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Inhalt 04/2009

Die Lesezeichen-Ausgabe 04/2009 erschien am 15. Januar 2010.


In dieser Ausgabe:
Hartmut Lange, Barockengel und Sushi-Fließbänder, Tiefseelefanten und Rüsselblumen, ein Fast-Buchpreisträger aus der Eifel, blaue Buchstabenketten, Magnetismus und Musik, Dunstschwaden vor Rockaway Point, Thermodynamik und Gärungsprozesse, Übersetzung als schöner Verrat, die Allmacht Gottes, Lapsang Souchong und Earl Grey, Fahrradglocken, Sichtbeton und rohe Bretter, Kurven und Kreise, Feen und Kobolde uvm.

INHALT:

Das Konzert

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Hartmut Lange – Foto © Renate v. Mangoldt, 1987

••• Gestern kurz vor Schabbesausgang hätte mein Sohn beinahe die neue Synagoge am Jakobsplatz in Flammen gesetzt. Während des Nachmittagsgebets wollte er unbedingt aufs Klos, kurz darauf gleich wieder. Da wurde ich misstrauisch, und schließlich bemerkte ich den Brandgeruch und sah kurz darauf die Bescherung. Zwei Stapel Papierhandtücher waren angekokelt. Ein einsam dastehendes Jahrzeitlicht war wohl zu verführerisch gewesen. Die angebrannten Papierhandtücher lagen dann, grad noch gelöscht, im Handwaschbecken. In so einem Moment gehen einem die schlimmsten Katastrophenszenarien durch den Kopf. Wie macht man einem grad Sechsjährigen klar, dass er sich und andere umbringen kann durch solchen Experimentierdrang? Immerhin war er von panischer Angst geschüttelt – vorm Feuer wie der zu erwartenden Strafe…

Dem Flammentod sind wir also noch einmal entgangen und fanden uns nicht unversehens in der Kulisse der Geschichte wieder, die ich in den letzten zwei Tagen gelesen habe. Lesen durfte, müsste ich sagen, denn Hartmut Langes Novelle »Das Konzert« – von der Herzdame im Untergeschoss des Münchner Hauptbahnhofs bei einem Trödler erstanden – hat mich richtig glücklich gestimmt.

Die Hauptfiguren in Langes Buch sind allesamt tot und fristen dennoch eine Art gesellschaftlichen Daseins – in einer im Zustand zum Zeitpunkt ihres Todes eingeforenen Umwelt, die über jene Wirklichkeit der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts, aus der heraus Lange erzählt, projiziert ist. So können sie beispielsweise eine Vorkriegsvilla in Berlin bewohnen, die längst abgerissen ist und auf deren Grundstück unterdessen schmucklose Bungalows stehen. Und sie können sich im Salon von Frau Altenschul treffen:

Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wußte, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.

Viele, der bei Frau Altenschul versammelten Künstler und Kunstverehrer sind jüdischer Herkunft. So auch der nun auf ewig 28jährige Pianist Lewanski, der beim Versuch der Flucht aus dem besetzten Polen auf dem Bahnhof von Litzmannstadt mit falschen Papieren angetroffen und wie beiläufig von einem Hauptsturmführer der Waffen-SS mit einem Genickschuss hingerichtet wurde. Dieser Lewanski gibt nun in einem Saal des Charlottenburger Schlosses ein Konzert für die Toten, das diese zu Tränen rührt – auch den gegen den ausdrücklichen Wunsch Lewanskis und von Frau Altenschul am Fenster lauschenden Uniformierten, der zwar den Totenkopf und die SS-Runen von seiner Uniform entfernt hat, aber dennoch als der Mörder zu erkennen bleibt, der Lewanski auf dem Bahnhof Lodz erschossen hat.

Lewanski spielt Chopin, Webern und Beethoven. Und trotz des Jubels und diverser Da-Capos fühlt er sich an der E-Dur-Sonate Beethovens gescheitert. Der immer zynische Schulze-Bethmann sagt es ihm denn auch unumwunden: Für dieses Stück waren sie zu jung. Sie hatten im Leben keine Gelegenheit, die Reife zu erwerben, die es braucht, um dieses Stück wirklich meisterhaft spielen zu können.

