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Inhalt 01/2011

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2011 erschien am 14. April 2011.


In dieser Ausgabe:
Savonette-Taschenuhren und Profiboxer, zerzauste Vögel, Kolonien der Triebstruktur, strahlende Teilchen, Umwege, abwärts, Matuschek und seine Taube, graue Lieblingshosen, Du!, missglueckte Worttrennungen, die Ersttraumbesteigung des Monte Borges, Erinnerungen an Japan, analoge Lesegeräte, gute Präparate, die Shanghaier Kunstszene, kastenförmige Wasserspeier, verwackelte Wandelhallen, Wolf von Niebelschütz, das Unstete, die Oase von Engendi, die Zeugung durchs Ohr als Verbrechen uvm.

INHALT:

Kolibri und Nymphe

Manteles Kolibri
Manteles Kolibri • © M. Rietze (2008)

Jener Mann, der mit freudiger Neugier auf mich zukam, erschien mir zunächst wie eine Karikatur, eine erbarmungslose Überzeichnung. Er war mit einem Körper geschlagen, an dem nichts zusammenpasste. Er musste als Kind unter Polio gelitten haben. Für jemanden seiner Generation, er war vielleicht zwanzig Jahre älter als ich, war das sehr ungewöhnlich. Sein linkes Bein war deutlich verkürzt und steif, ebenso sein linker Arm und seine linke Hand, die Hand eines Kindes, die er allerdings leicht und sogar anmutig bewegen konnte und mit der er mich einladend in sein Büro winkte. Er trug orthopädische Schuhe, deren unterschiedlich dicke Sohlen die Diskrepanz seines Wuchses ausgleichen mussten. In der Rechten hielt er einen schwarzen Gehstock mit silbernem Griff, ein Kolibri, wie ich später bemerkte. Als er sich umdrehte, sah ich, dass auch sein Rücken verformt war. Ein deutlicher Buckel zeichnete sich zwischen den Schulterblättern ab. Ich zögerte, ihm zu folgen, und er merkte es, drehte sich um, winkte noch einmal, lächelte und sagte in völlig unbeschwertem Ton: Kommen Sie, man gewöhnt sich daran.

Zutiefst beschämt, da er mein Taxieren, das ich selbst von anderen nur zu gut kannte und hasste, bemerkt hatte und dennoch mit einer Leichtigkeit darüber hinwegging, zu der ich selbst nie in der Lage gewesen war, folgte ich ihm. Dank seiner Schuhe und des Stocks ging er flüssig und aufrecht, beinahe energisch. Er steuerte auf eine Sitzgruppe im Eck seines Büros zu, bat mich, die Tür zu schließen und mich zu ihm zu setzen. Er zog eine goldene Savonette-Taschenuhr aus seiner Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und verkündete nach einem vergewissernden Blick, dass wir leider nur zwanzig Minuten hätten.

Dieses Mal, sagte er. Und er lächelte erneut unbefangen und gewinnend und setzte sich.

Als er den Deckel der Uhr schloss, rieb er kurz mit dem Daumen über das erhaben auf dem Deckel prangende Bild einer Nymphe. Seine Nägel waren perfekt manikürt und poliert. Mir fiel auf, dass seine Schuhe trotz der unterschiedlich dicken Sohlen ausgesucht elegant wirkten und wie nagelneu oder doch penibel gepflegt. Auch der Anzug musste maßgeschneidert sein, denn dem verformten Körper zum Trotz saß er perfekt. Um es kurz zu machen: Ich hatte einen Mann vor mir, der vermutlich nicht leicht an seinem körperlichen Los trug, dies aber mit Würde und zumindest scheinbarer Unbeschwertheit tat. Es kam mir vor, als hätte er seinem geschundenen Körper durch Zuwendung, schöne Kleidung und Accessoires eine Hülle geschaffen, die alle Unebenmäßigkeit und Beschwerlichkeit ausglich. Was für ein trotziges Statement, sich auf einen Gehstock mit Kolibri-Griff zu stützen! Welch Selbstverständnis, eine Nymphe zu liebkosen, wann immer man sich hatte vergewissern müssen, dass und wie viel Zeit vergangen war!

Manteles Kolibri
Lampornis calolaemus (Purpurkehlnymphe)

Unser Gespräch dauerte nicht einmal die angekündigten zwanzig Minuten. Er ließ mich wissen, dass er meine bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten aufs Genaueste verfolgt hatte und dass es ein Akt beispielloser Arroganz sei, mich als Entwickler bei ihm zu bewerben. Ich hätte, sagte er, genau zwei Möglichkeiten: ab sofort ein Team seiner Forschungsabteilung zu leiten oder aber augenblicklich zu verschwinden und ihm nie wieder unter die Augen zu kommen.

