Archiv der Kategorie: Ausgabe 02/2013

Inhalt 02/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 02/2013 erschien am 8. Juli 2013.


In dieser Ausgabe:
Naife Gespräche mit Hans Krüsi, schweißlackierte Gesichter, Tiefseeelefanten und kleine Bären, Wachsflecken und Rauchwolken, Königs=Säfte und Stäube in Bewegung, Schreibmaschinen-Poesien auf Bauchhöhe, das Geheimnis einer Blutgruppe, ein Besuch bei Mr. Tomas­z­weska und Newtons Lex prima, eine Puppenversammlung im Niemandsland, Lorenzo Lotto und seine Mutter, geile Dolden, Eidechsen im Regen, ein Hauptbahnhofs-Espresso uvm.

INHALT:

Amatophobie 1

Angst vor Staub ist für mich eine seltsame Angst, ich kenne sie nicht. Ich denke sofort an einen verlassenen Raum oder ein verlassenes Haus, in dem sich schon lange kein Mensch mehr aufgehalten hat.

Wie oft habe ich solche Räume betreten! Schon als Kind empfand ich sie romantisch, gruselig, verwunschen, beglückend. Staubgeruch! Immer wieder hatte die Zeit ausgesetzt, und diese ausgesetzte Zeit hatte sich in Form von Staub materialisiert. Wie schön, daß die Zeit so materiell ist und sich ihrem Vergehen nicht entziehen kann!

Ich war von Anfang an umgeben von den verschiedensten Stäuben an den verschiedenen Orten im Haus und der Natur. Sehr erfreute mich das staubige Mehl, die staubige Kleie, der Staub im Stadel und auf dem Heuboden. Der Erdstaub auf den Feldern und im Weingarten. Der Staub, den schon der kleinste Wind im Hof aufwirbeln konnte. Der Staub, den die Herbststürme von weit her mit sich brachten.

Jetzt sehe ich alle verlassenen Räume, die ich jemals betreten hatte, wieder mit Staub bedeckt. Die Spuren meiner Nachgänger, die vielleicht eine Weile sichtbar geblieben waren, sind schon lange verschwunden und immer wieder durch neue ersetzt worden. Die Vorstellung der ständigen Bewegung all dieser Stäube macht mich heiter und ruhig.

(2. Dezember 2006, 10:27)

***

Vielleicht auch ein Blick hierher.

Bad RagARTz (3)

hans-krüsi_kuh

Zeitgleich zur Bad Ragartz fand im Alten Rathaus des alpenrheinischen Kurstädtchens vergangenen Sommer die Ausstellung NAIFE KUNST mit Bildern des 1995 verstorbenen Hans Krüsi statt. Zu sehen waren von Krüsi bemalte und besprayte Pappen mit Alpenmotiven: Kühe, Pflanzen, Höfe. Bisweilen imposanter als die Bilder sind die von Krüsi selbst getackerten, verleimten, oft krumm und schief zusammengesetzten Rahmen. Wir fotografierten eine Touristin, die sich mit einem von Krüsis wild gerahmten Kuhbildern ablichtete. Die Ausstellungsräumlichkeiten waren durchzogen von gesetztem Muff, einer langlebigen mittelständischen Atmosfäre, die sich moralisch über die zu sehenden Werke zu erheben schien. Die wenigen Besucher, die knarzenden Treppen, der Wurm im Gebälk vermittelten der Ausstellung den Anschein einer privaten Angelegenheit. Ein Besucherpaar unterhielt sich, unter rein kapitalistischen Aspekten, lautstark über den Wert der Kunst. “Naife Gespräche”, schoß uns durch den Kopf und daß auf dieser Welt noch und nöcher das eine zum andern findet, indem es gegeneinanderprallt oder, meist, vor dem Aufprall in Lauerstellung verharrt, sich dabei spiegelt oder überlagert, am liebsten selber feiert und nach einem Weilchen Aufregung wieder versiegt. Und daß wir uns täuschen möchten. Und auch im Leben einmal richtig gute Kuhbilder fabrizieren.

Schellendiskursli / Schellenexkursli (02)

Schellendiskursli, Szene 02

dass welt ein bilderbuch sei voller
bilderbücher hier das setting einer
kleinfamilie knapper stunde null gewisser
religionen schöpfungsakt (breit aufgestellt) von
heiligen familien muttern (rot) und vatern in
dezentem (grünen) blau stolz jakobinisch heisst
dann (logisch) nachwuchs bärchen
ursli das archivgesicht noch aus der
andern zeit ein buch in buch im buch
ein jesus sternbild wunschpunsch aller pärchen

was kann ein haus nicht alles sein als
buch als allegorisch fein gedachter ort erzählter
klein und grossgeschichten keller eingang
tore fenster öffnungen in die zu schauen lohnt
schornstein und vater raucher einer tuts
der andere nicht in diesem nu das
hausgesicht ornamentiert partiell kopf hirn und
heimat weiter namenloser elternschaft fungiert
reproduktion noch grösserer maschinen ich ist
eine werkstatt medien (dort ein vogel) tun dies kund


Zeichnung: Livio (7)