Schulze-Bethmann ist zwar von Frau Altenschul damit betraut, den SS-Mann auf Distanz zum Salon und deren Mitgliedern zu halten. Er selbst pflegt aber Umgang mit dem toten Mörder:

Und nun sprach er davon, daß Herr Klevenow ihn, Schulze-Bethmann, mit einem Seil nahe einem Birkenwäldchen sehr rasch und in bester Absicht erdrosselt hätte. Er sage dies ohne Ironie. Im Leben, fügte er hinzu, geschehe fast alles, auch das Erdrosseln, in bester Absicht, und Herr Klevenow wäre allerdings der Meinung gewesen, daß es geboten sei, einen Juden derart zu behandeln. Insofern müsse man Herrn Klevenow, fügte er weiter hinzu und widerstand der Versuchung, diesen mit einer freundlichen Bewegung der Hand zu berühren, aufrichtig bedauern. Er habe die Menschheit bessern wollen, stünde nun aber als gemeiner Mörder da. Es sei nicht unerheblich, sagte Schulze-Bethmann, wie um seinen Mörder, der aschfahl geworden war, verbindlicher zu begegnen, daß Herr Klevenow die Insignien seiner hochmütigen Absicht sofort, nachdem er selbst hätte sterben müssen, an sich entfernt habe und daß er wünsche, dies als Eingeständnis seiner Schuld zu werten. Denn eines müsse der Mörder, spätestens nachdem er den Zustand seines Opfers erreicht hätte, erfahren: Daß seine Tat sinnlos gewesen sei und daß er sie ebensogut hätte unterlassen können. Und daß dies, fügte er hinzu, und war ganz ernst und darum bemüht, seine Augen, die allen Glanz verloren hatten, nur noch auf die Spitzen seiner Schuhe zu richten, daß dies, wiederholte er, solange wir bei Atem sind, nie geschieht, daß wir einander bei guter Gesundheit und in bester Absicht immer nur hassen, demütigen, quälen, töten können, daß es uns nie gelingt, unserem Dasein wenigstens, indem wir einander freundlich begegnen, einen Schein von Berechtigung zu geben … »Dies«, sagte Schulze-Bethmann, »nenne ich den Wahnsinn des Lebens, und Sie werden einsehen, daß ich keine allzu große Lust habe, einen derartigen Zustand, nachdem man mich frühzeitig darum gebracht hat, im Tode nachzuholen.«

Und schließlich spricht Klevenow selbst zu Lewanski:

»Verstehen Sie mich, mein Herr!« rief er. »Wenn Sie vor ihrem Pianoforte sitzen und derart unnachahmlich spielen, wenn Sie mich und andere zu Tränen rühren, wie sollte ich mir keine Hoffnung darüber machen, daß Sie alle Kunst, um die man Sie gebracht hat, wieder hervorzaubern und daß Sie damit das Unrecht, daß man Ihnen angetan hat, ganz und gar unerheblich machen!«

Lewanski also übt in der Zeitlosigkeit des Todes unentwegt, um diese Beethoven-Sonate doch noch zu meistern, und sein Mörder hofft mit ihm, er möge erfolgreich sein, um sich von seiner Schuld rein zu waschen. Und damit nicht genug. Wenn es gelungen sei, solle Lewanski vor einem Publikum toter SS-Schergen ein Konzert geben, um auch jene zu erlösen.

Das alles trägt Lange vor in distinguierter Sprache. Die größten Ungeheuerlichkeiten gehen diesen Toten, scheint es, leicht von den Lippen.

Wie Lewanski sich entscheidet und ob das gewünschte Konzert stattfindet? Das verrate ich nicht. Diese 100 Seiten wunderbarer Literatur sollten die Turmsegler selbst lesen. »Das Konzert« von Hartmut Lange ist als Band 70 der SZ-Bibliothek preiswert neu aufgelegt worden und für die eher Hör- als Lesewilligen auch als Hörbuch erhältlich.

