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Nichts ist geschehen

Auch an diesem Abend wird er auf dem Balkon stehen, weil es ein weiteres Puzzlestück seines Alltags ist, nach dem Essen eine Zigarette zu rauchen.

Hat er erst den Teller von sich geschoben, so wie eine vorübergehend abgelegte (schlechte) Angewohnheit, der er morgen lustvoll und ausgehungert wieder verfallen wird, lehnt er sich nach hinten, tief in seinen Rücken, bis er sein Rückgrat spürt, damit der Schmerz als Welle durch seine Muskeln schwappen kann, auf der er sich ins Leben zurücktragen lässt.

Während seine Frau die Teller abräumt, reibt er sich an der Lehne, dehnt und streckt er sich, um so die Spannung aus Bauch und Hemd zu drücken, will er doch nicht nur aus Unwohlsein bestehen; die Achs und Wehs, die seine Bewegungen begleiten, sind ihm genug Lebendigkeit. Überschäumen will er nicht, will zu keiner Lache werden, die man wegwischen muss.

Nach wenigen Minuten, die er mit den Explosionen in seiner Bauchhöhle umgebracht hat, schiebt er sich samt Stuhl in Richtung der Küchenzeile, vor der seine Frau tanzt und verzweifelt Reste von den Tellern kratzt. Er sieht nicht zu ihr hin, weil er sie ja kennt, viele Jahre schon, und es ihm nicht nötig scheint, deshalb öfter als wirklich nötig in ihre Richtung zu schauen. Sie ist ihm zu einem Geräusch geworden, zu einem Schatten, zu einer dunklen Ahnung, die ihn nicht verlässt, so sehr und oft er heimlich auch schon darum gefleht hat.

Er drückt sich aus den Knien nach oben, sich seitlich am Stuhl abstützend, mit einem Ächzen, dass sein Alter als Reminiszenz erwartet. Zu seinem biologischen Soundtrack gehören diese Laute, die den Bewegungsabläufen einen Geschmack nach Hoffnungslosigkeit beimischen.

Ohne sich weiter um seine Frau, die Teller, die er ja in guten Händen weiß, zu kümmern, schlurft er bucklig durch das Wohnzimmer, nach den Zigaretten fischend, die auf einem verkümmerten Tischlein neben seinem Stammsessel der Abendstunden harren. Jedes Ding hat seinen Platz in dieser Wohnungswelt, nicht nur die Zigaretten, auch die Küsse, die neben dem Bett liegen und vor dem Schlafen acht- und blicklos verteilt werden. Zwei sind es an der Zahl, niemals mehr.

Seine Hand zerrt zittrig den Türgriff in die Horizontale, damit er in die frische Luft treten kann, die ihn still und unbekümmert empfängt. Weitab der Stadt wohnen sie, ewig schon.

Dort stampft er dann unruhig wie ein Pferd im Gatter von einem Bein auf das andere, mit einer Zigarette in der rechten Hand, die er sorgsam aufraucht. Das Licht des Wohnzimmers schimmert träge, als fehle ihm die Kraft. An den Rändern seiner Konturen franst es aus, verliert sich eilig im Dunkel.

Nie spaziert hier um diese Stunde jemand vorüber, und der Mann denkt, dass es gut so ist, wie es ist, denn es würde ihn beschämen, würde man ihn beim Rauchen und Spähen erwischen.

Reinste und klare Sternenpracht wuchert üppig über seinem Kopf. Den Mann, der sich zu keiner Zeit mit Astronomie beschäftigte, erinnern sie an kleine Taschenlampen, die weit entfernt in die Nacht gestreckt werden. Es könnten unzählige Kinder sein, die sich dort oben am oder im Himmel verlaufen haben, vielleicht auch das Kind, das ihm seine Frau vorenthielt.

Indem er eine Rauchwolke aus seinem Blickfeld jagt, entfernt er auch die ihm unsinnig erscheinenden Gedanken an Kinder, die es nie gab, nie geben wird. Warum also einer Vergangenheit nachtrauern, die so nie schlüpfte?

Seine Hand gleitet zur Seite, blind, weil sein Körper längst über eine eigene Erinnerung verfügt. Die Beine führen ihn gekonnt durch das undurchdringliche Schwarz der nächtlichen Wohnung, hatten sie doch Jahrzehnte Zeit, sich in der Durchquerung selbiger zu üben. Unbesehen klopft er die Asche in einen ehemaligen Blumentopf. Einen Aschenbecher kaufte er nie, weil er stets die Hoffnung in sich trug, das Rauchen in Kürze aufzugeben. Er tat es nicht, weil es nicht in seiner Art liegt, sich der Dinge, die er in und an sich trägt, zu entledigen. Ein Kleiderständer ist er, der alles, was im Laufe der Jahre über und an ihn gehängt wurde, mit sich schleift, Meter für Meter, bis zu diesem Tag heute auf dem Balkon, der ihm vorkommt wie alle anderen Tage. Der Gedanke beunruhigt ihn nicht, vielmehr kuschelt er sich an das Gebilde, das ihn  heimelig umschwebt. Es ist gut, das zu kennen, was man tagtäglich betrachtet, auch bewohnt und beschläft.

