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Amatophobie 1

Angst vor Staub ist für mich eine seltsame Angst, ich kenne sie nicht. Ich denke sofort an einen verlassenen Raum oder ein verlassenes Haus, in dem sich schon lange kein Mensch mehr aufgehalten hat.

Wie oft habe ich solche Räume betreten! Schon als Kind empfand ich sie romantisch, gruselig, verwunschen, beglückend. Staubgeruch! Immer wieder hatte die Zeit ausgesetzt, und diese ausgesetzte Zeit hatte sich in Form von Staub materialisiert. Wie schön, daß die Zeit so materiell ist und sich ihrem Vergehen nicht entziehen kann!

Ich war von Anfang an umgeben von den verschiedensten Stäuben an den verschiedenen Orten im Haus und der Natur. Sehr erfreute mich das staubige Mehl, die staubige Kleie, der Staub im Stadel und auf dem Heuboden. Der Erdstaub auf den Feldern und im Weingarten. Der Staub, den schon der kleinste Wind im Hof aufwirbeln konnte. Der Staub, den die Herbststürme von weit her mit sich brachten.

Jetzt sehe ich alle verlassenen Räume, die ich jemals betreten hatte, wieder mit Staub bedeckt. Die Spuren meiner Nachgänger, die vielleicht eine Weile sichtbar geblieben waren, sind schon lange verschwunden und immer wieder durch neue ersetzt worden. Die Vorstellung der ständigen Bewegung all dieser Stäube macht mich heiter und ruhig.

(2. Dezember 2006, 10:27)

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Vielleicht auch ein Blick hierher.

Inhalt 03/2008

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2008 erschien am 15. Oktober 2008.

In dieser Ausgabe:


Serbisch und Kroatisch, Blut und dicke Tücher, Jaqueline und ihre Mutter, Peter und Paul, Kishon und die Muse, eine Abendstimmung in Öl, Noppenfolien und norwegischer Patriotismus, die Kanten der Liebe, raureife Reiher, Wörter am Bahnhof, die Liebe zu einem Schuhladen, gestopfte Gänse, ein Gabelfrühstück uvm.

INHALT:

ALPHABETICAL ABISH


||| WELCOME TO VIENNA | ALPHABETICAL AFRICA | HOW GERMAN | FELIX AUSTRIA | PRÄSENTATION & DISKUSSION | FURTHER READING | KLANGAPPARATWELCOME TO VIENNA
Dioscur alt vorne

I walk along Mariahilferstrasse / looking for Mariahilferstrasse / I’m on Mariahilferstrasse / and I can’t find it .

Wer in solch Bernhardesker Manier die Strassen seiner Kindheit durchwandert , selbige mit seinem erwachsenen Bewusstsein allerdings nie zur Deckung bringen kann , ist WALTER ABISH , jener Schriftsteller , dessen Werk für Werk in je neuer Schreibweise gewachsenes Oeuvre in direkter Relation steht zum ständigen Neubeginn eines durch die historischen Situationen des 20. Jahrhunderts ins “unruhige Wohnen” gezwungenen Lebens .

Leicht zu finden – just von der zitierten Mariahilfertrasse aus – ist die Buchhandlung phil ( vis à vis dem Café Sperl ) , wo heute ( 20 H ) der im Weidle- Verlag zusammen mit der Exilbibliothek verwirklichte Materialienband “Walter Abish . 99 Arten das Ich und die Welt zu erfinden – Materialien und Analysen” ( hg. von Robert Leucht ) vorgestellt wird .

