieser “Formate” , um in verschiedenen Perspektiven das anzuvisieren , was sie eigentlich interessiert : Form und Formung von Sprache .

Als seit Jahrzehnten erfahrene Musikerin, Autorin und Sprechkünstlerin ist Wandeler-Deck eine reflektierte Performerin zwischem strengen Konzeptwerk und szenisch-musikalischer Improvisation. Viel von diesem Erfahrungswissen zur konkreten Fügung und deren Artikulation ist in ihr Werk für die Reihe “Literatur als Radiokunst” eingeflossen: einem 2012 publizierten Gedicht folgend lautet der Titel “Beharrlicher Anfang – doch doch sie singt”.

|||

EWD partitur schema diverse

BEHARRLICHE ANLAGE

In ihrem flächig angelegten Sprechstück sieht Elisabeth Wandeler-Deck zehn Spuren und Stimmen vor, welche in einem teils vorher geplanten, teils in der Situation improvsierten , teils zufälligen Schlüssel mit- manchmal auch gegeneinander klingen. Die Einzelstimmen bzw. “Textstränge” dieses polyphonen Ensembles sind aus unterschiedlichen Materialien gefügt : Sätze und Verse aus eigenen Werken , Kontextsätze , Satzcluster zu speziellen Verben , musikalisch getaktete Wortgruppen , welche in Loops als Wiederholungen wiederkehren .

Um diese Quelltexte als Textstränge , welche poyphon verflochten werden sollen , zur Verfügung zu haben , müssen diese natürlich zunächst einzeln eingesprochen und aufgenommen werden , wobei die Sprecherin ihre Stimme in verschiedensten “Spielweisen” ausprobiert . Zusammen mit Tonmeister Martin Leitner werden Varianten von Lautstärken und Tempi , Tonhöhen und Stimm- Intensitäten ausprobiert , als Spuren angelegt und mittels der Studiotechnik hier verdichtet , dort in distinkten Klangräumen situiert .

So wird etwa das Verb “ich bediene mich” konjugiert und im Flüsterton gesprochen , womit diese für die Poetologie des Stückes eminent bedeutende Formulierung eine suggestive Dichte erhält : als poetologisches Wasserzeichen prägt sich dieser Begriff dem ganzen Stück ein . Unüberhörbar erinnert dieses “ich bediene mich” in flektierter Wiederkehr daran , dass wir beim Sprechen und Schreiben bewusst oder unbewusst Sätze und Worte , Texte und Kontexte zitieren . Und genau die dadurch bedingten Interferenzen sind es ja , auf die Elisabeth Wandeler-Decks Stimm- Komposition abzielt .

|||

EWD Mikrophonierung

KLANG- RAUM | HÖR- ZEIT

Mittels verschiedener Valenzen von Hall , Lautstärken und Situierung der Stimme im 5. 1. Surround- Spektrum , werden extensive Räume modelliert . Diesen Räumen , in welchen sich die Stimme quasi “nach aussen” in ihrem Klang entfaltet stehen gleichsam “innere” Klanglichkeiten gegenüber . Indem Elisabeth Wandeler- Deck nicht nur Sätze und Worte als Material für das Sprechstück heranzieht , sondern mittels klangvoller Silben und Vokale das reine Lautmaterial gleichsam herauszoomt , bindet sie diese Stimmklänge unterhalb der Wortgrenze an den sprechenden Körper zurück . Wir hören menschliches Lauten quasi in Nahaufnahme , womit die intensiven Räume der Körperklänge ( Barthes’ “Körnung der Stimme” ) den extensiven Räumen der Stimmentfaltung gegenüberstehen .