Ein weiterer Zug wird gesaugt. Der Qualm schlängelt sich in seine Nase, wird von ihm verschluckt. Es ist, als müsse er ertrinken, wenn er nicht nach dem Rauch schnappt. Ein lauerndes Krokodil, das sich seine Portion Abendfreiheit reißt.

Nicht mehr lange, dann wird er ins Wohnzimmer schlappen, sich in seinem Sessel niederlassen, abermals mit einem Laut, den er und seine Frau nur zu gut kennen, so gut, dass sie ihn zu überhören, sich längst antrainiert haben.

Der Fernseher wird ihnen seine bunten Bilder vor die Füße kippen, seinen Unrat, den sie nicht bestellt haben, aber in Ermangelung eines anderen Zeitvertreibs willig in ihre Augen schaufeln.

Fernsehshows mögen sie besonders, weil die Shows beide an die Tage ihrer Kindheit erinnern, an die Anfänge dieses irren Bildersturms, der seit seinem ersten Wehen jegliche Realität von der Landkarte gefegt hat.

Was übrig geblieben ist: die Frau und der Mann, und all die Vorkommnisse, die es nie gab, von denen sie aber zu träumen gelernt haben.

Zug um Zug gleitet der Mann auf unsichtbaren Schienen in die Nacht:  in das sich wiegende Gras, in die Äste des Baumes, die – wie so vieles – nur eine Andeutung bleiben. Er muss lange spähen, um sich gewiss zu werden, dass es sie gibt, auch wenn ihm seine Erfahrung verraten hat, dass es so sein muss.

Nichts verschwindet einfach so, obwohl er lernen musste, das es eine Lüge ist, die er sich selbst allzu bereitwillig auftischt. Die Welt schwindet, täglich, wenn auch oft unbemerkt. Große Löcher gab es trotzdem zuhauf: Die Arbeit, die ihn in die Frührente verbannte, die Eltern, die einem Krebs aufsaßen, der sie in den Himmel trug. Den, so hofft er, wird es doch geben, muss es doch geben, denn es wäre eine Blamage für sein Leben, für seine Erziehung, für seine Kirchgänge, für alle, wenn dem nicht so wäre. Es muss diesen Gott geben, von dem sie ihm berichten, und zu dem er rasche Stoßgebete in den Nächten sendet, denn die Worte, die verschleudert wurden, müssen ein Becken finden, in dem sie aufgefangen werden. Es muss ihn geben, ob er nun Gott oder anderswie heißt, das ist ihm einerlei. Es muss ihn geben, ob er will oder nicht.

Ein letzter Zug, und dann drückt er die Zigarette in den Blumentopf, in dem Abend für Abend die Früchte seiner Spätflucht fallen. (Er ist der Baum der Nichterkenntnis von Gut und Böse.)

Er will ins Wohnzimmer zurück, will sich drehen, als ihn ein Geräusch aufschreckt.

Der Mann hält inne und lässt seinen Blick schweifen, langsam, gemächlich, und dies, obwohl seine Augen nicht weit greifen können; selbst die blinde Erinnerung seines Körpers hilft bei der Entschleierung und Zuordnung des Unbekannten nicht.

Wie ein Husten klang es, vielleicht wie ein Wort, das er nicht verstanden hat, nicht verstehen konnte, weil es, so denkt der Mann unbeholfen, nicht aus unserem Sprachraum stammt.

Langsam, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, dreht er sich weiter auf seinen Sohlen und starrt in die Nacht, die seine Blicke schweigend und geduldig greift, und verschluckt .

Nichts ist mehr zu hören, und er will schon ein luftleeres Hallo in den Garten werfen, einen platten Ball, nach dem jemand greifen könnte, als  seine Frau plötzlich in der Türöffnung erscheint, den Kunststoffrahmen in der Hand, und fragt, was sei, denn er sei heute so ungewöhnlich lange fort. Sie habe sich Sorgen gemacht.

Erschrocken, ohne recht zu wissen warum, blicken sie sich an,  sehen sie sich tief in die Augen, tiefer noch als sie sehen können.

Eine seltsame Sorge, denkt der Mann.

Wie an den Kragen gerissen, zucken sie zurück. Der Mann möchte  seiner Frau am liebsten erzählen, dass er etwas gehört habe, ein Husten, oder auch ein Wort in einer fremden, ihm unbekannten Sprache, aber er hält sich zurück, behält es für sich, will er sich doch ungern zum Narren machen. Hier draußen war noch nie etwas, wird, so schätzt der Mann die kommenden Situationen ein, nie etwas sein: einzig die Frau und er, und die Erinnerungen an eine Zeit, die es nie gab.