Der ständige Wechsel der Binnen- Poetologie in Abishs Erzählungen ( “Duel Site” , 1970 ) , Sprachexperimenten ( “Alphabetical Africa” , 1974 ) , Romanen ( “How German Is It | Wie deutsch ist es” , 1979 | 1980 ) und einer hochartifiziellen Autobiographie ( “Double Vision : A Self-Portrait” , 2004 ) erschwert eine synthetische Abbreviatur ebenso wie die unfreiwillig inkonsistente Vita , deren Formulierung wir uns kurzerhand aus dem anzuzeigenden Band borgen :

Walter Abish wurde 1931 in Wien geboren, floh mit seinen Eltern vor den Nazis nach Frankreich, später nach Shanghai; er lebte dann einige Jahre in Israel, ging aber, weil er seine Hebräischkenntnisse als ungenügend empfand, für kurze Zeit nach England, bevor er schliesslich Ende der fünfziger Jahre in die Vereinigten Staaten übersiedelte. Vor diesem Hitnergrund verwundert es nicht, das Abishs erster Roman, Alphabethical Africa, das Thema von Identität und Sprache aufgreift .

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ALPHABETICAL AFRICA

Dioscur alt hintenDas Zitat entstammt einer NZZ- Rezension von Jürgen Brôcan , die das Wagnis des Schweizers Schriftstellers Jürg Laederach , einen im Buchstäblichen Englisch sprachspielenden Roman ins Deutsche zu übertragen ( Alphabetical Africa | Alphabetisches Afrika , Deutsch von Jürg Laederach , Urs Engeler Editor ) würdigt , weniger allerdings die Manierismen und idiosynkratischen Hinzudichtungen des Übersetzers goutiert .

Das entlang der 26 Buchstaben des Alphabets erst auf- , dann absteigend erzählte getüftelte Werk mag zweifellos an der arbiträren Regelästhetik von OuLiPo inspiriert worden sein ( Stefanie Leuenberger ) , verweist zugleich in der Zerprengung von Identität und Erzählung auf das Prinzip “nomadisierender Schreibverfahren” ( Gilles Deleuze ) , wenn nicht gar auf die “roots” der Sprache in Roman Jacobsons Lesart .

Zeitgenössische Kritiker wie Richard Howard im TLS 1974 wollten das buchstäbliche Vordringen ins Innere AFRIKAS ( vulgo : DER SPRACHE ) eher freudianisch aufgeladen sehen :

… the continent Africa shaped like the human heart and the female genitals ( ….) and he [ Walter Abish ] is concerned , is obsessed to possess, to violate her by his literary fetish –

Die wirkliche Lust ( am Text ) stellt sich allerdings erst bei Ansicht der konkreten Sprachgestalt ein . Hier der Anfang des Buches bei Abish :

Ages ago, Alex, Allen and Alva arrived at Antibes, and Alva allowing all, allowing anyone, against Alex’s admonition, against Allen’s angry assertion: another African amusement … anyhow, as all argued, an awesome African army assembled and arduously advanced against an African anthill, assiduously annihilating ant after ant, and afterward, Alex astonishingly accuses Albert as also accepting Africa’s antipodal ant annexation. Albert argumentatively answers at another apartment. Answers: ants are Ameisen. Ants are Ameisen ?

Hier in der Übertragung durch Jürg Laederach :

Am Anfang allen Anfangs Alex, Allen, an Alvas Arm. Ankunft Antibes, Aussichtsterrasse, alter Ankerplatz. Als Alvas Aussehen alle anzog, allerhand Anzügliches anregte, als Alex Abmahnungen ausstieß, als Allen ärgerlich atmete, artete alles auf Anhieb aus: Abermaliges abgedroschenes afrikanisches Amüsement … Achje. Auch argumentierten alle, alte angsterweckend angeschwollene afrikanische Armee avanciere, attackiere andauernd afrikanische Ameisenhügel, Ameise auf Ameise abschlachtend. Als Alex anschließend alte Ansichten abermals ausformulierte, amtierte ausgerechnet Albert als Angeschuldigter: angeklagt ausserordentlicher Akzeptanz aller Ameisen-Annexion, Ausführende: Antipoden. Anderes Apartment: Albert arbeitet ausbaufähige Antwort aus, argumentiert anti Armee. Antwort: Ameisen als ‘ants’. Ameisen als ‘ants’ ?

Zum Vergleich noch eine weitere Übersetzung , die , zitiert in “99 Arten” , von Hanna Muschg unternommen worden war :

Ausserdem Alva, attraktiv, anstössige Aufforderung an alle aufrechten Afrikaner, aufstachelnd andererseits auch allerlei analytisch aggressive Autoren-Antizipation. Autor A. arbeitet an Alva annäherungsweise, anatomisch, affirmativ, aberwitzig, aber auch anschaulich.

