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„Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft“ (Essay)

Ist Witold Gombrowicz’ Tagebuch so etwas wie die Urform des literarischen Weblogs? Diese Frage stelle ich mir, seitdem ich angefangen habe, die gesammelten Tagebucheinträge zu lesen. An einer Stelle schreibt er: „Ich schreibe dieses Tagebuch nicht gern. Seine unredliche Aufrichtigkeit quält mich. Für wen schreibe ich? Wenn für mich, weshalb wird das gedruckt? Und wenn für den Leser, weshalb tue ich so, als spräche ich mit mir selbst? Sprichst du so zu dir, daß es die anderen hören?“ (S.59. Alle Zitate aus: Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. Fischer Taschenbuch 2004 bzw. Carl Hanser Verlag 1988) Wer ist dieser Herr Witold, dieser Gombrowicz? (Ich möchte, übrigens, um Nachsicht bitten dafür, daß ich mich mal wieder nicht mit der aktuellen Literaturproduktion beschäftige; ich weiß, da heißt es wieder, der Schlinkert mit seiner seltsamen Neigung zu Gutabgehangenem, zu all diesem alten Zeugs … doch wer mich kennt, der weiß, daß ich mich ausschließlich mit aktuellem Gedankengut beschäftige, ob es nun diese Sekunde veröffentlicht wird oder von Hesiod stammt.) Also: Gombrowicz, Witold, polnischer Schriftsteller, großer Erfolg in Polen 1938 mit seinem ersten Roman ‚Ferdydurke’, einem wunderbar absurd-komischen Roman mit hintergründigem Ernst, der imgrunde auch einen Diskussionsbeitrag zu der Frage darstellt, wie es um den Diskurs zwischen den altständigen und den modernen Polen bestellt ist. Im Jahr 1939 wird Gombrowicz in Buenos Aires vom Ausbruch des Weltkrieges überrascht und bleibt bis 1963 in Argentinien. Dort kleiner Bankangesteller zwecks Lebensunterhaltssicherung, ist er aber vor allem Schriftsteller und – quasi öffentlicher – Tagebuchschreiber, denn von 1953 bis 1969 werden seine jeweils nur mit dem Wochentag datierten Eintragungen in der in Paris erscheinenden polnischen Exil-Zeitschrift Kultura veröffentlicht. (Siehe dazu: Editorische Notiz. a.a.O. S.993.) Es ist also zunächst eine nur kleine Öffentlichkeit, bis dann 1957, 1962 und 1967 polnische Buchausgaben erscheinen.

Was nun macht Witold Gombrowicz so aktuell? Im Klappentext der Taschenbuchausgabe heißt es, Gombrowicz’ Überlegungen zu Themen wie Marxismus, Katholizismus oder Homosexualität seien unerwartet und wiesen auf verblüffende Zusammenhänge, sie seien aufschlußreiche Pamphlete gegen jedwede Lüge und Ideologie – so weit, so gut. Was mich nun unter anderem besonders interessiert sind aber die Fragen, die ich mir als „literarischer Blogger“ stelle (was für ein ekliger Begriff dieses „Blogger“ doch eigentlich ist, fast kommt es einem hoch!), denn wenn das literarische Weblog Literatur ist, die sich vermittels neuer technischer Möglichkeiten direkt und unvermittelt aktuell an Leser:innen wendet, dann scheinen mir diese Tagebuchbeiträge, zumindest in ihrer so schnell als möglich gedruckten Form, als eine Ur- oder Vorform des literarischen Weblogs. Der Vergleich mit Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel. Anderswelt drängt sich dabei geradezu auf, und das nicht nur, weil Die Dschungel ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag darstellt zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur (möge die Literaturgöttin dafür Sorge tragen, diese Beiträge der Nach-Welt zu erhalten!), sondern vor allem, weil beide Schriftsteller eine kompromißlose Haltung zu allem was Literatur ist und sein kann offen (aus)leben, weil beide sich mit einer hohen Risikobereitschaft an ein oder ihr Publikum wenden, ohne Liebedienerei und falsche Bescheidenheit. Deckungsgleich sind die Ansätze deswegen natürlich nicht, schon allein dadurch bedingt, daß ein Alban Nikolai Herbst dem tagebuchartigen Eintrag meist unmittelbar Weiteres folgen läßt, nämlich als direkte Reaktion auf Leser:innen-Kommentare. Diese Unmittelbarkeit ist sicher das eigentlich Neue und erweitert das Genre des Tagebuchartigen.