Nichts, flüstert er, sie solle sich nicht aufführen, solle keinen Unsinn reden, solle sich in ihrem Sessel und in den Fernsehbildern versenken; er folge ihr – jetzt, sofort.

Die Frau deutet ein Nicken an, obwohl sie unsicher ist, ob dies die richtige Reaktion ist.

Ihre Hand erscheint hinter dem Glas der Tür, gefolgt vom  kläglichen Rest ihres hageren Körpers, den sie Schritt für Schritt achtsam zum Sessel balanciert. Ihr Leben ist ein Drahtseilakt, eine Gang über eine schwankende Hängebrücke.  Sekunde für Sekunde muss sie achten, nicht in die Tiefe zu stürzen, hinab in jenen wilden Strom ihrer oder des Mannes Gefühle, die sie mit sich reißen würden, einem Wasserfall entgegen, dem sie seit ihrem Kennenlernen ausweichen.

Der Mann bleibt zurück, ein Blinzeln lang, das er nutzen will, sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass dort draußen nichts ist, was er nicht kennt, etwas Unbekanntes, das hier nichts zu suchen hat.

Dann schleift er den Wohnzimmerboden, die Tür aber lässt er halboffen, wie die eines Käfigs, von dem er nicht weiß, ob er sich darin oder davor befindet, ob er etwas fangen oder in die Freiheit entlassen soll.

Beide hocken sie in ihren Sesseln und beäugen nicht den Fernseher, wohl aber den Spalt, der zwischen Mauerwerk und Rahmen aufgetan wurde. Ein zahme Brise schlüpft ins Zimmer und lässt sich auf ihren Gesichtern nieder.

Nichts geschieht, nichts ist zu vernehmen, außer dem  röhrenden Gesang eines Schlagersängers, der ihnen seine vergebliche Liebesmüh in die Seelen quetschen will.

Eine, oder zwei Stunden später, sie haben jegliches Zeitgefühl in ihre eingeschlafenen Händen geschweißt, steht der Mann ruckartig auf und schließt die Tür.

Was, möchte die Frau fragen, was hast du erwartet.

Sie schweigt ihre Frage runter, drückt und würgt sie durch den Hals in ihren müden Bauch.

Der Mann schüttelt den Kopf, dann schleppt er sich in sein Bett, wie ein Verletzter, ein vom Leben getroffener, und dies ohne ein Wort auf dem Weg dorthin zu verlieren.

Da war nichts, spukt es durch seinen Kopf, bevor er sich bedeckt, weiter bedeckt hält, damit seine trügerischen Hoffnungen nicht als Worte auf der Zunge landen.

Skopje

Igor Isakovski und Elizabeta Lindner in der Altstadt von Skopje
Blesok-Verleger Igor Isakovski und Übersetzerin Elizabeta Lindner in der Altstadt von Skopje

••• Letzte Woche um diese Zeit bin ich durch Skopje gelaufen. Traduki und mein mazedonischer Verlag Blesok, unterstützt von der Deutsch-Mazedonischen Gesellschaft und dem Goethe-Institut, hatten mich eingeladen, um vor Ort die mazedonische Übersetzung der »Leinwand« vorzustellen. »Платно« war die erste ausländische Ausgabe eines meiner Bücher und ist schon vor eineinhalb Jahren in Skopje erschienen. Ich habe mir vorgenommen, in alle Länder zu reisen, in denen Bücher von mir in Übersetzung erscheinen. Dass es etwas länger gedauert hat, bis ich nach Mazedonien kam, liegt an den Umständen, unter denen Blesok und der dortige Verleger Igor Isakovski Bücher machen. Die Finanzierung war schwierig.

Literatur in Mazedonien, das hat mit dem hiesigen Literaturbetrieb nur insofern etwas zu tun, als Bücher gemacht werden. Ein Geschäft ist es nicht. Igor Isakovski führt in seinem Programm hunderte Titel – seit langem schon viele davon in eBook-Ausgaben – mazedonischer und Weltliteratur. Über das Internet und in ganzen acht in Skopje noch existierenden Buchhandlungen werden sie verkauft. Die Auflagen liegen bei etwa 500 Stück, und selten können diese abverkauft werden. Etwas über zwei Millionen Einwohner hat Mazedonien, etwa zwei Drittel davon sind mazedonische Muttersprachler. Selbst als Uni-Professorin verdient man nicht mehr als 500 EUR, und die Arbeitslosigkeit im Land liegt bei 30 Prozent. Auch wenn Blesok bemüht ist, ein Buch nicht mehr als ein Bier kosten zu lassen, greifen die Leute doch eher nach dem Bier.

