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Inhalt 04/2008

Die Lesezeichen-Ausgabe 04/2008 erschien am 15. Januar 2009.

In dieser Ausgabe:


Melissen und Tröpfe, Syvia Plath in New York, Walter Helmut Fritz, Hornhäute und Beulen, Malte und Wencke, Menschenfresser und Rückspiegelengel, das Knistern der Blätter, feuchte Holzfeuer, die traurigste Geschichte in der Historie eines Genres, das Endliche und das Unendliche, die Liebe der Matrosen, Apollinaire und die Schnipsel, Pelze und Blumen uvm.

INHALT:

kühle träume … (u.a.)

1 kühle träume

unterm hemd
von dicken fellen
die entweder
golden oder
davon schwimmen

die pelzigen
zungenschläge
unter die haut

gehenbleiben

2 wie ein gedicht …

wie ein gedicht
zu machen sei
frage die durch-
gehenden pferde
die du durch-
gehen ließest
ohne die möglich-
keit ihnen nach-
zugaloppieren
rufest du aber
kommt vielleicht
eines zurück
dich zu berappen

3 einerlei …

im einerlei
dann verklangen
unter scherzen
die vom bangen

dich in derlei
not befangen
nicht entbanden
aber sangen

wie im wunderschönen monat mai

4 der reim der monochrome …

der reim der monochrome
ihn sich bestell’n
je nach dem idiome
doch ellenweise: kölnder wildnis
widerhallt
dein bildnis :
dich überstrahlt

ein wenglein
dein ah! au!
das zwänglein
macht radau

Es schweben Blumen und Englein

5 dein fragen …

dein fragen
das mich schilt
meiner fragen
umkehrbild

ein stündchen
das sich flicht
(sekündchen
zähl’n da nicht)

verliere
ich, wird’s teur:
der „ihre“
und fürs feur

entzücke
mich! verzicht
aufs glücke
will ich nicht

Aber dich und deine Tücke

Text 3-5 = lyrisches Intermezzo I, XI, XVI (nach vorgeschriebenen Endreimen)

Kaffeesatz ODER Benses Irrtum.

Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (105).

Es ist doch nicht die Technik-selbst, das Technologische, aus was die neue Poesie entsteht, nicht, daß wir die Steuerbefehle beherrschen und über sie die Verfügung ans Maschinelle abtreten – was der Fall wäre, ließen wir das Maschinelle „eigene“ Entscheidungen treffen, sei es auch nur als Würfelwurf. Auf die Poetik einer Dichtung hat das so viel Einfluß wie die Mechanik einer Schreibmaschine, der wir ganz sicher und zu recht das Recht** bestreiten, Inspirationen zu haben und sie überdies künstlerisch ordnen zu können. Wohl aber hat die Mechanik einer Schreibmaschine Einfluß auf die Wahrnehmung eines Textes, während er entsteht; die maschinengeschriebenen Sätze erscheinen dem Autor anders, im Wortsinn: sie sehen anders aus, als wären sie mit der Hand geschrieben; eine Spur von Endgültigkeit haftet bereits an ihnen, während sie noch entstehen. Dies perfektioniert der Computerausdruck, ja schon das Schriftbild auf dem Bildschirm: der entstehende Text wird näher an sich als einen bereits erschienenen gerückt, als das jemals zuvor der Fall war. Daher ist der Einfluß des Technologischen auf die Dichtung einer des Scheines, Anscheines. Der aber ist, indem er wirkt. Der „Zufalls“generator generiert keine Gedichte.
Es stimmt auch schon mit dem Zufall nicht. Denn die Wörter und Lettern werden weder willkürlich geordnet n o c h in Sinnzusammenhängen, sondern auch das sieht nur so aus: tatsächlich werden sie nach formal determinierten Abläufen geordnet, deren Folge allein deshalb zufällig wirkt, weil uns die „handelnden“ Steuerbefehle, nach denen der Computer vorgeblich dichtet, schon ihrer Anzahl nach unüberschaubar sind. So haben wir den Eindruck von Zufall, ohne daß dieser überhaupt da wäre. Bei „Zufall“ ist ohnedies zu fragen, ob er nicht stets nichts anderes als der Ausdruck einer Schönung unserer Wahrnehmungsblindheiten ist. Etwas sei zufällig geschehen, sagt nur, daß wir die Gründe eines Geschehens nicht kennen, bzw., sogar: sie prinzipiell nicht erfassen können.
Das computergenerierte Gedicht ist insofern auch sinnlos, wenn es zufällig eine sinnvolle Reihe ergibt. Wir interpretieren den Sinn h i n e i n, nicht ist er schon da.