Vor- oder Urform also des literarischen Weblogs der Haltung zum Schreiben, zum Künstlersein wegen und vor allem auch aufgrund der so gelebten und gestalteten Beziehung zu den Leser:innen!? Doch birgt diese Art, sich an ein Publikum zu wenden, naturgemäß auch allerlei Gefahr in sich – die nämlich, sich trotz aller Offenheit selbst in die Tasche zu lügen. Gombrowicz schreibt: „Die Falschheit, die schon in der Anlage meines Tagebuchs steckt, macht mich befangen, und ich entschuldige mich, ach, Verzeihung … (aber vielleicht sind die letzten Worte überflüssig, sind sie schon affektiert?)“ (S.60.) Dies schrieb er 1953, und man sollte bedenken, daß er als Exilant in einer dauerhaft mißlichen Lage war, schon allein deshalb, weil er sich seine Leser unter seinen (fernen) Landsleuten zu suchen hatte und sein Heimatland zugleich noch unter der Knute des Stalinismus wußte  – wenngleich, auch das scheint mir bedenkenswert, er immerhin als Fremder in einem Land auch durchaus kleine Freiheiten hatte, die ein einheimischer Künstler, der sich als Künstler im eigenen Land fremd fühlt, was nicht selten der Fall ist, niemals haben kann. Was aber trieb nun unseren Autor zu dieser öffentlichen Form des Schreibens, zum reflektierend-nachdenklich-erzählenden Tagebuch? Das zuletzt Zitierte weiterführend schreibt Gombrowicz: „Dennoch ist mir klar, daß man auf allen Ebenen des Schreibens man selber sein muß, d.h. ich muß mich nicht nur in einem Gedicht oder Drama ausdrücken können, sondern auch in gewöhnlicher Prosa – in einem Artikel, oder im Tagebuch – und der Höhenflug der Kunst muß seine Entsprechung in der Sphäre des gewöhnlichen Lebens finden, so wie der Schatten des Kondors sich über die Erde breitet. Mehr noch, dieser Übergang aus einem in fernste, fast untergründige Tiefe entrückten Gebiet in die Alltagswelt ist für mich eine Angelegenheit von ungeheurer Bedeutung. Ich will ein Ballon sein, aber an der Leine, eine Antenne, aber geerdet, ich will fähig sein, mich in die gewöhnliche Sprache zu übersetzen.“ (S.60.)

Vereinfacht gesagt ringt Gombrowicz in seinem Schreiben insgesamt darum, als Künstler Mensch und als Mensch Künstler zu sein – daß dies nicht im Verborgenen und nicht in aller Bescheidenheit vor sich gehen kann, liegt in der Natur der Sache. Anmaßung ist hier das Stichwort, und wer Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel in den Jahren aufmerksam verfolgte, der weiß, wie oft Kommentatoren Herbst angriffen wegen seiner vermeintlichen Eitelkeit, seiner vermeintlichen Großtuerei. Auch Gombrowicz muß diesem kleingeistigen, imgrunde unterwürfigen Denken ausgesetzt gewesen sein, denn er bezieht klar Stellung zur Seinsweise des Künstlers (und weist zugleich seinem Tagebuchschreiben, indem er es nicht für sich behält, den Sinn und Platz innerhalb seines Gesamtwerkes zu). Er schreibt: „Ich weiß und habe es wiederholt gesagt, daß jeder Künstler anmaßend sein muß (weil er sich einen Denkmalssockel anmaßt), daß aber das Verhehlen dieser Anmaßung ein Stilfehler ist, Beweis für eine schlechte »innere Lösung«. Offenheit. Mit offenen Karten muß man spielen. Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft.“ (S.61.) Dschungel-Leser wissen, daß Alban Nikolai Herbst dieselbe Überzeugung lebt, die er in seinem Weblog den Lesern folgerichtig nicht vorenthält. An einer Stelle schreibt Herbst: „Künstler jedenfalls, wenn sie das sind und also etwas zu sagen haben, kämpfen mit offenem Visier. Ausnahmslos. Schon, um ihre ästhetische Position zu bestärken, was wiederum ihr Werk stärkt und durchsetzt.“ (Interessant hier die doppelte Bedeutung von Durchsetzen: einmal im Sinne von Durchdringen, das andere Mal im Sinne von Erfolg auf dem Literaturmarkt.)

Das zugleich intime und zur Einsichtnahme gedachte Tagebuch ist ja bekanntermaßen keine Erfindung unserer Tage, das sei noch kurz angemerkt, sondern ist hierzulande seit gut dreihundert Jahren Bestandteil der literarischen Welt. Oft wurden Tagebücher zu Memoiren, eigenen Lebensbeschreibungen bzw. Autobiographien oder auch Romanen verarbeitet, man denke nur an die Memoiren der Glückel von Hameln (Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, veröffentlicht 1910), Ulrich Bräker, Salomon Maimon, Adam Bernd, Heinrich Pestalozzi, Johann Heinrich Jung-Stilling, Karl Philipp Moritz und viele andere, wobei die gezeigte Offenheit oftmals einen stark aufklärerischen Impetus hat (Adam Bernd, Pestalozzi, Jung-Stilling), durchaus aber auch schon den Protagonisten zugleich als Künstler heraushebt (Bräker, Moritz), der als solcher das eigene Leben schreibend auf eine Art offenbart, die auf eben diese künstlerische Art hinaus in die Welt muß. Die Möglichkeit, als Schriftsteller Tagebucheinträge (so wie Gombrowicz) fast unmittelbar in einer Zeitschrift, beziehungsweise sie heutigentags tatsächlich unmittelbar auf einer eigenen Website unter Klarnamen zu veröffentlichen, ist somit nichts weiter als eine Erweiterung der Möglichkeit, in aller Offenheit und auf zugleich höchstem Niveau als Künstler zu sein und zu wirken und (s)ein Werk zu schaffen.