Das war meine erste Begegnung mit Professor Matana.

Ich brauchte keine Bedenkzeit. Dieser Mann, das spürte ich, würde mein Leben verändern. Vielleicht hatte er es durch seine bloße Erscheinung bereits getan, und ich wagte mir nicht auszumalen, was ich noch alles durch ihn entdecken würde. Also reichte ich ihm die Hand und sagte: Abgemacht. Damit war er zufrieden und lächelte wieder, diesmal spitzbübisch.

Sie sind also lernfähig, sagte er: Das ist noch ein Plus. Allerdings, setzte er hinzu, gebe es eine Bedingung, über die er nicht verhandeln könne.

Und die wäre? fragte ich.

Ich bestehe darauf, sagte er, dass Sie sich vorzeigbar machen. Wenn ich mit Ihnen arbeite, muss ich mich auch mit Ihnen sehen lassen können.

Dieser Satz traf mich wie der wohl gezielte Schlag eines Profiboxers. Es war ja nicht irgendwer, der mir damit deutlich zu verstehen gab: Ich kann nichts mit dir anfangen, wenn du dir selbst nichts wert bist.

aus: »Pan schweigt«,
© Benjamin Stein (2011)

 

Exultate, jubilate!

Weg Libido! Weg, Bücher! Körper, weg!
Ihr wollt mir alle doch nur an die Leber.
Weg, Liebes-Hudelei! Lass keinen ran.
Und wenn Ihr mir mit Kränen auf den Leib rückt:
Geht besser nach Kamtschatka oder Leipzig,
Baut Euch im Umkreis Kolonien, benennt sie
Nach mir (So: Filips-Kongo. Oder: Christograd),
Errichtet Zoos, Gedächtnisorte, Nightclubs,
Schreibt Hausarbeiten zu meinen Gedichten,
Bringt mich ins Ungarische, pflegt mich, fleht nur –
Das alles lässt mich kalt. Ich, die Grandezza,
Bin schnellen Herzens, geh zu Bett um neun.
Verlier mich nicht im Denken, spekulier
Auch jetzt nicht länger mehr auf Euren Anruf
– Ob jemand etwa grad bereit zu teilen
Mit mir sein bisschen Leben, Arbeit, Triebstruktur –
Ich leg mich einfach schlafen. Sage laut:
Legenden wachsen weiter. Bis sie wahr sind.
Der Teufel prahlte mit dem Glauben fauchend.
Ward zur Substanz. Und gab sich hin: dem Geist.

*
Christian Filips
Para-Riding nach „Rejoice, Liars„
Mehr demnächst im gemeinsam mit Monika Rinck verfassten roughbook 013, Riding & Para-Riding.

prypjat

9

echo : 5.57 – Die Stadt Prypjat an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1986. Dunstige Haut lag über farbigen Bildern des Films, spielende Kinder vor Häuserblocks, ein Karussell, ein Riesenrad, flanierende Bürgerinnen und Bürger, Alltag, Frieden. Manche der Menschen trugen Taschen, andere hielten ihre Söhne und Töchter an der Hand, ein Dreirad glaubte ich gesehen zu haben, Bäume von hellem Grün, und den Himmel, wolkenlos. Aber da war noch etwas anderes gewesen, etwas Unheimliches, da waren Punkte, Kreise, helle Erscheinungen, in Bruchteilen rasender Zeit tauchten sie auf und waren sofort wieder verschwunden. So rasch und so unerwartet traten sie aus der Bewegung des Filmes hervor, dass ein menschlicher Betrachter nicht sicher sein konnte, ob die Erscheinung, die er gerade wahrgenommen hatte, tatsächlich zu sehen oder nicht ein Irrtum seines Gehirns gewesen war, helle Schirme, pelzig, weich. Dieses blitzende Licht, das ich vor einigen Jahren beobachtete, zeigte Verletzungen des bildtragenden Materials an, Verheerungen, die durch strahlende Teilchen des brennenden Graphitreaktors zu Tschernobyl verursacht wurden, Teilchenspurlicht, deshalb so unheimlich, so tragisch, weil dieses Licht in den Augen des Filmbetrachters von einer späteren Wirklichkeit aus wahrgenommen werden konnte, nicht aber von jenen Menschen, die sich in der Wirklichkeit der Aufnahme vor der Kamera bewegten durch einen lebensgefährlichen Tag, den sie für einen glücklichen Tag ihres Lebens gehalten haben mochten, weil niemand sie vor der unsichtbaren Bedrohung, die sich in der Atmosphäre befand, warnte. – Ich muss meine Erinnerung sofort überprüfen.