Dass hier kein loses Lettern- Spiel getrieben wird , sondern als konsequenter text- und sinngenerativer Faden sich quer durch Abishs Oeuvre spannt , weist Stefanie Leuenbergers äusserst aufmerksamer Aufsatz bemerkenswert nach : Das Hereinfunkeln des deutschen Begriffes in “ants are Ameisen” antizipiert gleich zu Beginn ein später im Verlauf der Ereignisse auftauchendes Buch über “Die Ratsame und Nützliche Ausrottung der Gefährlichen Afrikanischen Ameisen” . “Dieser Titel” , so Leuenberger ,

parallelisiert die Ameisen mit den Verfolgten der Shoah. Philippe Cantié hat darauf hingewiesen, dass die Ameisen im Text überall gegewärtig sind: Das Morphem ‘ant’ ist in Toponymen wie ‘Antibes’ enthalten, in den Substantiven ‘Ashanti’ und ‘antelopes’, in Verben und Adjektiven wie ‘antagonizing’ und ‘antipodal’, fungiert als Suffix (’arrogant’) oder erscheint in der Wortwurzel (’anthem’, ‘anthropologists’). Versteckt und doch anwesend, bilden die Ameisen den verborgenen Text des romans. Somit verbindet Abish das deutschsprachige Wort mit dem in Nachkriegsdeutschland verdrängten Teil der Vergangenheit, der besonders in Abishs Roman How German is it | Wie Deutsch Ist Es (1980) zum Thema werden sollte. In Alphabetical Africa sind es Hermann und Gustaf, Figuren, die Gewalt, Unersättlichkeit und Grössenwahn verkörpern, die das deutsche Wort mit sich bringen.

Hier die ent- sprechende und eindrücklich brutale Passage , die es wohl wert ist , in voller Länge abgetippt zu werden :

Gobbling gestopfte Gans, gobbling Gabelfrühstück, gobbling goulash, gobbling Geschwind, Gesundheit, Gesundheit, gobbling Gurken, Guggelhupf, Gash Gash, Gish Gish, groaming, grunting, also complaining, chewing Grune Bohnen, Geschmackssache, as Germany grows greater, Alarmed, Gabon grows addittional food for Gustaf, and Gustaf’s children, Gerda, Grete and Gerhard. Gifted Grösseres Germany consumes energy and guarantees greatness, get going, grow another Goethe, great guy, claims Gustaf, as all Grundig gramophones in Gabon, gently croon: Goethe, Goethe, Goethe.

Den “Goebbels” hört man – diesmal kommtentieren wir in|ad|ae|qu|at – in diesem radikal rhythmisierten Rap deutlich heraus , ohne dass dessen Name genannt zu werden brauchte . Auch steht die in der Figur Heinrich Himmlers versinnbildlichte germanische Gefrässigkeit assoziativ durchaus bei Fuss .

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HOW GERMAN

Dioscur alt vorneVon diesem Malstrom der abgründig kontaminierten Sprach- , Klang- , Assiziations- und Sinnbilder ist es nicht weit zu “How German is it | Wie Deutsch Ist Es ( 1979 | 1980 ) , wo aus beizenden Übertreibungen und Klischees eine Art Märklin- Szenario errichtet wird , welche das Land , seine Ungeister und Wiedergänger zum Kenntlichen entstellt .

Als just in der geschilderten süddeutschen [ „Würtenburg“ ] Propperkeit ( bis hin zum Heidegger’schen [ „Brumhold“ ] Todtnau und den überall vergrabenen Leichen ) aufgewachsener Zeitgenosse , gibt sich in|ad|ae|qu|at angesichts dieses persönlichen Grundbuches befangen und zitiert aus der in “99 Arten” abgedruckten Rezension Michael Krügers :

Es werden keine Antworten gegeben, sondern Fragen gestellt; Deutschland wird nicht der Prozess gemacht, sondern der Prozess, in dem Deutschland sich befindet, wird illustriert. ( … ) Die Frage, ob der von Walter Abish inszenierte Totentanz ein wahres Bild wiedergibt, ist sekundär gegenüber der Leistug selber: So klug, moralisch und witzig ist von deutschen Schriftstellern schon lange nicht mehr über Deutschland geschrieben worden.