Wenn man also in Mazedonien Literatur macht, muss man ein Überzeugungstäter sein, und Igor Isakovski ist so einer. Er ist selbst ein sehr produktiver Autor mit einem Dutzend Büchern von Romanen bis zu Lyrikbänden. Und er übersetzt Literatur aus und ins Mazedonische, Serbische, Kroatische, Slowenische und Englische – nahezu 60 Titel bislang. Während es für viele zumal kleine Verlage in anderen Ländern wirtschaftlich sehr schwierig ist, Übersetzungen zu stemmen, sind es für Blesok die Übersetzungen, die den Betrieb überhaupt möglich machen. Denn für Übersetzungen kann man Stipendien und Beihilfen beantragen und bekommt sie auch häufiger, wenn man so ein beachtliches Programm vorweisen kann. Nicht nur Igor, sondern auch meine Übersetzerin Elizabeta Lindner schmälern häufig den eigenen Verdienst und geben einen Teil dieser Stipendien in die Produktionskasse, um die Bücher dann auch produzieren zu können.

Igor und Elizabeta sind also mit ganzem Herzen bei ihrer Sache, der Literatur. Damit stehen sie in Mazedonien nicht allein. In den vier Tagen, die ich dort verbracht habe, lernte ich viele Künstler kennen. Schriftsteller, Komponisten, Maler. Die Kunstszene in Skopje ist lebendig. Man trifft sich häufig in einem der Straßencafés und sitzt dann bei dem einen oder anderen geistigen Getränk auf der Straße, bis die Lokale um 1 Uhr nachts schließen müssen. Nicht selten wird dann noch weitergezogen. Einen Abend wie letzten Samstag bei Igor habe ich seit meiner Jugend in Ost-Berlin nicht mehr erlebt: Wir saßen bei Whiskey (irischer »Jameson«) und Knabbereien in seinem Apartment, hörten Musik, erzählten Geschichten und lasen einander Gedichte auf deutsch und mazedonisch vor. Ich hatte ein Heimweh-Gefühl. So etwas gibt es im »neuen« Deutschland nicht mehr, zumindest nicht in München. Wo es nicht um Verkaufszahlen geht, diesen oder jenen Erfolg, da ist offenbar auch Neid viel weniger ein Thema, und es geht in den Gesprächen unter Künstlern einzig um Kunst.

Nächtliches Künstlertreffen im Straßencafé
Nächtliches Künstlertreffen im Straßencafé

Dass Igor Isakovski auch »Replay« und »Ein anderes Blau« in Mazedonien herausbringen möchte, freut mich vor diesem Hintergrund ganz besonders. Zurückkehren werde ich auf jeden Fall, hoffentlich schon nächstes Jahr.

Ich war nicht nur zum ersten Mal in Mazedonien. Es war überhaupt meine erste Reise in ein Balkan-Land. Jugoslawien ist zu sozialistischen Zeiten einen Sonderweg gegangen. Entsprechend wenig haben wir in der Schule über Jugoslawien und die Geschichte der Balkan-Länder erfahren. Ich habe einigen Nachhilfeunterricht in Geschichte bekommen. Zu den eindrücklichsten Fakten, die ich erfahren habe, zählen die über die jüdischen Gemeinden in Mazedonien. Die meisten Juden kamen im Gefolge der Vertreibung aus Spanien in und nach 1492 in die Region. Es handelte sich also um Sfardim. Ladino, das sogenannte Judenspanisch, war ihre Sprache. Das Zusammenleben gestaltete sich in dieser Region viel unkomplizierter als anderswo. Wo so viele Ethnien zusammenleben, ist es offenbar leichter.

Etwa 7.500 Juden lebten 1944 in drei Gemeinden in Mazedonien, das damals von den bulgarischen Faschisten besetzt war. In Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, habe ich vor Jahren mit Faszination die Geschichte des Überlebens der bulgarischen Juden zur Kenntnis genommen. Die orthodoxe Kirche, aber auch die breite Bevölkerung hatte sich der Judenverfolgung entgegengestellt. Wie ich nun lernen musste, gab es jedoch einen Preis dafür: In den von Bulgarien besetzten Gebieten, wurden im Gegenzug mit beispielloser Gründlichkeit alle Juden deportiert.

Synagoge in Skopje, Mazedonien
Es gibt wieder eine Synagoge in Skopje

Am 11. März 1944 war es in Mazedonien soweit. Die bulgarischen Behörden hatten zuvor lückenlose Listen mit Namen, Fotos, Geburtsdaten und Adressen erstellt. An einem einzigen Tag wurden alle Juden Mazedoniens (zwei Drittel unter 16 Jahren) deportiert und nur eine Woche später in Treblinka ermordet. In keiner Region der Welt war die Auslöschung so vollständig: 98 Prozent der jüdischen Einwohner Mazedoniens wurden umgebracht. Die wenigen, die überlebten, waren vor 1944 geflohen oder hatten bei den Partisanen gekämpft. Sie gründeten noch im selben Jahr die Gemeinde in Skopje neu. Doch auch heute hat diese nur 215 Mitglieder. Im Gemeindehaus in Skopje konnte ich mit der Präsidentin und einigen Mitarbeitern sprechen. Für sie ist es nach wie vor schwer, wenigstens einen Teil der Kultur, religiöses und kulturelles Erbe, zu erhalten.