Fliechtenstein (Gewebeent- per Luftaufnahme)

An der Landesgrenze grüßen zwei Barockengel, die Wangen
aufgepustet, fehlt jeweils nur die Tuba, armbrustbewehrte
Hardcoreputten, einander Spiegelbild. Waah-Dutzz, Zaduff
Wudatz! geht’s mit Karacho übers Heiteckkraut in Triesens
Ritzen, Geruch gärenden Geldes, verdächtige Kühe. In den
Kellern: Killercupiden, nett frisierte Scharfschützen in
Corporate Identity-Klamotten (mit winzigen Hundertfranken-
Scheinen in die Kragenränder genäht), Argusbrüder vor
Videos mit Betonwänden zwischen unterirdischen Besucher-
Parkplätzen. Die leise Geste des Steinbrechs, in Grautönen
aufgezeichnet. Rotweiß walkt ein Pulk G`lump aufs Städtle
im leeren Stadion der hohen Niederlage die Sitzschalen in
Fürstenfarben. Als hätt er jemand im Genick, hastet der
Rhein, Holzbrückensplitter im Klarlack, Skater am Bein
als wollt er von Fliechtenstein lieber nix wissen, als
hing er an der Dialyse, übermüdet am Lügendetektor, als
hätt er die Power, hier einfach mal richtig durchzuziehen
(Mehrere Lösungen möglich.) Da! Zwei illegale Somalier!
In der Elfuhrschlange fürn Mittagstisch der Phüanthai-
Anstalt. Am Kreisel küssen sich in plötzlichen Anfällen
limegelben Widerscheins, von der Sonne verwöhnt, die
Busse. Das Tal ist friedlich gelegen, dahinter falten
sich rosa Vorderschinkenberge bis fast auf 3000 Meter
(in die modern gestalteten Höhlen wurden nach reiflicher
Überlegung geräuscharme Sushi-Fließbänder integriert)
sch-sch-Schaan, Schaan, zischt limousinierte Jetset-
Heiligkeit, im eignen Schatten versteckt (verdächtige
Kühe längs des Wegs längst auf Sprengsätze gecheckt)
durch den Regelverkehr. In den Supermärkten: so einiges
zu Trockenfleisch gehobelt, mit sternförmigen Rabatt-
Marken, in deren Innerstem (eine erste Vermutung) die
Staatengemeinschaft kulminiert. Tausendfrankenmost
original homegrown, heule nicht, Bauer, in den Kirchen
wartet nach wie vor Erlösung. (Vollständigkeitshalber
erfolgt die Entnahme eines Widderchens aus den Bergen)

update

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remington : 0.05 – Vor wenigen Minuten hatte ich das Licht über meinem Schreibtisch ausgeschaltet und etwas Lebenszeit in Dunkelheit verbracht. Ich will Ihnen rasch erzählen, warum ich so gehandelt habe. Ich war nämlich spazieren gewesen stadtwärts unter Menschen in Warenhäusern und auf einem Weihnachtsmarkt, weil ich nachsehen wollte, ob sich in dieser Welt, die wir bewohnen, etwas geändert haben könnte, da doch vor wenigen Stunden durch Unterlassung entschieden worden ist, dass Bangladesh, dass das Gangesdelta in den Golf von Bengalen sinken wird. Ich dachte, das eine oder das andere sollte doch spürbar, sichtbar, fühlbar werden, ein wenig Unruhe, ein leises Klappern der Zähne vielleicht. Aber nein, alles Bestens, alles im Lot. Und als ich wieder an meinem Schreibtischs saß, war da plötzlich ein starker Eindruck von Unwirklichkeit, das alles und ich selbst könnte reine Erfindung sein. Ich löschte das Licht über dem Schreibtisch und wartete. Und während ich so wartete, lauschte ich den Stimmen der Tiefseelefanten, einem Orchester zartester Rüsselblumen, wie sie auf hoher See den Himmel lockten. Und als ich das Licht wieder eingeschaltet hatte, saß ich dann noch immer vor dem Schreibtisch, die Hände gefaltet. – Schnee fällt. stop. Langsam. stop. Leise. stop. – Frohe Weihnachten und ein gutes, ein nachdenkliches, ein glückliches Jahr 2010!