Wirklich “witzig” vermochte in|ad|ae|at dieses ätzend präzise Panorama zwischen den Relikten des Zweiten Weltkriegs , der postwirtschaftwunderbaren Fussgängerzonen- , Kaufhaus- , Mustersiedlungs- Aufgeräumtheit und dem Deutschen Herbst nicht wirklich zu finden : Der Vater des RAF- Terroristen Christian Klar war der beürchtigt autoritäre Direktor des Kreisstadt- Gymnasiums und als Kinder sammelten wir Waffen und Munition aus zersprengten Bunkern . Ski- Stunden am Heideggerberg . Abish trift dies alles – trotz oder wegen manch grotesker Verfremdung – beängstigend genau .

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FELIX AUSTRIA

Dioscur alt hintenAber auch Wien – Herkunftsort des Vertriebenen – kriegt auf allerlei kuriose Weisen sein irrwitziges Fett weg . In “99 Arten” beschäftigt sich Walter Vogl anhand der Story “Mehr über Georges” mit dem Wien- Bild des Autors .

Ort der Handlung : Kleinstadt Vienna , Maryland . Anlass : Feier zur xten Wiederkehr der Befreiung Wiens von der Türkenbelagerung . Kulisse : An allen Häusern und auf allen Plätzen die rotweissrote Fahne samt Doppeladler .

Zitat Abish :

In ihrem Eifer, ihrer Liebe zu Wien hatten die Bewohner des Städtchens (sogar) eine Kopie des Stephansdoms aufgestellt. Er war fünfmal kleiner als das Original, aber dreimal so gross wie der in Vienna, Maryland, 420 Einwohner.

Vogl analysiert das idiosynkratische Werk Walter Abishs – wir schreiben das Jahr 1983 – unter dem Aspekt postmoderner poetischer Verfahren :

Zwischen den Schwenks der erzählerischen Kamera ( … ) , dem Jonglieren mit immer schon vorgeprägten Fiktionen, blitzen eigentümlich verwischt und zweideutig die Sinnangebote unserer Kultur auf. Immer, wenn wir Abish auf ein bestimmtes Thema festgelegt zu haben glaubten, ist er uns auch schon wieder entwischt.

Dass Abish auch sich selbst – speziell das Selbst der Erinnerung – kontinuierlich entwischt , akzentuiert der glänzende Essay über “Abish und Proust” des amerikanischen Philologen Maarten van Delden .

Hier wird Abishs autobiographische Irritation “Double Vision : A Self-Portrait” ( 2004 ) in Relation gesetzt zu Prousts legendärer “Recherche” . In beiden Fällen entsteht eine charakteristische Diskordanz zwischen den Orten der Erinnerung und deren realer Gegenwart . Dabei tritt insbesondere “the disjunction between the utterly agreeable amtosphere of present- day Vienna and the flickering memories of the city’s Nazi past” zu Tage .

It is here that Abish most clearly employs the Proustian device of contrasting two visions – the child’s and the adult’s. Looking back upon his childhood, the author is clearly puzzled by his failure to comprehend the political events that led to his family being forced out of their Viennese home – and to the death of his father’s mother, sisters, and brother in the Nazi camps.

Grund für die Verkennung mag einerseits das Alter des damals Sechsjährigen gewesen sein , anderseits der Umstand , dass die Familie ein assimiliertes Leben führte und sich nicht unmittelbar als jüdisch empfand . Über die Deportation der väterlichen Angehörigen wurde en famille ebenso wenig gesprochen wie über deren Erschiessung bei Maly Trostinez . Erst angesicht der Fotos von zum Strassenbürsten gedemütigten Juden wird sich der Erzähler des unüberbrückbaren Grabens ziwschen subjektiver Erinnerung und rationaler Kenntnisnahme bewusst .