Die göttliche List – ein Purim Schpiel (Entwurf 1)

Prolog

DER NARR: Seht her, die Bühne ist heut’ zaubertoll
von finst’ren und von listigen Gestalten.
Wir alle sind verwandelt, uns’re Gläser voll
nicht nur vom Wein, auch weisem Rat der Alten.

Ich bin’s, der Narr, der scheinbar nur ist närrisch,
der euch erzählt ein lehrreich’ Maskenspiel,
wie man sich wehrt dagegen, was sich herrisch
gegen uns gewandt und gegen Menschlichkeit als Ziel.

Nicht nur zur Zeit in Persien gab es nichts zu lachen,
auch heut’ noch gibt es welche, die zum Eigennutz
nach and’rer Wohl und Leben trachten,
verborgen hinter neuer Mauern Schutz.

Doch seht, wie man mit gottgegeb’ner List
und ohne jed’ verschlag’ne Tücke
am Ende doch derjen’ge ist,
der lachend schließt die Trauerlücke.

Denn wer zuletzt lacht, lacht am besten
und trinkt den Kelch zur Freude leer –
mit Feinden, die geworden sind zu Gästen,
wenn wir uns machen nicht das Leben schwer.

Die Verschwörung

AHASVEROS: [sichtlich trunken] Ich bin Ahasveros, ein guter König,
weil vielen alten Wein ich hab’ in neuen Schläuchen.
Ich schenk’ ihn gern euch allen ein und stöhn’ nicht.
Doch wenn er schwappt in meinen schwang’ren Bäuchen,

geschieht’s, dass man mir Trunk’nem flüstert ein,
dass solcher Wein doch fließe nicht genug,
wenn Fremde gössen sich davon in uns’rem Lande ein.
Die tränken einfach mit und solches sei Betrug.

HAMAN: [diplomatisch säuselnd] Wohl wahr, mein König, an eurem Busen saugen
Schlangen mit, ein schlimmes Volk von Bettlern.
Die wollen uns und uns’ren Wohlstand auszerlaugen
und machen ohn’hin überall nur schlechtes Wetter.

So bin ich dir ein treuer Diener, wenn ich empfehle:
Ich schaff’ sie dir vom Leib durch Mauern, die sind Mord.
Wir lassen keinen rein in deine Hofgefilde,
und wer doch kommt, den jagen wir gleich fort.

DER NARR: So sprach der Satte (einst wie heut’) sich selbst
und seinem König aus der schwarzen Seele.
Und lauschst du auf den Straßen: es gefällt
so manchem, dem der Hass so heimlich schwelte

in vom Wohlstand stolz geschwellter Brust.
Und jene riefen: Ja, wir haben nichts zu teilen,
schon gar nicht uns’re feiste Lust.
Woher die kamen, da sollen sie auch bleiben!

Und so geschah’s, Ahasver folgte falschem Rat.
Und so geschieht’s noch immer heute in Europa,
jener Festung, die dem Mitmensch gute Tat
verweigert und aussperrt all die „And’ren“ aus Utopia.

Die erste List

MARDOCHAI: [im Bettlergewand vor Ahasveros tretend]
Ein solcher bin ich, der hier vor euch tritt,
nicht euren Wein, doch euer Mitleid achtend.
Bevor ihr zum Gesetz erweitert jenen Schritt,
bedenkt, dass and’re als wir euch nach dem Leben trachten.

Es ist zum närrisch Werden, was geschieht!
Lasst euch darum nicht von den falschen Zungen narren.
Vielmehr erkennt, wie Narren, den’n die Narrheit flieht,
euch vor dem Irrtum woll’n bewahren.

AHASVEROS: Was willst du, weiser Mann, mir raten?
Dass ich auf dich hör’ statt Vertraute?
Zu trunken bin ich wohl, dass solchen Taten
nicht folgen sollte, was solch’ „Whistleblow“ verlautet.

Man kleide dich in meine Kleider, und setz’ dich auf mein Ross.
Für’s erste glaub’ ich dir, mein trauter Freund,
doch ist, was aus der Flasche in mich floss,
noch keine Träne, die dir nachgeweint.

Die zweite List

DER NARR: Tja, so sind die Herrscher, deren Hintern
breit sitzt und schweißig klebt auf Plüschgethrone.
Sie wissen, wie zu überwintern,
solang’ vom Sommerwein sie haben einen in der Krone.

Allein: Obwohl dem Haman solche Abfuhr ward erteilt,
der Schlimme lässt noch lang’ nicht locker.
Er volksentscheidet landesweit
und steigt als Demagoge auf den Hocker.

Das Wandervolk, es passe nicht auf Blut-und-Berge-Erde,
es sei die Plage, die es auszutilgen gilt.
Und ach, er findet in des Heimatvolkes Herde
so manches Schaf, das blökte breit auf seinem Schild.

ESTHER: Doch noch ist unser Tage Abend nicht.
Ich hab’ noch eine List, die wie einst Josef bei dem Pharao
uns kann des Herrschers Gunst verleih’n Gewicht.
Wartet ab, denn jetzt kommt meine Solo-Show! [tanzt]

AHASVEROS: [noch trunkener] Wer bist du, Schöne, die mich so betört?
Von woher stammt dein überhübscher Arsch?