:

Gedicht des Tages – Norbert Scheuer

Die Gedichte der allermeisten Lyriker, die mich beeindrucken, die ich gut finde, die virtuos, reizvoll, innovativ sind, leisten eines meistens nicht: Sie brennen sich nicht ins Gedächtnis ein. Nur ganz wenige Dichter schreiben Verse und finden Bilder, die ich nie vergesse. Norbert Scheuer, Fast-Buchpreisträger aus der Eifel, sandte mir gestern ein solches Gedicht. Ich will mich beileibe nicht mit dem Promi brüsten, aber was Norbert Scheuer mit dem alten Thema „Herz“ anfängt, mehr noch, dass er jemanden in ein lyrisches Herz blicken und dort eine Kaffeemühle und „grüne eingelegte Bohnen“ sehen läßt, finde ich unerhört. Er schreibe nur noch wenige Gedichte, bedauerte Norbert Scheuer in unserer kleinen E-Mail-Korrespondenz. Wenn er in seinem hoffentlich noch langen Leben nur noch eine Handvoll solcher Gedichte schreibt, reicht das. Danke, Norbert Scheuer! Die Verse sind übrigens teilweise zu lang für das Blogprogramm. Das Ende einer Zeile des Druckbildes habe ich deshalb mit dem üblichen „/“ markiert.

Um was es geht

du sagst, dass du in mein Herz sehen kannst, dass du darin/
eine Kaffeemühle siehst und grüne eingelegte Bohnen mit/
Zwiebeln und Kräutern, eine diebische Elster, ein schönes Blau,/
eine Geschichte die doch lange vorüber ist.//

du sagst, wir hätten in dieser Geschichte gelebt, auf dem Land oder/
irgendwo in der Stadt. Und, dass du in meinem Herzen eine/
sommerstaubige Straße gesehen hast, Regen und Menschen, nicht/
anders als wir, du sagst, am Abend hätten wir Geschirr in die/
Spülmaschine gestellt, duftende Teelichter auf den Badewannenrand.//

du sagst, dass es nur darauf ankommt in einer Sekunde glücklich/
gewesen zu sein, du sagst, daran würden wir uns erinnern, egal wo wir/
sind und wer gerade bei uns ist. du sagst, dass ich irgendwann vor/
dir stürbe oder du vor mir, vielleicht in derselben Stadt, nur eine/
Häuserzeile weit voneinander entfernt.

keineswegs tautologisch

tage, an denen ich zum füller greife, nur um zu schreiben. das klingt tautologisch, ist es aber nicht, nämlich nur um zu schreiben meint keinen inhalt, meint lediglich die physische tätigkeit: das aufschlagen des hefts, das abschrauben der füllerkappe, das nachfüllen der tinte aus dem kleinen glasfaß, das zurückgeben eines tropfens davon, um ein überlaufen der tintenkammer zu verhindern, das klackern beim wegstellen des fässchens auf den tonteller neben dem fenster, das schaben der feder übers papier, das langsame sichtbarwerden blauer buchstabenketten auf hauchdünnen, grauen linien, die kaligraphie meiner schrift, wie sie eine um die nächste seite bedeckt, und die freude, die mich bei all dem durchdringt. tage, an denen ich tatsächlich nur zum füller greife, um zu schreiben…

O2/E11/W

27//
Oktave. to einai Dieses und jenes schien von Bedeutung zu sein, drängte sich auf, mischte sich in die Tage, in die Gedanken. Andere Bilder aus anderen Zeiten. Der Kaffee kochte. Anna stand in der Küche. Sehen, was kommt. Sehen was die Worte zu Bildern auftürmt und wieder auflöst. Ein Kinderspiel mit Bauklötzen. Autos schieben sich durch den Regen. Die Lichter gleiten entlang der Wand. Flüchtig die Wahrnehmung. Wessen Geschichte man auch verfolgt, sie liniert die Stunden, behält einen Augenblick die Konzentration, gaukelt ein Ziel vor, das man erreichen könnte. Vielleicht Stundenbücher zu notieren. Fragmentarisch. Man greift danach. Die Hand hält und bleibt leer. Vielleicht sind es die Gefühle, ein Geräusch, eine Bemerkung, die eine Geschichte in Bewegung setzen und man sich bewusst wird, dass man lebt und liebt und empfindet. Wieder die Wolkenberge am Himmel. Das Wasser fällt in Tropfen. Ich dachte, das Meer rauschen zu hören und war mir nicht sicher, ob ich vor ihm stand, oder mich nur erinnerte vor ihm zu stehen. Ich sah es. Anna. Die Reihenfolge, sagte sie, ein transparentes, filigranes Geflecht. Das Meer. Die Verkörperung eines Wortes. Du, eine Schattenfigur. Worte reichen bis zum Horizont. Der Magnetismus. Sie lachte. Die Musik entgleitet. Du umgibst mich. Dort, wo die Gedanken weder ein- noch ausgrenzen fangen wir an Geschichte zu sein. Wer bist du, fragte ich, der Engel im Kostüm eines endlosen Bühnenstücks? Das Wirkliche der Geschichte ist ihre Wirkung, sagte Anna und stellte den Kaffee vor mir auf den Tisch.