[Apollinaire schnitt Wörter aus Zeitungen aus, warf die Schnipsel hoch, und waren sie heruntergeregnet, arrangierte er sie zu Gedichten. Nun aber zu meinen, es seien Gedichte-per-se schon gewesen, bedeutete, aus einem Runenwurf die Zukunft abzulesen. Die „Gedichte“ werden vielmehr zu Konstrukten der Leser, s i e schaffen das Gedicht. Der Autor macht sich zur Maschine, wobei sein Maschinelles dann nicht etwa in der Kombinatorik besteht, sondern im „zufälligen“ Zusammenspiel seiner Muskelbewegungen (Wortschnipsel in die Hand nehmen, sie von der Hand hochwerfen lassen, wobei sich die Hand öffnet usw.) mit den Umständen von Ort und Zeit (geht ein Lüftchen, steht ein Fenster offen, wie warm ist es: Bestimmungen, die den Fall der Zeitungsschnipsel bestimmen).
Computergedichte sind ein Kaffeesatz, aus dem man sie herausliest.]

[**): zu recht das Recht. Ecco! ]

Einsamer Geiger | Textes Trouvés 10

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GESUCHT UND – ?

Monatelang hing diese Suchanzeige an der Pinwand jenes Copyshops . Eines kleinen Ladens an der Ecke , wo überraschend viele Menschen beim Vervielfältigen von Partituren zu beobachten sind . Nicht- Musiker neigen zu einem gewissen Befremden , werden sie jener Zeitgenossen ansichtig , die scheinbar flüssig in diesen Hieroglyphen lesen . Jener ältere Herr in der Bibliothek . Diese Studentin in der U- Bahn : Vertieft in etwas , was nach aussen den Anschein eines der gelben Reclam- Heftchen trägt , das sich beim neugierigen Check- Blick über die Schulter als musikalische Studienausgabe darstellt . Die Scham , solcherart illiterat zu sein .

Monatelang hing diese Suchanzeige unberührt und um keinen Millimeter verrückt an der Pinwand des Copyshps . Und eines Tages war sie verschwunden . Nun gut , sinnierte man beim Einwerfen der Münzen in den Kaffeeautomaten , nun hat der einsame Musiker Anschluss gefunden . Schrammeln lässt sich’s nun mal nicht solo in der kargen Kammer . Wie schön für den Mann , dass er seinem Musenwunsch nun in Gemeinschaft fröhnen kann .

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SUCHE NACH ANSCHLUSS , REDUX

Hobbygeiger_sucht_Schrammelquartett_Geiger_copyright_Christiane_Zintzen

Die Zeit ging hin und man vergass die Vorstellung vom erst verhinderten , inzwischen womöglich aus künstlerischen Ausübungsnöten erlösten Fiedler . Hielt ihn wohl für fidel . Bis dann , eines tristen Tages kaum ein halbes Jahr später , der Suchruf wieder erschien . Die hilflosen Schriftzüge waren dieselben , ebenso der Appell . Es handelte sich augenscheinlich um genau jenes hoffnungsvolle Dokument , welches zuvor Gegenstand mancher Betrachtung war .

Was war geschehen ? – Suche und Fund , kurzer Jubel und finaler Krach ? – Jedenfalls die traurigste Geschichte in der Historie eines Genres , welches in Ausübung und Auftritt Synonym ist für das , was man einmal “fröhliches Beisammensein” nannte .

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RELATED

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KLANGAPPARAT

Mehr Glück hinsichtlich des gemeinsamen Musizierens hatten Liesl Ujvary und Oliver Stummer ( aka tomoroh hidari ) bei ihrer Praxis mit Elektronik und der “zauberhaften Klangmaschine” , dem Trautonium . Hier bitte kurz zurückblättern auf den entsprechenden Hinweis . Dass das Experimentieren am und mit dem Instrument für seltsame Soundeffekte ( Filmmusik ) keine czz-hoerempfehlungfröhliche Stubenmusik zeitigen würde , war zu erwarten . Kaum erwartbar indes der Charakter und die Textur des Klangmaterials . Nun ist “trautonium jetztzeit 2008” via MP3 zugänglich .

Nehmen Sie sich Zeit . Und vergessen Sie , was ihnen sonst so als “Musik” ins Hirn rieselt . Lassen Sie sich ein auf Klangfarben , Pastositäten , Verläufe . Hören Sie mehrmals und hören Sie hin . Und es werden Ihnen die ästhetischen und psychoakustischen Reize dieser Sounds nicht verschlossen bleiben . 01. trautonium jetztzeit 1 ( 31:45 –
Liesl Ujvary
) | 02. trautonium jetztzeit 2 ( 4:06 – Oliver Stummer ) | 03. trautonium jetztzeit 3 ( 3:42 – Oliver Stummer ) | 04. trautonium jetztzeit 4 ( 3:35 – Oliver Stummer ) | 05. trautonium jetztzeit 5 ( 8:14 – Oliver Stummer ) | CLICK LINKS TO LISTEN ( WMP ) .