Skopje Altstadt
Skopje Altstadt

So, wie sich die jüdische Gemeinde um ihre Identität müht, so müht sich, wie es scheint, das ganze Land. Als ethnischer Schmelztiegel, über Jahrhunderte unter verschiedensten Fremdherrschaften und in politischen Zweckverbünden ist Mazedonien ein Land, das es heute nicht leicht hat, ein Nationalbewusstsein zu entwickeln.

Wie schwer es ist, kann man an den Neubauten im Zentrum von Skopje sehen. Die neuen Ministerien wie auch das neue »alte Theater« sind furchtbare peseudo-neoklassizistische Bauten, deren Fassaden den Plastikcharme von Disneyland-Bauten ausstrahlen. Disneyland wird dieser runderneuerte Teil des Zentrums denn auch genannt. Man gelangt dorthin aus der heute fast vollständig zum Markt gewordenen historischen Altstadt über die »Steinerne Brücke«. Sie führt über den Fluss Varda und ist ein historisches Monument. Auf ihr wurden mazedonische Freiheitskämpfer (die Gegenseite nannte sie Separatisten) von den Türken lebendigen Leibes gepfählt. Sie wurde mit Granit verkleidet und hat damit allen Charme, den das historische Bauwerk gehabt haben muss, eingebüßt. Hat man die Brücke überschritten, beginnt jedoch erst das wahre Grauen: Rings um eine erschreckende Statue Alexander des Großen gruppieren sich unzählige Denkmäler, die an Personen der mazedonischen Nationalgeschichte erinnern sollen, wie sie nun gerade geschrieben wird.

Dass das mit der Identität so nicht funktionieren wird, haben die Einwohner von Skopje schon längst verstanden. Entsprechend werden die absurden Baubemühungen im Zentrum der Hauptstadt belächelt und verspottet. Glücklicherweise, konnte ich hören, seien sie so schlampig gebaut, dass sie ohnehin bald einstürzen würden. Ich bin gespannt, wie Skopje nächstes Jahr aussehen wird, wenn ich zurückkomme.

Steinerne Brücke, Skopje
Steinerne Brücke, Skopje

Mein Bericht wäre nicht vollständig, ohne dass ich den denkwürdigsten Gesprächsfetzen zitiere:

Stein: … but I don’t write!
Isakovski: Well, enjoy it while it lasts!

Liebe Elizabeta, lieber Igor, ich danke Euch von Herzen für die wundervollen Tage mit euch in Skopje. Auf bald!

trägheit | traum

wenn ich ein vöglein wär / hätt’ ich flügel. doch der / engel ohne flügel, gestürzter / aus dem himmel ins erdreich tief

Wikipedia: „Die Trägheit ist die Eigenschaft von Körpern, in ihrem Bewegungszustand zu verharren, solange keine äußere Kraft auf sie einwirkt. Die träge Masse gibt die Größe der Trägheit an. Je größer die träge Masse eines Körpers ist, umso weniger beeinflusst eine auf ihn einwirkende Kraft seine Bewegung.“

wie meine schwere masse / zunimmt, nimmt im gleichen / maße die träge masse zu / wie mit selber masse auch die trägheit / der zeit zunimmt / verlangsamt sich / erinnernd, denn die träge masse der zeit / ist der schwere traum

… wie wir früher / weniger verspätet … / weil’s aber nicht kann sein / bleib’ ich allhier. klassische / mechanik …

Newton, Lex prima: „Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur statum suum mutare.“

inertia / fallgesetz: ikarus, galilei, sir isaac, ich: / „schlaf tropft nieder / aus den sinnen“

Newton, Lex secunda: „Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.“

… liebe / for whom the lillybelle tolls …

„man muss davon ausgehen, dass der stein denkt“ / (rainald goetz) und träumt von / der verbindung von schwerer masse / und trägheit | traum

denn wir können nicht fliegen / außer auf den flügeln / der gesetze der mechanik / und des traums / und du schwebst in dem / augenblick, wirfst die füße voran / zur veränderung deines schwerpunkts und / gleichgewichts zur landung / auf den mutterseelenalleingestirnen über uns’ren / köpfen, die uns dieselbe bewunderung verursachen

wie das trägheitsgesetz in uns / weil’s aber nicht kann sein / bleib’ ich allhier

Mythologies

LORENZO LOTTO : KEIN BLIND DATE

Und da wir schon einmal im Kunsthistorischen Museum sind , und da eine heilignüchterne Stimmung an diesem Schliesstag an der Atmosphäre der stickigen Räume parasitiert . Und wo wir doch eben bei den Italienern des Cinquecento und Seicento sind . Da wird doch ein Rendez- Vous fällig , welches über Jahre hinweg zum unantastbaren Ritual sich verfestigt hat . Jeder Besuch des Museums führt daher zwangsläufig zu Lorenzo Lotto , dessen Portraits in einer durch Jalousien abgeschatteten Aussengalerie hängen .