Astroland

Das Meer war so laut! In der Luft Wogen,
und Himmel und See vom selben Grau:
Über den Holzpier kam bloß ein Schwarm
lachender Vögel aus dem Nebel herein.
Frachtschiffe waren zu hören, ihre Hörner
in Dunstschwaden vor Rockaway Point,
die Brandung, die Gischt, Seevögel. Leicht
flogen sie einen Bogen um das verrostete
Riesenrad bei der Mondrakete und segelten
durch die Karussells. Und der Nebel stieg
vom leeren Strand auf, hüllte Mietblocks ein,
Gondeln der Balkone, aus Feuertreppen
die Achterbahn im Coney Island der Möwen.

*

Die große Verkündung

Thermodynamische Absurdität
in einem bis eintausend Akten.

Personen:
ANH … Denker u. Dichter
Diadorim… Suchende Dichterin und Denkerin
Parallalie… Dichter u. Denker
Condor: ein Wissender

Condor
tritt auf und blickt sich um

ANH, DIADORIM, PARALLALIE u.a.
sitzen schreibend unter den Bäumen und sind in
stillen Gesprächen miteinander versunken.

Condor
Zieht sich eine Kutte über und Sandalen an die Füße,
holt ein Megafon aus seinem Rucksack und brüllt hinein:

„Alle mal herhören. Ab heute ist hier Schluss mit lustig. Die Menschheit
hat lange genug in der Bedeutungslosigkeit gelebt. Dagegen hab ich jetzt
ein Rezept. Die ultimative Formel für…
Es geht um …. äh…… (Faltet ein Blatt auseinander)

ANH
blickt genervt von seinen Bamberger Elegien auf

„Wer stört uns hier in der Kontemplation?“

Condor
„Ich hab genau verstanden, was Sie gefragt haben, aber es ist nicht von Belang. Sowieso kann man, wenn man genau hinschaut, erkennen, dass bereits früher nichts von Belang war. Genaugenommen ist die ganze Evolution bis hierher ein einziger belangloser Vorgang. Ein belangloser Irrtum sozusagen. Sie alle und Ihre Dichtungen inbegriffen.

Diadorim:
„Aber mein Arm schmerzt, und ich spüre mein Herz klopfen. Was ist damit?“

Condor:
Thermodynamik. Nichts als Thermodynamik. Da ist ein kleiner Gärungsprozess im Gang. Mehr nicht. Das Herz. Hahaha. 5,7 Hertz. Mehr ist das nicht. Da müssen Sie nicht so ein Geschrei machen.

Diadorim: schweigt betreten.

Parallalie: rezitiert leise
„Wald
in dem
ich ging
für mich
so hin…“

Condor
tippt sich an den Kopf
„Da haben wirs. Die totale Verirrung des Menschen.
Wem soll man jetzt den Vorwurf machen? Der Physik? Oder vielleicht einer Bande von Halbaffen, die da die Revolution ausgerufen haben?“

Parallalie
schüchtern:
Goethe. Sein Name war Goethe.

Condor
„Wollen Sie mich belehren? Ich habe Goethe studiert. Ich habe ihn analysiert, infiltriert, destilliert und spontifiziert. Mit einem einzigen Ergebnis: Der Belanglosigkeit.“

Parallalie
„Oh.“

Condor
„Goethe war ein Schwachkopf. Wie Newton Joyce auch. Überschätzt. Alle miteinander. Haben alle nicht begriffen, dass die physikalischen Erkenntnisbewegungen nun einfach mal eine ganze Ecke vorgerückt sind. Und was da passiert ist. Und wie es passiert ist. Und warum es passiert ist. Nichts haben die begriffen. Überhaupt nichts. Das gehört aufgearbeitet. Und eingeordnet in eine neue Welt – und… ähm….
schaut auf seinen Zettel
…prozessbegleitende Gesamtverständigung. Aber dafür bin ich ja jetzt da.“
(will Parallalie seinen Goetheband entreißen.)
„So, und das geben wir jetzt mal dem guten Onkel. Her damit!“

Parallalie

klammert sich an sein Heft
„Halten Sie ein, das ist doch Dichtung.“

Condor
„Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Minzgeschmack. Nichts als Minzgeschmack. Geklagte Ausscheidungen. Tschüss Goethe und Danke.“

Parallalie
Gibt ihm traurig das Heft.