ESTHER: Ich bin aus Juda, dem ich nicht abschwör’,
aus jenem Volk, das du verfolgst so harsch.

Doch sag’, wenn ich dich wie der Wein berausche,
der auch nicht auf den deinen Hängen wächst,
was ist dann wert dein Ohr, das Haman lauschte,
der dir allein den Speichel, doch nicht die Tränen leckt?

AHASVEROS: So sei’s, dass ihr hier lebet und befruchtet
unser karg’ Gebirge zu dem Paradiese,
wo nur des Gotts Natur die Täler schluchtet,
doch nie ein Mensch den Mensch vertriebe.

Epilog

DER NARR: Die Narren, nicht die Herren haben Oberwasser,
all die Träumer von der bess’ren Welt.
Sie träum’n nicht nur, sie sind Erb-Lasser,
dass ein jedes, wo es ist, sich wohlgefällt.

Das war der Auftrag uns’res Gottes, als er uns
die Liebe, nicht den Hass und Neid hat eingegeben.
Und dazu noch die seines Reimens Kunst,
der wir uns einverstanden haben hingegeben.

Und schaut, habt Gott ihr darin je gesehen?
Auch er hat sich zum Purim-Fest verkleidet,
sein Wirken, von dem Her zum Hin zu gehen,
satyrhaft und wie ein Flüchtling sich verschleiert.

So ist das Fest, das wir heut’ feiern,
ein Fest der Liebe und – der List,
die manchmal, uns von Lästen zu befreien,
muss Licht sein über finst’rer Zeiten lange Frist.

Links:
Infos zum jüdischen Purim-Fest
Das Buch Esther
„lern! denk! schieß!“

Inhalt 04/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 04/2013 erschien am 14. Januar 2014.


In dieser Ausgabe:
Drohnen und Schreibwerkzeuge, lachende Möwen und revanchierte Narben, die Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert, alte Bäcker und Krötenschleudern, Lektorate ausgeschickter Fäden, Daniel Odija und Rainer Maria Rilke, schlummernde Brunnen und Glockenumzüge, die lefzenden Felle des Francisco Goya, Wandertriebe und Sitzen auf Bänken, Baldrian extra-stark und Kondome, Originalmeisen, Bootcamps, das Gewesene uvm.

INHALT:

Céline ist schuld! Einige wirre Gedanken zur Klarsicht

Ich habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen – oft hört man diese Formulierung, wenn jemand mit Leib und Seele Erfahrungen hat machen müssen, die ihm oder ihr das Weltbild zertrümmerten oder wenigstens schwerwiegend durcheinanderbrachten. Sicher, gelegentlich braucht der Mensch seine Portion unmittelbaren Bewegtseins, allein mit sich und seinen Gedanken oder in Gemeinschaft. In dem Roman Das Sägewerk von Daniel Odija wird ganz zu Beginn ein solcher Moment beschrieben: “Nach einer Stunde beruhigte es sich ein wenig, der Donner zog vorüber, doch die Blitze blieben. Immer noch rauschte das Wasser. Józef bemühte sich, keinem ins Gesicht zu sehen, denn sobald er hinschaute, blitzte es. Für eine Sekunde wurde es dann unheimlich. Er sah das Gesicht seiner Frau. Ihre Augen lagen im Schatten der Höhlen, und die Zähne schoben sich allzu deutlich zwischen den Lippen hervor. Sie wurde in Leichenlicht getaucht. Sie wollte ihm wohl etwas sagen. Irgendwie schienen ihre Zähne hervorzutreten. Offenbar sah sie auch in seinem Gesicht etwas, was sie nicht sehen wollte, denn sie machte bloß den Mund auf. Es gelang ihr, ein undeutliches a…a… hervorzustoßen. In diesem Moment dachte Józef, daß sich unter dem Gesicht, das wir bei Tageslicht sehen, immer das zweite verbirgt, das später einmal der Sargdeckel zudeckt.” Dieses Motiv des verborgenen Gesichts, oder auch das der Maske, die das eigentliche Gesicht verdeckt, findet sich häufig in der Literatur, etwa in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, und da sich das mit den Erfahrungen der Leser oder wenigstens doch deren Phantasie gut verträgt, öffnet dies nachspürbar die Schichten eines Textes und verweist buchstäblich auf alles Mögliche hinter der augenfälligen Realität. Bleibt ein Autor indes allein der Oberfläche verbunden, kann es blitzen wie es will, persönliche Erkenntnisse werden daraus nicht gewonnen – man denke nur an die Gewitterszenen in Adalbert Stifters Der Nachsommer, die zwar immer was auslösen, den Protagonisten aber seelisch unverändert lassen, obwohl er als Ich-Erzähler auftritt. So hat Stifter zwar sicher einen der schönsten Romane der realistischen Epoche geschrieben, Einblicke in das Wesen des Menschen aber gewährt er nicht oder nur sehr bedingt. Man sieht also die Welt nach der Stifter-Lektüre durchaus nicht mit anderen Augen, sondern eher mit denen eines anderen, während die Formulierung, man habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, ganz allein die eigenen Augen meint, und zwar im Sinne des Begriffes der Aufklärung. Dabei allerdings ist das berühmte “Sapere aude“, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, nur die eine Seite der Medaille, die andere aber steht für den Mut, die eigenen Untiefen zu erkennen, weswegen der Marquis de Sade ganz zu recht als einer der großen Aufklärer gilt, Arsch an Arsch gewissermaßen mit Immanuel Kant. Allerdings will man als gemeiner Erdenbewohner der Spezies Mensch weder ständig vernünftig, noch sich seiner meist gut verborgenen Triebe und Ängste dauerhaft bewußt sein; es reicht einem also völlig, gelegentlich seine Vernunft vernünftig einzusetzen und sich ab und an mal seine Durchtriebenheit beblitzen zu lassen, weswegen die meisten Leser:innen demzufolge den de Sade eher nur mal kurz ob der Beschaffenheit des menschlichen Wesens befragen. Für Kant gilt dasselbe. Der Grund liegt in beiden Fällen nicht ganz zufällig darin, daß sich beide Werke in Sachen Leserfreundlichkeit und Unterhaltsamkeit nicht besonders hervortun, woraus sich die Frage ableitet, wer denn das womöglich tat, also die Ergründung des menschliches Daseins verband mit ausnehmend guter Lesbarkeit. Geübte Leser mögen Kafka rufen und Beckett und Joyce und Thomas Bernhard, man mag auch an Knut Hamsun und sogar an Karl Philipp Moritz erinnern, sie alle und noch einige mehr vermögen einem die Augen zu öffnen und die Welt mit den eigenen zu sehen – doch all diese Texte bleiben immer noch ganz und gar literarische, kunstvolle Schriften, von einer dünnen Membran von der Wirklichkeit getrennt; man sieht nicht wirklich anders auf die Welt und die Menschen, wenn man grad Kafka liest, eher sieht man, denke ich, anders auf sich selbst. Wenn man nun aber Louis-Ferdinand Céline liest, so ist die Sache nicht mehr ganz so einfach, dünkt mir. Sein Erstlingsroman Reise ans Ende der Nacht, der 1932 in Frankreich erschien, ist nicht nur (in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel) ein grandioses Lesevergnügen, nein, er verändert auch im richtigen Leben die Sicht auf dieses und insbesondere auch auf die Menschen, denen wir begegnen. Jedenfalls geht mir das so, und warum sollte ich dann nicht annehmen, daß es allen so geht? Wie nur macht Céline das, wie ist seine Sprache beschaffen, um eine solch direkte Ansprache und ein so hohes Maß an spannungsreicher Unterhaltung hinzubekommen? Liegt es daran, wie lakonisch er erzählt, ohne aber dadurch auch nur irgendeine Form von Distanz zu schaffen? Ist es sein Verzicht auf Ironie? Sein Humor? In jedem Fall ist Céline schuld daran, daß ich, seitdem ich die Reise las, nicht mehr wie sonst attraktive Menschen inmitten der Massen ausmachen kann – manches Mal nicht mal mich selber! Und dabei ist es mir ja durchaus nicht neu, was er über die Erniedrigten und Beleidigten schreibt, so daß es also tatsächlich die Art sein muß, wie er schreibt, wie er die menschlichen Angelegenheiten beleuchtet – nicht blitzartig eben, sondern in Dauerbeleuchtung, denn der Ich-Erzähler und Protagonist ist immer wütend, wenn er auch nie außer sich, sondern im Gegenteil immer in sich ist. Sicher scheint mir, auch mit Blick auf seine menschenfeindlichen und antisemitischen Pamphlete, die ja aus der selben Feder und dem selben Geist stammen wie seine literarischen Werke, daß Céline einfach nicht anders konnte als sich wütend und haßerfüllt ganz und gar direkt sozusagen auszukotzen, wobei er aber immer Mensch blieb im Sinne seines eigenen Menschenbildes, denn wer an den anderen kein gutes Haar läßt, kann der ein guter Mensch sein? Nun ja, er hielt sich womöglich nicht selten durchaus für einen guten Menschen, oder er glaubte, auf der richtigen Seite zu stehen, ein Recht darauf zu haben oder sogar die Pflicht, widerliche Haßtiraden in die Welt zu setzen, die Menschen zwingen zu dürfen, quasi mit seinen Augen auf sich selbst zu sehen. Aber machen das nicht alle so, sind nicht alle Menschen gleich schlecht und böse? Im Roman Reise ans Ende der Nacht jedenfalls läßt er daran keinen Zweifel, der Unterschied ist nur, daß die einen an ihrer Bösartigkeit und Verworfenheit keine Schuld haben, weil sie von denen, die schuldig sind, die Reichen und Mächtigen, daran gehindert werden – eben dies macht den Ich-Erzähler ja so wütend, denn wer nicht schuldig sein, nicht schuldig werden kann, dessen Leben hat keinen Sinn. Céline jedenfalls kämpft, so sieht es für mich aus, sein Leben lang wie ein Berserker darum, schuldig sein zu können, satisfaktionsfähig gewissermaßen, ganz ähnlich wie der alttestamentarische Hiob, der Gott, der ihm sein Unglück ja eingebrockt hatte, zu einem Prozeß zwang, in dem er, Gott, Angeklagter und Richter zugleich war; eine Geschichte sicher ganz nach dem Geschmack Célines.