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Statt Tauben

Heute sitzt die erste Taube sehr früh auf dem Schlag und fliegt nicht hinein, obwohl Herr Matuschek weiß, wenn sie hineinflöge, hätte er den Wettflug für sich entschieden. Er beobachtet sie, nimmt sie mit der Flasche aufs Korn und ist schon ganz betrunken. Hält sich dann die Flasche vom Hals und macht es ihr auf dem Erdboden vor, wie man hineinzufliegen hat. Dabei kriecht er und schuppt sich den Bauch auf, na und? Rucke-di-du macht die Taube währenddessen über ihm.
Na warte Liebchen, sagt er noch hitzig dem Erdboden zugewandt und rappelt sich wieder auf, damit du es weißt: Ich reiß dir die Federn aus und stopf dich ins Flugloch zurück. Sagt’s und versucht im gediegenen Seemannsschritt seinem Täubchen näherzukommen, was hier bedeuten soll, die Leiter zum Schlag beim dritten Versuch schon zu ergreifen und sich dann an ihr emporzuklimmen, bis er mit beiden Beinen auf der vorletzten Sprosse zum Halten kommt.
Derweil sein Täubchen gurrt und trippelt ganz aufgeregt auf dem Dachgiebel hin und her, es ist doch ein wenig sonderbar, was heute geschieht, schließlich steckt hier nicht jeder in einem Federhemd und hält sich durch mit Luft gefüllten Röhren auf den Beinen.
Währenddessen kümmert Herr Matuschek sich nicht um die Verkehrung solcher Tatsachen, schließlich hat das hier immer noch ein Wettflug zu sein, den er gewinnen will, was nützt ihm da die Taube auf dem Dach. Hinein soll sie, das muss sie doch verstehen, er macht es ihr mit großer Geste vor, dass sie sich eingeladen fühlen kann, hinein heißt in den Taubenschlag und durch das Einflugloch, heißt –
Dass das Täubchen mit dem Köpfchen ruckt und immer aufgeregter in Bewegung gerät, nur leider in die falsche Richtung, denn anstatt Matuscheks Einladung Folge zu leisten und sich an seinen Handbewegungen entlang geradewegs ins Innere des Daches geleiten zu lassen, nimmt es eher noch Abstand und zieht sich leichtfüßig auf die Mitte des Giebels zurück.
Matuschek ist darüber ganz empört, schließlich ist es immer noch seine Taube, die auf seinem Hausgiebel sitzt, und er hat ja auch noch mehr davon, fast könnte er sich mit ihnen eine Hochzeit ausrichten, bei der dann so viele weiße Tauben aufflögen wie er und seine Braut an Jahren zählten, an gemeinsamen wohlgemerkt. Jetzt aber geht es um die erste heute hier, die schon da ist, aber nicht hinein will, davon wird ihm ganz heiß im Kopf. Die Guten ins Köpfchen, die Schlechten in Töpfchen, sagt er sich auf einmal grinsend laut vor, bevor es ganz nach oben geht aufs Dach und der Taube hinterher.
Flugs erinnert sich diese daran, dass sie nicht nur Trippelfüßchen besitzt, und hebt ins Bodenlose ab, wo mittlerweile auch schon einige ihrer Mitstreiter darauf warten, in den Schlag hineinzukommen, den Weg hinein aber versperrt nun gerade der Matuschek, na und?
Die zweite Taube wäre immer noch die erste gewesen, aber es ist auch noch früh und obendrein darf auch nicht vergessen werden, in welchem Zustand Herr Matuschek schon auf dem Erdboden versucht hat, seinem Täubchen zu zeigen, wie man ordentlich ins Loch zu fliegen hat.

Stay tuned

Das Einzige, das zählt
im Leben,
ist der Beginn des Lebens,

alles andere ist
Zeitschleife
und Abwasch,

für manche
außerdem Erfolg
oder Sprachgewandtheit.

Wann es beginnt,
ist vollkommen offen –
für die einen mit Befruchtung,

für andere
während die Wagen
sich ineinander verkeilen.

Warte nicht
auf das eine oder andere:
Du wirst abgeholt.