Diadorim leise zu ANH:
„Nun unternehmen Sie doch etwas.“

Condor:
„Das hab ich genau gehört! Aber wahrlich, ich sage Ihnen:
Wer dynamisiert, und sagt: „Ich unternehme.“ – der partizipiert, und prosperiert, in dem er seinen Ort in einer Strömung behauptet, der jederzeit von jemanden Anderen eingenommen werden könnte. Dieser Ort aber ist ein Futterort!“

ANH:
„Ich hab Hunger. Könnten Sie sich ein wenig beeilen mit Ihrer Verkündigung?“

Condor:
„Also hören Sie mal, solange Sie sich von dieser Mechanik nicht emanzipieren können, werden Sie nicht erwachsen.“

ANH:
dessen Magen mittlerweile hörbar knurrt
„Natürlich. Verzeihung. Fahren Sie fort.“

Condor
„Ich verfolge die Kunst, so zu sprechen, dass niemand was damit anfangen kann. Das ist aber genau die Kunst. Genau so zu reden, dass niemand etwas damit anfangen kann. Das selbst noch ein Missverständnis ausgeschlossen ist.“

Diadorim:
„Sie meinen, man muss nicht nur nichts zu sagen haben, sondern auch sehr unfähig sein, dieses auszudrücken?“

Condor
Keine Frage. Darum geht es nicht. Ebensowenig wie um alles Andere.
(zieht eine kleine Figur aus dem Rucksack und spuckt drauf, reibt dann
mit dem Taschentuch daran herum.)

ANH:
„Aber, das ist ja ein… Nobelpreis. Wann haben Sie den denn bekommen?“

Condor:
„Wissen Sie, Vergangenheit oder Zukunft, das spielt unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eigentlich keine Rolle. Ich hab ihn schon, oder ich hab ihn nicht. Popper und Weizäcker haben sich immer aus der Affäre gezogen. Und Mandelstam hatte einfach Pech, dass er Jude war. Ich hingegen könnte Ihnen den Weg in die nächste Reflexionsmenge aufzeigen.“

Diodorim:
„Igel retten wäre mir persönlich jetzt wichtiger.“

ANH:
„Ich hab Hunger.“

Parallalie:
quengelt
„Ich will mein Buch zurück.“

Condor:
Stellt den Nobelpreis, ein kleines goldenes Kalb, in die Mitte, und
tanzt drum herum. Singt:

„Ach wie gut dass niemand weiß, dass ich …..“
Unterbricht und schaut fragend zu ANH, der mittlerweile an einem Grashalm
kaut.

„Ahm… Wie war nochmal mein Name?“

Ende des 1. Aktes

2007-11-21 nach Wien schreibe ich

in wind gesetzt ins hin das nahen
nackten sinns zur insel sagt der augenöffner
wir hier nennen übersetzen
den schönen verrat
wie schön

für A. I.

nach Wien schreibe ich Nun wohne ich schon 3 Wochen in der Stadt, in der Du aufgewachsen bist. Von Tag zu Tag lerne ich ein wenig mehr von ihr kennen. Ich habe eine kleine Wohnung an der Champollion-Strasse, bin also mitten drin und kann an viele Orte zu Fuss. Und ich arbeite ziemlich viel, lerne auch Kollegen kennen und habe F. N. wieder gesehen. Ich bleibe bis zum 2. Januar, werde auch Ausflüge ins weitere Land machen. Gedehnt ist Ägypten ist eine Länge eine Breite – eine Dauer auch, wie riesig das Land in der Zeit liegt. Habe mich schon eingewohnt bin über winzige Kanäle gehüpft habe die Insel gequert es gab Tee und eine Rückfahrt Stehen im Stau. Wie geht es Dir?

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