Poetologisch entsteht dadurch – bei Abish nicht minder als bei Proust – “a persistant narrative instability” , Resultat einer “epistomological orientation marked by doubt and uncertainty”.

Womit Walter Abishs in buchstäblichem Sinne zu verstehende Weltliteratur – vermutlich sogar contre coeur und trotz einiger Features des amerikanischen Postmodernism – wiederum inmitten der Wiener Schule des Wahrnehmungs- und Sprachzweifels angelangt wäre .

Bleibt nur zu hoffen , dass Unternehmungen wie dieser feine Digest zur deutschen Neuausgabe von “Wie Deutsch Ist Es” führen . Es muss ja nicht unbedingt wieder bei Suhrkamp sein …

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PRÄSENTATION & DISKUSSION

Dieses und anderes zu diskutieren , mag heute abend Gelegenheit sein , wenn Herausgeber Robert Leucht dieses exzellent edierte ( genaue Bio- und Bibliographie ) und vielfältig inspirierende Buch präsentiert .

Mit Beiträgen von Jürgen Brôcan , Michael Krüger , Jürg Laederach , Robert Leucht , Stefanie Leuenberger , Sonja Osterwalder , Helmut Schödel , Janusz Semrau , Maarten van Delden , Walter Vogl , Paul West , Helmut Winter , Bio- und Bibliographie , in deutscher sowie in englischer Sprache –

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FURTHER READING

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KLANGAPPARAT

Einem neuen Sound- Überflieger gesteuert von Handen unseres Nachtflug- Piloten Tom Larson werden wir in|ad|ae|qu|at sicherlich nie die czz-hoerempfehlungLandeerlaubnis entziehen : Die gibt’s tax- und kerosinfrei im Abonnement bei Mixotic . Heute “Night Drive Music Labelmix Vol.2” . – Dank kraftvoll angedrehter Sequenzer- Propeller erhält sich die drängende Energie auch in den stilleren Schwebephasen . Gelegentliche Turbulenzen beim Spalten von Wolkenwänden sind ebenso systemisch wie die anschliessenden Klangfarb- und Harmonie- Lichtwechsel . Wählen Sie die Luftbrücke Ihres lustvollen Vertrauens . CLICK LINK TO SEE PLAYLIST AND LISTEN .

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julia und hetor

text: rittiner & gomez 7. Oktober 2008

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hetor jardin ist einer der wenigen, der unfreiwillig auf der insel arbeitet. nach mehreren kleinen delikten findet er auf dem festland keine anstellung mehr. so arbeitet hetor jardin nun mehr oder weniger widerwillig bei seinem onkel im schuhladen. er arbeitet immer donnerstag bis samstag und verlässt dann die insel so schnell er kann. hektor jardin könnte ja etwas entgehen, immer auf der suche nach dem grossen glück oder dem treffer im lotto. das inselleben ist ihm ein greuel. die arbeit bei seinem onkel scheint ihn auch nicht übermässig zu fordern. er beginnt in seiner langeweile alle preisetiketten auf den schuhen von hand zu gestalten, doch mitlerweile reichen ihm preis, schuhgrösse und herstellerin schon lange nicht mehr. aus den preisschildern werden regelrechte bilder. seit einiger zeit ist nicht mehr klar, ob die kunden die schuhe oder die preisschilder kaufen. erste etiketten werden auf alle fälle bereits auf dem kunstmarkt gehandelt. hetor jardin beginnt nun seine arbeit doch noch zu lieben und nicht selten arbeitet er noch auf dem festland an seinen etiketten.