Da aber nun der Aufseher , den uns die Museumsverwaltung mitgab , um schädliche Faktoren wie Blitzlicht oder Bilkderklau zu unterbinden , lieber im relativ kühlen Raum innerhalb der Saalfluchten der Gemäldegalerie auf einem der Sofas ruht . Da aber werden wir uns in die beträchtlich sommerheisse Galerie begeben wo wir – mangels Aufsicht – in unmittelbare Nähe zu den Bildnissen treten und fotografieren können . Wobei “Fotografieren” ( das werden wir auch bei Rubens erfahren ) , eine körperlich und geistig zehrende Komponente aufweist , egal ob im Hinblick auf die Konzentration oder all der Turnübungen beim Fokussieren , sei dies mit Stativ oder ohne . Letzteres ist natürlich der blanke Wahnsinn bei der hier nötigen Belichtungszeit von einer unendlichen Sekunde .

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copyright Zintzen_Lorenzo Lotto_Poertrait Jüngling mit Tierpranke

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TIER- ODER LÖWENPRANKE

Gleichwie : Lorenzo Lottos “Portrait eines Mannes mit Tierpranke” ( 1527 ) hängt wie eh und je an seinem Platz . Immer wieder überraschend erscheint  der effeminierte Schmelz von Gesicht und Blick , wo doch die ganze Inszenierung mit dem mächtigen fellverbrämten Mantel , den kostbaren Ringen an seiner Rechten und womöglich auch der Tiertatze in seiner Linken auf Macht und Reichtum des noch jungen Mannes verweisen . Bis heute weiss man nicht , wer dieser Androgyn mit sekundären männlichen Attributen gewesen sein könnte . Der da seine Rechte aufs Herz legt , mit der Linken die kleine Tatze geradezu vorführt .

Spielt sich hier jemand als Herrscher über Leben und Tod auf oder schmückt sich mit einem sozusagen tierisch wildem Attribut ? – Der im Deutschen kursierende Titel “Mann mit der Tierpranke” schickt unser Klassifikation- Bestreben vergeblich in die Kreise der Marder , Frettchen und ähnlicher Kleinräuber . Dieser Ungewissheit im deutschern Titel steht im Gegensatz zur englischen Version , welche die ominöse Tatze offen als einer gewissen Species angehgörig behauptet :”Portrait of a Gentleman with a Lion Paw” .

Die winzige Löwenklaue zeigte sich solcherart als Machtmotiv , welches das Gestern wie das Heute und das Morgen anbelangt . Wurde in der Vergangenheit das Tier überwältigt und die Pranke vom Körper des Tieres abgehackt , füllt das Zeigen der Trophäe – unterstützt von der Geste , welche womöglich als Zeichen von Innigkeit oder als Bekräftigung von Wahrhaftigkeit zu deuten wäre – ganz die Gegenwart . Für die Zukunft könnte der Löwenfuss einerseits als Objekt apotropäischen Zaubers gelten  ( “kein Löwe , sei dieser menschlich oder ein Tier , wird mich fällen ” ) . Anderseits möge dies hier eine Art Gelübde vorstellen : auf die Winzigkeit der Pranke bezogen folgt ein Ausdruck stiller Gewissheit , in Zukunft grössere Tatzen zu erjagen .

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copyright Zintzen_Lorenzo Lotto_Poertrait Jüngling mit Tierpranke

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SPIEGEL – BILD

Womit der Jüngling sich als Herrscher selbst über den König der Tiere stellt . Als Gegenüber sollte man nicht das im selben Jahr ausgeführte “Potrait des Andrea Odoni” übersehen , wo ein Gelehrter ? Künstler ? inmitten seiner Sammlung von antiken Statuen portraitiert wird : In unübersehbarer Analogie zum “PrankenBild” umfasst und zeigt seine Hand eine kleine Statuette ( womöglich eine Diana von Ephesus ) während die andere Hand , wiederum sehr suggestiv , an die Herzgegend rührt .

Von Interesse ist dabei der Unterschied , ja die Gegensätzlichkeit der HandHaltungen : Ist es im “PrankenBild” die Linke , welche die Trophäe hält und zeigt , derweil die Rechte expressiv über dem Herzen liegt , verhält es sich im “Potrait des Andrea Odoni” geradezu umgekehrt . Hier ist es die Rechte , welche die Statuetten- “Trophäe” vorführt , während die Linke in der Herzgegend zu liegen kommt .

Vielleicht ist diese Verzahnung der Portraits , die in beiden Bildern sehr bewusst inszenierten weiblichen und männlichen Attribute und nicht zuletzt der jeweils expressiv gezeigte Fetisch eine Bekräftigung eines bestimmten Symbolgewebes . Jedenfalls ist es fruchtbar , die beiden Bildnisse als ineinander gespiegelt zu betrachten .

Parkettknarren , Schlurfen , Hüsteln kündigen die sich nähernde Gegenwart des Aufpassers an . Wobei er sein Exemplar der Neuen Kronen Zeitung als kühlenden Fächer neben seinem Gesicht bewegt : Der auf Billigpapier gedruckte Boulevard stinkt ziemlich real und nicht lediglich symbolisch .