Im Strampler oder
in der durchgesessenen
grauen Lieblingshose,

die langsam
für diese Welt
zu eng wird.

Gorrh (12)

Gorrh vor Gericht, hofft auf mildernde Umstände, bedeutet der bekittelten Bagage: „hömma, isch öffne dat Fenntil mejner subfiskularen Rakeetendrüse un in zwanzisch Kilometer Umkreis findse für die Zukunnf vorwiejend Feuerzauber Texas.“ Vor Gericht, mein Gott, vor Gericht! Es war umständehalber möglich, dorthinzugelangen. Die Wesenlosen aus den seelischen Bedingungen hatten Gelder für neue Alptraumtunnel zusammengetangelt, hatten die Werkstoffe („du sachs mir sofott aus wat Zement besteht, zackzack, sonns wirsse zur Regierungsstatue umjemodelt“), besaßen das Wissen, das Fachwissen und die wissenschaftlichen Gutachten, kurzum: sie hatten die Zeugen im Sack. Gorrh trägt Gewerkschaftskäppi „Solidarität“ mit Nelkenbrei-Applikationen. Hebt zur Rede an („Gorrh, sie sind nicht gefragt!“), die kleinen Männchen auf der Pressebank schleudern Blitze aus ihren Kameras. Nervende Blitze. Gorrh: „ihr Waxfiguurn happ dat doch eh allet in Fotoschopp!“ (Sieht so aus, als könnt er heut erneut ausflippen, dann aber Gnade den Anwesenden.) Gorrh: „achja, wesweenggng ich hier bin… Es gäb da einiges zu regeln, was soooo (Gorrh macht ein bisher unbekanntes Fingerzeichen, Anm. d. Red.) einfach nicht mehr weitergehen kann. Also bitte.“ Das Publikum atemlos gespannt. Natürlich braucht Gorrh nichts anzudeuten, jeder im Saal und an den angeschlossenen Bildschirmen weiß, daß es in Gorrhs Macht stünde, die riesigen Stechmücken zu entfesseln, den gesamten Geldverkehr der Lächerlichkeit preiszugeben, die Autobahnen aufzurollen etc, sieben mal sieben Plagen, und das wäre nur eine Zahl, willkürlich aus einem willkürlichen Zahlensystem gegriffen, über das Gorrh unsagbar erhaben andere Systeme aus Zahlen oder auch Nichtzahlen stülpen könnte, um zu beweisen: nicht um Zahlen geht es, es geht um Plagen. Kleinere Gerangel mit Ellbogenchecks zwischen Anklägern und Verteidigern, Hitlergrüße und Kommunistenfäuste von der Richterbank: „Ohne ideologische Hintergründe ist jede Verhandlung zwecklos.“ Gorrhs Augen rotieren in ihren Höhlen, sowas wie Kassensturz rumpelt hinter seiner Stirn und zwischen den Ohren, es macht plinky-planky und schradderradatsch.
An dieser Stelle bitten wir den Leser einen Zeitsprung von rund einer halben Million Jahren zu vollziehen. Was glauben Sie, in welche Richtung sich unsere Zivilisation entwickelt hat? Auf der Erde ist nicht mehr allzuviel Bekanntes, aber es trägt unsere Wurzeln. Menschliche Bienen fliegen summend einher und stacheln sinnlos in die Lüfte. In der geografischen Mitte der Erde, in der Nähe von Kassel, ist ein kastenförmiger Wasserspeier zu entdecken. Der Wasserspeier trägt Gorrhs Gesichtszüge und erinnert daran, wie nach den sogenannten „Prozessen“ aus Gorrhs ungläubigem („ich faß es nich, ich faß es einfach nich!“) Sabber der Rhein entstand. Die Menschen und Bienen der Zukunft kennen nämlich unseren Rhein nicht. Sie haben ihren eigenen, der in der Nähe von Kassel verläuft und nach Gorrh benannt ist. Das ist die Wahrheit über die Zukunft: die Menschen haben, um ihren eigenen Charakter zu überleben, sich den Insekten assimiliert – genau wie Gorrh es ihnen vorgemacht hat; bzw (und wie rum man es betrachtet, ist in diesem Szenario völlig egal) haben die Insekten (wie Gorrh es ihnen vorgemacht hat) ein paar menschliche Züge angenommen, eine Art Mimikry um des Mimikry willen. Nun wollen Sie aber wissen, was unterdessen mit Gorrh geschehen ist. Oder lieber doch nicht? So oder so – die nächste Folge (Gorrh (13)) liefert Aufklärung.