julia zapato arbeitet nun schon seit 5 jahren im schuhladen. sie arbeitet immer von montag bis mittwoch. ihre übrige zeit verbringt sie mit singen. jeden kurs, der etwas mit gesang zu tun hat, besucht julia zapato. sie ist ebenfalls im chor mare vento sehr aktiv. neben dem singen ist sie noch die administrative leiterin des chors. seit 3 jahren nimmt sie zusätzlich gesangsstunden auf dem festland. hetors wunderschöne preisetiketten nimmt sie gar nicht wahr. bei der arbeit ist sie auch wenn möglich am singen. ob ihr gesang auch den umsatz fördert, kann nicht festgestellt werden. talente hat julia zapato bestimmt viele, aber ganz sicher nicht in der musik und im gesang. mit ihrem eifer im gesang will sie viel mehr das herz des chorleiters gewinnen. leider ist dieser schon seit jahren glücklich mit dem fischer elia captura zusammen.

hetor jardins onkel liebt seinen schuhladen, er liebt seine kundinnen und er liebt seine arbeit. er liebt auch die beiden mitarbeiterinnen. von diesen wird er aber kaum wahrgenommen, er ist sich nicht sicher, ob sie ihn eigentlich je bemerkt haben. hetor jardin und julia zapato leben in einer andern welt. ihre gedanken sind kaum jemals da, wo ihr körper ist. die kundinnen des schuhladens beklagen sich nie über die geistige abwesenheit der beiden. die einheimischen lassen sich nur vom onkel persönlich bedienen, und die touristinnen sehen sich bestätigt in ihrem bild der kuriosen insulanerinnen.

wer weiss, warum der onkel von hetor jardin auf die idee kam, eine inventur zu machen, bisher machte er das immer nur nach gefühl. aber wie auch immer, er kann hektor jardin überreden, an einem montag zu arbeiten. so treffen sich julia zabato und hektor zum ersten mal. was aber noch viel erstaunlicher ist: sie gehen zusammen essen. hetor jardin nimmt eigentlich zum erstenmal die insel wirklich wahr. julia zapato hört zwei tage später auf mit singen, und hetor jardin kündigt seine wohnung auf dem festland. sie kehren zurück in die wirklichkeit der insel und der onkel von hetor jardin fühlt sich nicht mehr einsam bei der arbeit.

julia zapato verliebt sich beim tanzen in einen kunden, der schon seit jahren schuhe kauft, die er nicht braucht. den schuhladen besucht er nur, um julia zapato zu sehen, dabei traut er sich jeweils nicht, keine schuhe einzukaufen. sie ist nun in der theater-gruppe und entdeckt ihre komödiantischen talente.
hetor jardin ist auf der insel sesshaft und ein sehr aktiver insulaner. er findet freundinnen und alle haben ihn ins herz geschlossen und hoffen, dass er noch lange auf der insel bleibt.

daß sie mir … (u.a.)

1 daß sie mir …

daß sie mir
beinah’ das
blau aus den
augen gebrannt
die schwarze
flamme die
zum himmel

fuhr :

so blau das
drunter
und drüber

2 wie nach einem …

wie nach einem
diluvium
uns leicht fächelt
ein ölzweig
in der gestalt
eines windhauchs
den uns bringt
eine taube
in der gestalt
eines offenen

fensters

und da er von
dem wein trank
ward er trunken

ersten mose neun
einundzwanzig

3 die um dich …

die um dich
sind die
sich suchen
deren zeit
nie um ist
und deren
stunde schlägt
bei jedem
wieder-
erkennen
wie ein herz

ganz von selbst

4 die anstatt …

die anstatt
tot zu sein
nicht tot sind
die anstatt
not zu haben
keine not haben
dir zu
verstehen
zu geben
daß du anstatt
zu begreifen
immer nur
wörter hörst

oder auch
bahnhof
(den aber
versteh’ ich)