Also, wie gesagt, ohne diese Art der Aufklärung eines Céline wäre die Aufklärung keine wirkliche, denn sie würfe, wie noch lange Jahre nach Kant, weiterhin tiefe Schatten, in denen die Ungeheuer unserer selbst hausen und im wahrsten Sinne des Wortes unbehelligt ihr Unwesen treiben. Diesen Bereich ausgeleuchtet zu haben ist somit sicher ein Verdienst Célines, selbst wenn ich mich nun meinerseits bemühen muß, dieses Licht wieder zu dämpfen, denn wer dauernd im Licht der Erkenntnis leben muß, verliert sein Urvertrauen und am Ende seinen Verstand, so ist zu befürchten, und dann, dann ist endgültig ewige Nacht – und das kann ja wohl niemand wollen.

сердце

wo es schlug,
sich schlagend,
ward es kein trug,
mich wagend

hin und her zu dir.
wo es lag in schlaf,
wird es zu traumes zier,
dess’ pfeil uns traf.

nun blutet es wie deines
als traube, sultanine
eines honigweines
fleiß’ger biene.

oder hummelbrummen
in uns’rem heim
der schlummerbrunnen,
die plätschern hin den hain

wie wäldchen da im frühling
und sommer seine teiche.
wie herbstens süd-swing
in der wintererden weiche.

wir sind der norden,
halb tränend ostverseet.
und werden fordern,
dass ein segel geht

von diesem hin zu jenem hafen,
dass boote rudern fleiß,
auf dass im traum vom schlafen
würd’ unser herz noch heiß.

(для Юлия)

Editorische Notiz

••• Es geschieht nicht oft, dass ein Buch ein zweites Leben geschenkt bekommt. Einmal in der Welt, ist es für gewöhnlich dazu verurteilt, zu bleiben, wie es geboren wurde. Keine Entwicklung, kein Reifen. Da haben Autoren es besser. »Das Alphabet des Juda Liva« war mein Debüt-Roman. Als ich begann, ihn zu schreiben, war ich 21 und hätte mit Vehemenz behauptet, dass ich nie auch nur ein Wort an diesem Text würde ändern wollen. Wie man sich irren kann!

Die Originalausgabe ist 1995 im Ammann-Verlag, Zürich, erschienen und seit vielen Jahren vergriffen, ebenso die Taschenbuchausgabe, die 1998 bei dtv erschien. Als ich meinem Verleger vorschlug, eine Neuausgabe zu machen, hatte ich eigentlich nur im Sinn, dass der Text zugänglich bleiben soll. Dann aber begann eine Auseinandersetzung mit dem Roman, wie ich sie nicht erwartet hatte.

Als ich das Buch nach so vielen Jahren noch einmal gelesen hatte, wusste ich, dass ich den Text in der vorliegenden Form nicht erneut publiziert sehen wollte. »Es gibt kein wirkliches Gelingen«, heißt es im Kapitel 16: »Nur verschiedene Grade des Scheiterns.« Ich erinnerte mich sehr gut daran, was ich hatte schaffen wollen, und mit dem zeitlichen Abstand fühlte ich mich gescheitert. Ich meine gar nicht die echten Fehler, von denen es einige gab, zu viele! Geschichte und Konstruktion begeisterten mich wieder wie damals, aber was die Sprache betrifft, hätte ich den Autor von damals am liebsten an den Ohren gepackt: Was hast du dir nur dabei gedacht?!

Ich würde den Text überarbeiten müssen. So viel war klar. Aber »redlich«. Ich wollte nichts umstellen, nichts hinzufügen, aber unbedingt kürzen!

Ich arbeite elektronisch, allerdings nur bis zur Abgabe des Typoskripts an den Verlag. Korrekturen mache ich dann lieber auf Papier, in den Fahnen. So war es damals auch beim »Alphabet«. Eine elektronische Version des veröffentlichten Textes ließ sich nicht mehr auftreiben. Zur Verfügung standen lediglich die elektronische Fassung meines Originals, ein Ausdruck dieser Fassung mit sparsamen Korrekturen und natürlich das gedruckte Buch. Ich beschloss, die Bearbeitung auf Basis des Originalmanuskripts zu versuchen. Im Mai 2012 entstand eine erste Neufassung. Die gab ich meiner Lektorin, und als wir einige Monate später ihre Anmerkungen durchgingen, wurde mir klar, dass sie und zuvor natürlich ich selbst noch viel zu zaghaft gewesen waren. Ich würde noch einmal Satz für Satz durch den Text gehen müssen und zwar schonungslos.

Ich arbeite selbst gern als Lektor mit Autoren, seit ich in meiner Zeit als angestellter Journalist Tag für Tag mit dem Redigieren der Texte von anderen beschäftigt war. Ich wollte versuchen, nun meinen eigenen Text so zu behandeln, als wäre ich lediglich Lektor. Als solcher habe ich meine Autoren nie geschont. Sie hatten, im Gegenteil, einiges auszustehen. Das musste ich mir auch selbst zumuten können.