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-19

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-12

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-05

Kurztitel & Kontexte bis 2013-04-28

Kurztitel & Kontexte bis 2013-04-21

Rezension: Katarina Botsky “In den Finsternissen” (V) / Die Novelle “Ziehkinder”

Die Novelle beginnt folgendermaßen: „Wenn man durch den bogigen finstern Torweg des Räuberhofs trat, geriet man in ein galoppierendes Meer wildverworrener Töne hinein. Bei einem Schiffsuntergang konnte nicht wüster geschrieen werden, als es die spielenden Kinder auf dem Räuberhof taten. Daher sein Name. Auch waren die geschwärzten schiefen Häuser, die den Hof wie Festungswerke umschlossen, und die nicht minder geschwärzten Proletarier, die diese Häuser bewohnten, an der Benennung schuld. Die Häuser sahen alle aus, als ob sie schon einmal in Flammen gestanden hätten. Doch auf der Steinwüste des Hofs gab es etwas Schönes, etwas ganz Verwunderliches: einen alten anmutigen Springbrunnen, der immer noch ein paar silberne Wassertropfen in sein steinernes Muschelbecken fallen ließ. (…)“

Dieser von Katarina Botsky gewählte Einstieg gleicht fast einem Eintritt in die Hölle, möchte man meinen, ohne daß die Autorin etwa Mitleid anklingen ließe für die Menschen, die in ihr leben müssen. Botsky wählt also zunächst eine distanzierte Haltung, ganz anders als es etwa in der Arbeiterliteratur üblich ist. In dem Schauspiel Bergarbeiter von Lu Märten aus dem Jahr 1909 läßt die Autorin den jungen, schwindsüchtigen Hermann zum Beispiel programmatisch sagen: „Wenn einer von uns nun gar unter die Dichter geht, dann ist es sein Gesetz, daß er die Wahrheit seines Lebens darstellen muß. Und wenn einer von uns die Wahrheit seines Lebens darstellt, ist’s am stärksten … der Schmerz.“ Auf dem Räuberhof kann von solch einem Unterfangen jedenfalls nicht die Rede sein, Botsky wird weder etwas vom Stolz des Arbeiters auf seine Leistung und die Errungenschaften der Industrie anklingen lassen, wie das oft in der zeitgenössischen Arbeiterliteratur vorkommt, noch den Klagen über die Unmenschlichkeit der Arbeit und das Leid des Einzelnen Aufmerksamkeit schenken – sie wahrt eine kalte, wenn auch klar deutende und urteilende Distanz. So ist also allein der Springbrunnen, der dort „wie ein verlaufener Aristokrat“ steht, an und für sich etwas Schönes in der geschlossenen Welt, die der Hof darstellt – der einzige Ausblick, so als könne man von einem unteren Höllenkreis die Welt der Schuldlosen sehen, ist hingegen der Blick auf den auf einem Berg liegenden „Kirchhof der Reichen mit seinem wehenden Laub“. Dazwischen, vom Räuberhof durch einen bemoosten Bretterzaun getrennt, liegt auf gleicher Ebene dann noch der Armenkirchhof, der ungepflegt ist und wo ein seltsames Holzkreuz steht mit der Inschrift „Die Reihe kombt auch an Dir“, die die Räuberhofjungen besonders mögen.

Das also ist die Bühne, auf der Katarina Botsky das immer gleiche Drama von Armut, Roheit, Dummheit, Gewalt und Mißbrauch ablaufen läßt. Neben den Proletarierfamilien mit ihren Kindern und den Schlafburschen gibt es nun auch noch, gleichsam als noch Niedrigere, die sogenannten „Ziehkinder“, Ganz- oder Halbweisen; doch „bei manchen dieser Kinder stimmte nicht alles im Gehirn“, das stellt die Autorin gleich einmal deutlich fest, wie man das bei Ziehkindern öfters beobachten könne. Jedes vierte Kind auf dem Hof ist ein solches Ziehkind, etwa zwanzig insgesamt, deren Unterhalt meist von der Stadt bezahlt wird und die jeweils einer Familie zugewiesen sind. Botsky wählt zwei für ihre Leser aus, die vierjährige, etwas zurückgebliebene Herta, Tochter einer Landstreicherin, und ihre achtjährige Freundin Trude, die ebenfalls kaum begreift, was um sie herum vor sich geht. So werden beide aus Spaß von den Räuberhofjungen auf dem Armenkirchhof in ein Loch gelegt und, gemäß der Inschrift, zugebuddelt, ohne daß die andere eingreift, wenngleich die Jungs mit Herta Mitleid haben, weil sie hübsch ist; erst der greisenhafte Kirchhofwärter zerrt Trude schließlich, etwa so “wie ein alter Affe eine Gliederpuppe ergreifen würde“, an einem Arm aus der Grube heraus.