Nahe München. stop. Ein gelungenes Gespräch von Mensch zu Mensch

pic

echo : 15.12 – Das Mädchen steht im Zug neben meinem Koffer, der sie überragt. Gerade noch hat sie den Himmel betrachtet. Der Himmel bewegt sich heute schneller als sonst. Aber jetzt sieht sie mich an, lächelt, sagt, sie heiße Jaqueline. Das ist ein sehr schöner Name, antworte ich, wie alt bist Du denn, Jaqueline? Rasch schaut das Mädchen zu seiner Mutter hin, schaut nach, ob alles in Ordnung ist. Dann hebt sie die linke Hand und dort einen Finger und noch einen Finger und noch einen Finger, ihre zweite Hand kommt hinzu und ein weiterer Finger, so dass Jaqueline bald schon 7 Jahre alt geworden ist. Als sie den achten Finger hebt, hält das Mädchen inne. Sie sieht jetzt sehr unglücklich aus, vielleicht weil sie bemerkt, dass sie weiter zählen kann, als die Zeit in Jahren, die sie bereits lebt. Ja, sie sieht mich an und ich erkenne an ihren Augen, dass sie gleich weinen wird. Also hebe ich beide Hände und zeige mit meinen Fingern die Zahl 8. Kurz darauf kniet ein zweiter Finger nieder und ich zeige die Zahl 7, und Jaqueline macht meine Bewegung nach, und weil sie bereits ein sehr waches Kind geworden ist, sinken zwei weitere Finger und ich mache es ihr gleich und wir lassen beide unsere rechten Hände sinken. Jaqueline wird fünf, dann vier, dann drei. Als Jaqueline zwei Jahre alt geworden ist, bemerkt sie, diesmal mit Trotz im Gesicht, dass etwas nicht stimmt, weil noch immer drei, nicht zwei meiner Finger aufrecht zu sehen sind, und sie betrachtet den Himmel, der sich schneller bewegt als sonst, und sie betrachtet mein Gesicht und zunächst die Augen, dann den Mund ihrer Mutter und jetzt bewegt sie ihre Hand und sie sagt, nein, soviel, und zeigt mir das Ergebnis ihrer Arbeit und lächelt und leuchtet, nein, glüht vor Glück, als auch ich meinen vierten Finger in Bewegung setze.

Wetterfühlige Möbel

Auch leblose Gegenstände sind wetterfühlig. Gestern – die Temperaturen waren über Nacht noch um ein zwei Grad weiter gefallen, war unseren Einrichtungsgegenständen deutlich anzumerken, dass ihnen nicht wohl war bei der Kälte. Gereizt standen sie in den Räumen herum und verbreiteten schlechte Laune. Wenn ich mal innehielt und tief durchatmete, konnte ich die Möbel maulen hören. Aus dem Schrank, in dem unsere Hausapotheke untergebracht ist, drang lautes Jammern. Am liebsten hätte ich in dem Moment alles Überflüssige aus der Wohnung geworfen, doch auch meiner Frau, die sich von ihrer Operation am letzten Donnerstag erholt, ging’s nicht gut. Bleich und lustlos lag sie auf dem Sofa. Nach dem Mittagessen war die Stimmung im Haus bereits bis zum Reissen gespannt. Ich spürte, wie die Stühle am Esstisch nur auf einen Anlass warteten, ihren angestauten Aggressionen freien Lauf zu lassen. Dann, so gegen 15 Uhr, geschah’s: Meine Frau war im Badezimmer und plötzlich hörte ich sie nach mir rufen. Sie kauerte auf der Kloschüssel und starrte hinein. Ich hörte es zischen und dachte erst, sie uriniere, doch dann sah ich, dass es Blut war, was da in einem kräftigen Strahl aus ihr herausschoss. Es gelang uns nicht, die Blutung zu stoppen, starke Schmerzen kamen hinzu, und so packte ich sie in dicke Tücher, trug sie ins Auto und fuhr zum glücklicherweise nicht fernen Hospital. Wie sich herausstellte, war die Naht aufgeplatzt. Zu allem Übel hatte sich ein Blutpropfen am Scheidenausgang gebildet, so dass das Blut sich dahinter staute und nur durch ein sehr kleines Loch hinausfand.
Als ich sie am Abend wieder nach Hause brachte, konnte sie des starken Blutverlusts wegen kaum noch aufrecht stehen, immer wieder sackte ihr in meinen Armen das Bewusstsein weg. Wenigstens hatten sich die Temperaturen etwas erholt, es regnete nicht mehr und die Möbel in unserer Wohnung boten – etwas versöhnt – Hand, wenn sie sich an ihnen abstützen musste.