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Ich brate einen Fisch

An einem Bach mottet ein kleines Feuer aus feuchtem Holz. Auf drei Seiten ist die Lichtung von Felsen eingeschlossen, der Bach verschwindet in einem endlosornamentalen Wald, Wald auch auf den Klippen. Nirgendwo kann man den Himmel sehen ausser hier, nirgendwo hört etwas auf. Wenn ich mich allein aufmache, werde ich mich selbst nie wieder finden. Ich habe mir ein Notbiwak aus Zweigen und Blättern gebaut. Trotz des Wasserfalls höre ich jedes noch so leise Knacken im Gehölz, denn ich warte auf zwei, die mich suchen: voller Hoffnung auf den Freund, voller Furcht auf den Verfolger. Ich habe hier etwas Wichtiges erledigen müssen, ich weiss nicht mehr was und auch nicht, wie ich hierhergekommen und wie lang ich schon hier bin, es gibt ja Wasser und Fisch und Pilz genug. Der Freund kennt sich hier aus und wird mich aus dem Wald führen, aber er hat sich verspätet. Auch der Verfolger scheint aufgehalten worden zu sein. Die Szene plagt mich von Tag zu Tag ärger, weil ich nämlich vergessen habe, wo und wann das geschah, im Wach, im Traum, in einem Buch, in einer endogenen Prophezeiung oder damals, als ich kurz tot war, obwohl ich mich nur an die Stille Schwarz erinnern kann. Zwar bin ich guter Dinge. Der Freund wandelt Gestalt andauernd und wird immer mehr der, den ich mir zum Geleit wünsche mit Kopfkissen und allem. Der Verfolger wächst gemeinsam mit mir; gierige Erregung, Adrenalin unter dem Zungenrand. Aber ich brauche Zugang, ich muss wissen, woher das kommt, wohin das führt. Ich kann doch nicht alle Bücher wiederlesen, die ich je las und alles Leben wiederleben, das ich je lebte und alle gebratenen Fische wiederträumen, die ich je träumte! Gschweige denn alles lesen leben träumen, was ich jemals lesen leben träumen werde. Ich muss es wissen! Sonst findet mich weder der eine noch der andere und täglich wuchert der Wald weiter als die Ränder und bald kann ich auch mit offenen Augen nichts anderes mehr sehen als das.

Bryant Park

pic

sierra : 8.57 – Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafes, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief vorlesen könne, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte solange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Cafe am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Cafe Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine sehr schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich seh gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden.

space

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ich les‘ das gedicht

lautes rauschen wie früher, wenn der sendeabend vorüber war und weit
und breit kein mensch, kein schlaf, nur diese leere zum bildschirmquadrat.
oder wie eine suppe ist’s, eine lauwarme bouillon
mit eiswürfeln, ein ‚bling‘ und noch eines, wenn die gabel ans eis stößt
(beim nächsten lesen wird sich der ganze spuk aufgelöst haben)
gleich neben der gabel liegt ein:
‚was du dir eingebrockt hast, musst du auch auslöffeln!‘
und im herrgottswinkel steht, in einen bilderbogen gestickt:
‚meine suppe ess ich nicht, nein, meine suppe ess ich nicht.‘
wenigstens spielen, aber nein (sagt der schöpflöffel):
mit essen spielt man nicht, da geht es nämlich immer ums ganze,
da geht es um: zwei fettaugen. bitte reinstechen,
dann sind’s vier oder sechs, da geht schon was.
ich klebe sie mir ans kinn (menschenfresser) oder auf die schulterblätter (rückspiegelengel), den braucht man, wenn’s finster ist und die gefahr von hinten kommt.
es rauscht zur mitternacht – als wir da haben eine lange nacht mit nichts außer dem testbild

bandoneon

die uhr tickt stetig. in ihren leisen marsch mischt sich das klicken der stricknadeln, das schaben der wolle an wenckes schwieligen händen, das knistern der plastiktüte, wenn sie den faden nachzieht. sie lauscht, sortiert gedanken. malte ist heimgekehrt. mitten in der nacht stand er vor der tür, klopfte nicht, stierte nur vor sich hin. davon muß ich aufgewacht sein, denkt sie, von seinem stehen und stieren vor der tür. niemand rechnete damit, ihn wiederzusehen. von dort, wo man ihn hingeschickt hat, kommt keiner zurück. er ließ sich nicht umarmen, ging einfach an ihr vorbei zum sofa, legte sich hin und schlief. gegen mittag holte er ein uraltes bandoneon aus dem seesack und verschwand in der kirche nebenan. seit stunden spielt er dort. hoffentlich findet er jemanden, dem er alles erzählen kann, denkt wencke. nur mir nicht, bitte nicht mir…