Eine Zumutung bedeutete das Vorhaben aber zunächst für die Frau, mit der ich, während der Roman 1991/92 entstand, zusammenlebte. Sie ist noch heute eine enge Freundin und erklärte sich bereit, eine Fassung zu erstellen, in der die Korrekturen des Ammann-Lektorats und meine Überarbeitungen aus der ersten Neufassung farblich gekennzeichnet waren. Hinzu kamen wertvolle Anmerkungen. Ihr Gedächtnis funktioniert besser und anders als meines, und sie erinnerte sich im Gegensatz zu mir noch an diverse Debatten auch inhaltlicher Natur. Es muss eine aufreibende Fleiß- und Erinnerungsarbeit gewesen sein, für die ich umso dankbarer bin, da die Auseinandersetzung mit dem Text durchaus auch eine persönliche war.

Egon Ammanns Lektoratshinweise waren, wie ich nun sehen konnte, ausgezeichnet. Wahrscheinlich wäre er damals schon gern weiter gegangen, als wir es taten. Aber ich gehe davon aus, dass es kein Spaß gewesen ist, mit mir zu diskutieren. Jetzt immerhin durfte ich dem Autor von damals seine Marotten austreiben, seine »Kunststückchen« eliminieren und kürzen, dass es ihn in seinem damaligen Selbstverständnis um den Verstand gebracht hätte.

Die Bearbeitung ist redlich geblieben. Neben den Kürzungen und Korrekturen wurden Rechtschreibung und Zeichensetzung so angepasst, wie ich es auch in meinen anderen Romanen handhabe. Gewissen Scheußlichkeiten der neuen Rechtschreibung werde ich mich auch weiter verweigern, und für die Zeichensetzung in der wörtlichen Rede habe ich gute Gründe.

Der Text dieser Neuausgabe ist also nicht nur gründlich und kritisch durchgesehen. Es ist eine Neufassung, die sich deutlich von der Originalausgabe unterscheidet. Sollte sie nicht also auch aus eigenem Recht einen neuen Titel erhalten? Der Maharal, der Hohe Rabbi Löw von Prag, hieß Jehuda ben Bezalel Löw. Niemand außer dem Autor dieses Romans hat ihn je als Juda Liva erwähnt. Fragen sie mich nicht, warum ich einmal meinte, ihn so nennen zu müssen. Ich weiß es nicht mehr! Und so lautet der Titel nun »Das Alphabet des Rabbi Löw«. Denn ein Löwe war er, der Maharal, ein König unter den Mystikern. Sein Werk und die Legenden um ihn begeistern mich heute noch unvermindert, und gern würde ich ihm oder einer Reinkarnation von ihm begegnen.

Ich weiß, ich sollte vorsichtiger sein mit meinen Wünschen…

»Das Alphabet des Rabbi Löw« wird in einer schönen Druckausgabe in Leinen Anfang nächsten Jahres im Verbrecher-Verlag erscheinen.

Farah Days Tagebuch, 17

Sonntag, 20. Oktober 2013

(Seit neun Tagen schizophren, danke, gut)

[… ] weigerst dich einfach zu sehen, dass ich es nie wagte, zu glauben, dass es auf mich ankäme. Musste mir das immer von anderen leihen, von dir zumeist, von Hütern, von Fremden. Niemand ist, wo ich bin. Ich, das sind immer die anderen; wer wüsste das besser als
– Du?
Nein, Du!
Wie läppisch wir sind.
Nehmt uns was weg, damit wir zu schreien lernen.

Liegt die Kraft wirklich im Mitfühlen und Einmischen? Außerhalb der Käfige und Bühnen tobt der Stellungskrieg, nur die Aufklärer haben bei uns einen guten Job, alle anderen verheizen sich. Niemand aus dem Dazwischen kommt jemals irgendwo raus; es gibt kein Raus.
In meinem Kopf die Stimme, immerzu leiert sie: compare, compare, compare, stunden- und tagelang, wieso sie Englisch spricht, ist mir nicht bekannt, viel weniger noch, mit was denn zu vergleichen ich aufgefordert werde. Mein Kopf ist ein bootcamp.
I would prefer not to
(love you, Bartleby)

Wir schaffen uns Meisen an in der Hoffnung, die würden die Originalmeisen neutralisieren, nicht wahr, Kampfmeisen, gewollte, stilisierte, getunte Meisen, die darüber hinwegpiepen sollen, wie verkorkst wir schon waren, als wir noch gar nichts dafür konnten

Käfige und Bühnen baue ich euch, sehr kleine. Sie kommen im Doppelpack, ein Käfig und eine Bühne, hängt sie nebeneinander ins Schlafzimmer, von der Decke. Sie sind leer und leuchten im Dunkeln. Nur so als Erinnerung.

„Hab’ ich jemals…?“
Noch so ein Satz, den ich nicht mehr hören will!