Der Erfahrung von Räumlichkeit ist das Bewusstsein für Zeit eingeschrieben : Wir erkunden Räume u. a. mittels der Zeit , welche nötig ist , diese Räume zu durchqueren . Dieses Prinzip der “Echtzeit” gilt ganz besonders für die Rezeption eines Klangwerks : während wir Lektüren durch Überfliegen und Querlesen gleichsam “beschleunigen” können , fordert uns das Hörwerk dazu auf , die Entfaltung von Klängen in ihrer zeitlichen Sukzession mitzuvollziehen . Darin sind die lautlichen Gleichzeitigkeiten der miteinander “verschlauften” Einzelstimmen eingeschlossen . Die ästhetische Konfiguration ereignet sich damit zugleich in horizontal zeitlicher Folge sowie in gleichzeitig vertikaler polyphoner Verdichtung :

In dieser und in allen meinen Arbeiten kreuzen sich architektonisches Denken mit Haltungen des “instant composing” der frei improvisierten Musik, konzeptuelles Vorgehensweisen mit Momenten des Wilden. Dies gilt sowohl für die Textarbeit wie für die Klangentwicklung.

|||

Kurztitel & Kontexte bis 2012-11-11

Kurztitel & Kontexte bis 2012-10-21

Inhalt 03/2012

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2012 erschien am 15. Oktober 2012.


In dieser Ausgabe:
Zedernlounges und Flughäfen, Kirschholz und Kiefer, mit Worten gefüttertes Flüstern, blaue Förmchen, Friedrich Hebbel, Heimatorte und Orte gegen die Welt, Schweiß und Mantras, Glaskolben und Lichtbeeren, Paris (1961), Hündchen und Gemmen, Hölderlins Wumme und Brute-Force-Attacken, Bartholomäus Bartholomej und der Vollmond, Sedrun und der Tomasee, der Aufbau des “so sorry billboard”, Daniel Gerards „Butterfly“, die goldene Schnalle des Baumwollgürtels, das Messer des Chirurgen, Dinge des Himmels, Frottee-Handtücher und Schuldenkrisen, poetische Taschendiebe und Wortzauberer, maßloser Geschlechtsverkehr uvm.

INHALT:

Vorletzte Gedanken Bruno Steigers wundersamer Prosaband «Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl»

Roman Bucheli bespricht Bruno Steigers Buch auf der Zürcher Kulturseite der NZZ:

Man müsste vielleicht das Temperament eines Taschendiebs haben, um dieser Prosa immer und an jeder Stelle angemessen folgen zu können: unentwegt auf alles Unerwartete vorbereitet sein, stets mit den Augen in alle Richtungen schauen, einen Riecher haben für den übernächsten Schritt. Und man käme doch immer zu spät. Denn der Erzähler in Bruno Steigers neuem Prosaband, «Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl», ist wie der sprichwörtliche Igel. Er ist immer schon da, wohin man gerade erst unterwegs war. Man kommt immer einen Schritt zu spät. Kaum hat man einer Erzählung folgen zu können geglaubt, erweist sie sich bereits wieder als hinfällig, und kopfüber stürzt man ins nächste erzählerische Abenteuer.

Simulationen

«Wer nie mit einem Taschendieb befreundet war, hat keine Ahnung, was wahre Freundschaft bedeutet.» Man könnte, was Bruno Steiger im abschliessenden Kapitel unter der Überschrift «Letzte Notizen» gleichsam als voreiliges Vermächtnis mit grandiosem Witz aufzeichnet, auch als Anweisung an die Leser verstehen. Bruno Steiger lesen ist so etwas wie die Vorschule für die Freundschaft mit einem Taschendieb.

Eine andere Vorschule, die dieser ebenso merkwürdige wie grandios komische Prosaband enthält, ist Robert Walsers «Gehülfen» nachempfunden und schildert die Ausbildung älterer Herren zu Privatdetektiven. Genauer: Der Text tut so, als würde er, wie eine ganz konventionelle Erzählung, die Geschichte dreier Herren wiedergeben, die aus unerfindlichen Gründen beschlossen haben, sich zu Privatdetektiven ausbilden zu lassen. Und so trifft der Leser denn auch hier wieder auf den Taschendieb. Denn die Geschichte ist keine Geschichte, lediglich die Simulation einer Geschichte. Wie in diesem wunderlichen Buch alles eine Simulation ist. Oder genauer: Das Erzählen wird im Erzählen immer gleich wieder durchleuchtet und jede Fiktion sogleich mit der Nadel der Theorie wie ein bunter Luftballon aufgestochen und als schlechte Erfindung entlarvt.