Bis hierher schildert Katarina Botsky mit aller Deutlichkeit und in klar faßbaren Bildern diese Welt, ohne Mitgefühl für die in ihr agierenden Geschöpfe zu zeigen, denn es geht ihr offensichtlich um eben diese klare Sicht ohne vernebelnde Sentimentalitäten. Als schließlich noch eine uralte, nicht sehr helle Frau auftaucht, die auch einst Ziehkind gewesen war und noch immer sehr schlecht behandelt wird, scheint sich das beschriebene Grauen nur noch weiter zu verdichten, ohne daß auch nur ein Funken Hoffnung zu erkennen ist. Dann aber bleibt die kleine Herta allein, nur die uralte Frau sitzt noch teilnahmslos auf ihrer Bank, auf dem Hof zurück, nachdem ein großer Bengel sie auf den ziemlich hohen Rand des Wasserbeckens gesetzt hat, bevor er reingerufen wurde. Hier scheint sich die Erzählung nun zu wenden, sie bekommt etwas Märchenhaftes durch den Brunnen und auch dadurch, daß die Herta sich den Daumen verletzt hat und blutet; es macht ihr sogar Spaß zu sehen, wie das Blut in das Wasser des Brunnens tropft. Dann jedoch verliert die Kleine plötzlich das Gleichgewicht und fällt hinein. Wird ihr jetzt etwa das Selbe zuteil wie der armen Stieftochter in dem Märchen Frau Holle, die von der Stiefmutter in den Brunnen gezwungen wird, um nach einer Spindel zu tauchen, dadurch aber in eine bessere Welt gerät, wo sie sich bewähren kann und aus der sie als goldene Jungfrau wiederkehrt? „Das steinerne Engelsantlitz am Brunnen“ scheint jedenfalls, als ein Schlafbursche die Kleine herauszieht und so vor dem Ertrinken rettet, traurig zu seufzen, und auch die Autorin seufzt nun gleichsam teilnehmend mit, denn nun stellt sie klar fest: „Sie war dem Schicksal der kleinen Meta nicht entgangen“, was so viel heißt, daß der Tod für das Mädchen besser gewesen wäre. Der Herausgeber des Bandes, Martin A. Völker, erläutert im ausführlichen Anmerkungsteil diese Feststellung, die Bezug nimmt auf das Märchen Die kleine Meta von Friedrich Hofmann, in dem jeder Blutstropfen des Mädchens zu einem blanken doppelten Goldstück wird, die alle von der Stiefmutter genommen werden, bis das Mädchen tot ist. Eine kurz zuvor in die Novelle eingeflochtene Bemerkung zu den Schlafburschen, die „bereits auf die Vorzüge der kleinen Herta aufmerksam zu werden begannen“, weist deutlich darauf hin, welches Schicksal Herta droht, nämlich gleichsam das der Leibeigenschaft und des sexuellen Mißbrauchs, denn ihre „Mama“ gehörte zu „jenen furchtbaren Weibern“, die solch ein Interesse nicht ungern sehen. Die uralte Frau auf der Bank, die auch Trude heißt, war übrigens stumpfsinnnig sitzen geblieben, als Herta ins Wasser fiel.

Die Novelle Ziehkinder ist eine beeindruckende, ungeheuer dicht gestaltete Erzählung, die all das menschengemachte Unglück offenlegt, ohne dabei die Schuld plakativ im Gesellschaftlichen zu suchen. Katarina Botsky spricht deutlich aus, was sie „sieht“ und behält dabei zumeist die notwendige Distanz, die es ihr erlaubt, das Handeln der Menschen, ohne sich zu einer verurteilenden Instanz aufzuschwingen, zu beurteilen, besonders auch und dann auch mit Teilnahme, wenn die Erniedrigten und Ausgebeuteten selbst an jenen zu Tätern werden, die ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Dieses Geschehen gestaltet Katarina Botsky mit meisterhafter Sprachkunst zu einem bedrückenden Drama.

Fazit: Der von Martin A. Völker mit Anmerkungen und einem sehr informativen Nachwort herausgegebene Band Katarina Botsky In den Finsternissen (Elsinor Verlag, Coesfeld 2012), der insgesamt zehn Novellen enthält, ist eine durch und durch lohnende Lektüre und mag, so ist zu hoffen, den Beginn der Wiederentdeckung einer Autorin bedeuten, die Literatur nicht aus Lektüre schafft, sondern aus eigenem Erleben und Erleiden und aus dem Beobachten ihrer Zeit, vom späten Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hinein in die faschistische Diktatur. Daß Katarina Botsky das Handwerk des Schreibens so meisterhaft beherrscht und für jeden Stoff, sei dieser schauerlich-komisch oder grauenhaft-abgründig, die richtige Sprache findet, macht die Lektüre insgesamt zu einem außerordentlichen Leseerlebnis!

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Katarina Botsky: In den Finsternissen. Novellen.

Herausgegeben von Martin A. Völker.

Elsinor Verlag 2012. 108 Seiten. ISBN-10: 3942788071