Ich hingegen liebe einen, für den wäre etwas Lebendiges zu unterlassen die größte Sünde von allen; er würde alles tun, nein, er wird alles tun…
Lass ihn.
Mach ich doch.
(„… Hast du heute schon über das Wort „immerzu“ nachgedacht?“)

Ruhe, Ihr. Was seid ihr nur für ein Pack, immer noch vom Fruchtwasser weichgespült, ich kann’s nicht mehr hören. Leckt euch endlich trocken. Scheiß Memmen. Echt aber.
Alles ist Botschaft! Alles! Wie solle eine das aushalten? Wie mache eine, dass sie nicht überglüht, vor lauter?
Indem sie formt!
Ah… das große Multilind, den letzten Eisbrecher, die getarnteste Kappe, such’ dir was aus. Es gibt kein Draußen, versteh’ das doch endlich, mein Dappes, du bist der Universalerneuerer, bist Teer und Federn, die Original- und die Kunstmeise. Vergolde dich.

– Hä?

Ich spreche von Wertschätzung.
– Ich nie!
Das ist es ja. Da liegt der Hase im Pfeffer und dort, leider, gefällt es ihm einfach zu gut, obwohl er eine blutige Nase hat vom Niesen, seit Jahren schon.
Hört’ mit den Scheißtiervergleichen auf. Denkt doch an alle diejenigen, denen es schlechter geht als euch, denkt daran, wie scheißunfair die Scheißressourcen verteilt sind, manche kriegen nur Neins ihr Leben lang und selbst das Nein müssen sie bewachen! Ihr suhlt euch in euren Pri

Halts Maul.
Okay, lasst uns erstmal frühstücken.

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Inhalt 03/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2013 erschien am 14. Oktober 2013.


In dieser Ausgabe:
Kollegen im Bärenkostüm, die Bildung des Freiburger Typus, Baschar al-Assads Armee, ein Sichentfernen von der eigenen Handschrift, roter Sand, Bier, Schnaps und ein paar Scheiben Toast, ein zur Brücke gewordener Mensch, Oranjes Prinz und einige dieser Bischofskröten, Vilem Flusser und die endlose Einsamkeit, das Amen des Zusammenhangs, Schall und Rauch in der Stadt, Philippe Petit, eine Papercam-Story, schwerelose Dinge, ein Filialleiter mit Glatze, Kira mit Rosen, ein verbellter Tag uvm.

INHALT:

оранжерея

wo ich hinschau’, ist orange:
farbe des hier mich erinnerns,
kindertagend her, so lange,
oft in fotos des beginnens …,

wenn nacht sich senkte über türme
in späten sommern auf balkonen,
als sanfter war’n noch herbstes stürme,
orangerien den kön’gen und baronen

sproßten nicht, doch standen stiller,
waren in ihr laub getauchter
hort der mandarinenkiller:
haut ab eingeschrumpfter trauer!

und trau’ mich endlich, mich zu färben.
im bunten mich dir anvertrauen
oranjes prinz dir ganz zu werden
und mich in dir jetzt anzuschauen.

früchte hängen hoch an zweigen,
kürbis reift nah an der erden.
nicht die zeit ist’s, abzuscheiden,
sondern sich wie’s laub zu färben.

den hagebutten will ich gleichen,
und auch im schatt’gen hain orangen,
und mit dir an mir selber reifen,
auf dass ein paradies wir fanden.

(для оранжевых Юлия)

(zwinkerlink: „orange minuet“ – musik: wendy carlos aus soundtrack zu stanley kubricks „a clockwork orange“, karaoke-text: ögyr 2003 / 2013)

Bad RagARTz (3)

hans-krüsi_kuh

Zeitgleich zur Bad Ragartz fand im Alten Rathaus des alpenrheinischen Kurstädtchens vergangenen Sommer die Ausstellung NAIFE KUNST mit Bildern des 1995 verstorbenen Hans Krüsi statt. Zu sehen waren von Krüsi bemalte und besprayte Pappen mit Alpenmotiven: Kühe, Pflanzen, Höfe. Bisweilen imposanter als die Bilder sind die von Krüsi selbst getackerten, verleimten, oft krumm und schief zusammengesetzten Rahmen. Wir fotografierten eine Touristin, die sich mit einem von Krüsis wild gerahmten Kuhbildern ablichtete. Die Ausstellungsräumlichkeiten waren durchzogen von gesetztem Muff, einer langlebigen mittelständischen Atmosfäre, die sich moralisch über die zu sehenden Werke zu erheben schien. Die wenigen Besucher, die knarzenden Treppen, der Wurm im Gebälk vermittelten der Ausstellung den Anschein einer privaten Angelegenheit. Ein Besucherpaar unterhielt sich, unter rein kapitalistischen Aspekten, lautstark über den Wert der Kunst. “Naife Gespräche”, schoß uns durch den Kopf und daß auf dieser Welt noch und nöcher das eine zum andern findet, indem es gegeneinanderprallt oder, meist, vor dem Aufprall in Lauerstellung verharrt, sich dabei spiegelt oder überlagert, am liebsten selber feiert und nach einem Weilchen Aufregung wieder versiegt. Und daß wir uns täuschen möchten. Und auch im Leben einmal richtig gute Kuhbilder fabrizieren.