Ode an die Büroklammer

Wie fast alles, was aus der Zivilisation nicht mehr wegzudenken ist, haben die Sumerer die Büroklammer erfunden. Ich habe keine Ahnung, wie man sich das vorzustellen hat, falls die Steuererklärung auch damals schon so fett war – jedes Blatt eine Tontafel. Es muss ein Konstrukt von den Ausmassen meines Wäscheständers gewesen sein. Dass Büroklammern einmal Symbol des norwegischen Patriotismus und Zeichen der Königstreue waren, ist geradezu romantisch, besser als jedes Schweizer Sackmesser. Ich mag Büroklammern sehr. Ich habe immer ein paar Nobelexemplare auf Lager für feierliche Post und massenhaft billige, um denen vom Steueramt meine Verachtung mitzuteilen (da ich ja nicht den Wäscheständer schicken kann). Als Kinder haben wir uns aus Büroklammern Halsketten und Armreife gebastelt, sogar Ohrringe, nachdem wir uns die Ohrläppchen mit Nähnadeln gelocht hatten. Damit blieb man dann des öfteren schmerzhaft hängen, denn die Klammerketten konnten nicht lang genug sein. Heute fädle ich Büroklammern zusammen, wenn ich mal wieder vergeblich versuche, mir das Nägelkauen abzugewöhnen oder weniger zu rauchen, oder wenn die Noppenfolie ausgegangen ist oder wenn ich mit oder ohne Grund nervös bin (macht sich recht gut im Vorzimmer einer Behörde oder eines Personalchefs). Man kann mit Büroklammern eine Leimtube entstopfen, Schlösser knacken, Schinkenscheiben ordentlich beisammenhalten, Dreck unter den Zehennägeln hervorpulen (die Fingernägel sind kurzgefressen, aber an die Zehen kommen die Zähne nicht ran). Es gibt nicht viel, was man mit Büroklammern nicht tun könnte. In unserer Familie kursierte sogar die Legende von einer elfenschönen Sekretärin, die an einer Büroklammer erstickt sei, weil sie während der Arbeit säckeweise Erdnüsse vertilgte, in die in der Hitze des Diktats auch hin und wieder Büroutensilien hineinfielen. Die Büroklammer kennt nur ein einziges Tabu: sie darf nie, niemals als Buchzeichen missbraucht werden.

Summchöre, Streicher (notula nova 2)

Visperterminen im Oberwallis. (Das auffällig gewordene Kleine). Dagegen: das Geheimnis der Andenbären (im TV-Programm). Der Fernseher ist kaputt. Überhaupt: Tierwelt.

Überhaupt: Wort Kammer Spiele

(Auf dem Aschenbecher, fast eine Kinderschrift: chi compra è mia mogli chi paga sono io.)

Kurz vor dem Regen: Grande Duelle, Parte Prima (Luis Bacalov). Summchöre, Streicher.

Ein king 500 pieces puzzle. 14“ X 19“. Foals. Die Unschärfe der Weide am unteren Bildrand erschwert die Einrichtung des Rahmens. Erste Arbeit hier: die Selektion der Rahmenelemente aus dem Oberflächengros. Mühsame Rekonstruktion. Am ersten Tag nur wenig Paarbildung.

Die Lamas in der Nachbarschaft haben Nachwuchs bekommen. Das Zweitgeborene, Schwarze mit den weissen Beinen, findet die Zitzen der erschöpften Mutter nicht. Die Mutter wird gemolken. Das Kleine bekommt das Gemolkene mit dem Schoppen. (Lama-Trekking in der Schweiz. Eigenes. Alterität. Und so weiter.)

Eine Abendstimmung in Öl. Gerötete Wölkchen. Hellblaues, ins Blaue geschwenktes Firmament. Wiese im Wind. Laubwald, Horizontale. Der Rahmen (Gold, gülden, verbraucht) in der Fläche, Summe, Grösse: entsprechend diesem Sujet. 1:1. (Ist das schon Ironie?).

Ich schweige, geschwätzig nur meine Texte. (Ein Aschenbecher fällt vom Balkon.)