Doch der Band enthält auch Herzzerreissendes. So die Geschichte von Freund Edmund, der spätnachts auf den Üetliberg fährt und von da nicht mehr zurückkommt, aber an der Reception des ausgebuchten Hotels immerhin ein Notizbuch hinterlässt, das kleinste und dünnste, «das man jemals in Händen gehabt habe».

Geschrieben ist es ganz in Rot, «nicht verbesserbar: die Korrektur als solche». Und es enthält nicht weniger als den Bericht darüber, wie einer sich selbst die Aufgabe stellt, «im Rahmen eines sogenannten Tagesausflugs vom Erdboden zu verschwinden». Die Verwandlung der Existenz in reine Literatur: Was für ein trauriger Triumph, was für ein schöner Taschenspielertrick.

Doppelter Boden der Poesie

Nein, man versteht nicht alles in diesem Band. Aber vermutlich spielt das keine Rolle. Manches ist Nonsense, verkleidet als verständige Prosa, und was wie Nonsense erscheint, erweist sich als melancholische Luzidität: «Nur wer Sprache sein lässt, hat Sprache.» Aber schon im Augenblick, da der Satz ausgesprochen wird, erweist sich seine brutale Folgerichtigkeit. Für den leidenschaftlichen Autor gibt es kein Leben ausser der Sprache, in der Sprache freilich auch nicht. Sie ist der doppelte Boden, der sich selbst zum Verschwinden bringt. So trägt denn alles, ob gesagt oder ungesagt, das Signum der Vergeblichkeit.

Erstaunt es, dass dieser Autor jüngst auch ein Kinderbuch geschrieben hat? Und dass er auch darin mit der Sprache den Boden unter den Füssen ein wenig ins Wanken bringt? Mag sein, dass die Kinder für die leichten Sinnverschiebungen in den Worten noch ein ganz anderes Sensorium haben. Das Spielerische ist ihnen noch nicht gänzlich wegerzogen worden. Der Erwachsene, ob er nun das Kinderbuch «Die Palmeninsel» liest oder sich vom «Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl» überraschen lässt, tut gut daran, nicht allein den Ernst und nicht allein das Spiel, sondern im einen das andere zu erkennen, um den Zauber dieser seltsamen Prosa ergründen zu können. Selten ist einem der Alltag in Geschichten so vertraut und so fremd zugleich erschienen, so bizarr und banal in einem, so unentwegt tröstlich wie verstörend.

Glück und Rausch

Bruno Steiger ist ein Sprachmagier, poetischer Taschendieb und Wortzauberer in einem. Tausendundeine Geschichte erzählt er in seinem Buch, als wäre er eine Scheherezade des Alltags, unter deren Hand alle Banalität nobilitiert und jeder Schrecken entschärft wird. Das Glück des Verstummens ebenso wie der Rausch des pausenlosen Plauderns kennen Steigers Erzählfiguren: Sie gehen allesamt in die Schule des Scheiterns und freuen sich über jeden missratenen Satz mindestens so sehr wie über sogenannt gelungene Sätze.

Eine «nichtspekulative Poetik des Seufzers» stehe noch aus, heisst es einmal: Sollte es sie geben, dieses Buch käme ihr am nächsten. Vielleicht kann man auch darum in diesen wunderlichen Geschichten, die man so leicht niemandem verständig nacherzählen könnte (noch wollte), die zauberhaftesten Sätze lesen, deren schönster zweifellos dieser ist: «Ein Lieblingsbuch ohne Leser ist immer noch ein Buch, aber ein Leser ohne Lieblingsbuch ist nur noch ein Mensch!» Darüber könnte man allerdings stundenlang nachdenken – oder sich kurzerhand dieses Buch zum Lieblingsbuch auserwählen.

Bruno Steiger: Der Trick mit dem Sprung aus dem Stuhl. Roughbook 021, Zürich und Solothurn 2012. 198 S., Fr. 16.– (plus Fr. 1.50 Versandkosten bei Bestellung über www.roughbooks.ch).