Schellenexkursli

(02) psyche, speicher, medien. mit dem willen zur kreativen interpretation ausgerüstet, werden wir wieder zurückgeworfen auf die gemachtheit dieses ereignisses und ortes als vielschichtigen text. in die buchform, die alle noch so auseinanderstrebenden (be)deutungsmöglichkeiten miteinander verbindet und rundet. ein buch schafft ordnung und zuversicht. sich die welt als buch vorzustellen (aurelius augustinus), gibt ihrer lesbarkeit einen rahmen, der die richtigkeit des passierenden unterstreicht. dass das urslielternhaus ornamente trägt (spiralen, tiere), die hier schon in versatzstücken später erzähltes enthalten, betont die wichtigkeit tiefenstruktureller beobachtung. dass wir geradezu mit einer familienaufstellung (nach hellinger) konfrontiert werden, einer methode der systemischen psychotherapie, ermuntert uns, den text auch psychoanalytisch zu berühren. er bietet dann mutter- und vaterfigur an zur identifikation und zum eintauchen in die struktur der kleinfamilie, und markiert diese als ausgangspunkt eines sich in auflösung befindlichen systems, auf dem weg zu einer neuen westlichen gesellschaftsform: dem losen verbund einer singlegesellschaft. aufsteller ist hier: der erzähler. kann dabei die farbwahl des bildes zufall sein? die mutter trägt die farben blau, weiss, rot – diejenigen der französischen revolution, wir nehmen das als stützenden beleg. historisch-strukturelle diskontinuitäten sollen aber nicht verschwiegen werden. ebenso finden sich auch: die heilige familie mit dem filius jesus, der vater (josef), ein handwerker (zimmermann). das haus ist der ort der heimat, der sohn zum reisen bestimmt. diese religiöse familia steht als literatur und als entwurfsvariante der psychoanalytischen gegenüber. gemeinsam werden diese bilder gespeichert in einem, dem literarischen archiv, und haus und umgebung zu dessen allegorie verdichtet: die menge der öffnungen, räume, auch als speicherfiguren unterschiedlichster situationen und handlungen. (im verhältnis zum kleinräumigen maiensäss, später, dem erweckungsort und ort der entbehrung:) wir nehmen einblick in ein raumgebilde, dessen reduktion eingeleitet werden muss, um (in der ausbreitung, in der narration) neues erzählen zu ermöglichen. das haus (mit seinen funktional unterschiedlichen teilen) fungiert aber auch zugleich als konstruktionsplan oder modell eines gehirns, in dem genau diese auseinandersetzungen und verhandlungen theoretisch stattfinden. das bild (mit haus, eltern etc.) wird zudem nicht perspektivisch abgeschlossen. ein – als randfigur – hinzugefügter vogel observiert diese szene. unsere beobachtung des vogels (als medium) macht uns leser zu beobachtern des beobachters. wir werden also auch als beobachter zweiter instanz verpflichtet. nur eine spielerei? zumindest drängt uns diese konstruktion eine weitere möglichkeit auf: nämlich die einer systemtheoretischen textbetrachtung.

Leseprobe zu:
Schellendiskursli / Schellenexkursli.
Eine poetische Analyse des “Schellenursli”
mit einem Kommentaressay
und zahlreichen Illustrationen
sowie einem Nachwort von Elisabeth Wandeler-Deck
Von Hartmut Abendschein

Tulpen (London #9)

In der Besenkammer des Hausmeisters wohnt neuerdings jemand. Mein Schlafzimmer liegt direkt daneben. Nachts höre ich ein Scharren. Ein Wälzen und Drehen. Ein unbekümmertes, sehr männliches Schnarchen: zwischen Eimern und Wischmopp, macht es sich über den drei Quadratmetern Bodenfläche breit, prallt an die Wände und weckt mich. Ich habe ihm einen Zettel unter die Tür geschoben: Please stop snoring! I can’t sleep. Gestern stand nun ein pappenes Kästchen vor meiner Tür. That’ll surely help, war darauf notiert. Und drinnen? Drei paar Ohropax, eine CD mit Meeresrauschen sowie Walsers 98er „Dankesrede“ – im Original und von Tee-, wie Wachsflecken geziert. Durchs Guckloch blinzelnd, sah ich ihn eben heimkehren, komplett mit Frack, Zylinder und Uhrenkette, und ich könnte schwören: er hat gelächelt, als er den Strauß Tulpen an seiner Besenkammerklinke hängen sah.

(Nach der höchst vergnüglichen Lektüre von Ernst Augustins >Robinsons blaues Haus.)

Nichts ist geschehen

Auch an diesem Abend wird er auf dem Balkon stehen, weil es ein weiteres Puzzlestück seines Alltags ist, nach dem Essen eine Zigarette zu rauchen.

Hat er erst den Teller von sich geschoben, so wie eine vorübergehend abgelegte (schlechte) Angewohnheit, der er morgen lustvoll und ausgehungert wieder verfallen wird, lehnt er sich nach hinten, tief in seinen Rücken, bis er sein Rückgrat spürt, damit der Schmerz als Welle durch seine Muskeln schwappen kann, auf der er sich ins Leben zurücktragen lässt.

Während seine Frau die Teller abräumt, reibt er sich an der Lehne, dehnt und streckt er sich, um so die Spannung aus Bauch und Hemd zu drücken, will er doch nicht nur aus Unwohlsein bestehen; die Achs und Wehs, die seine Bewegungen begleiten, sind ihm genug Lebendigkeit. Überschäumen will er nicht, will zu keiner Lache werden, die man wegwischen muss.

Nach wenigen Minuten, die er mit den Explosionen in seiner Bauchhöhle umgebracht hat, schiebt er sich samt Stuhl in Richtung der Küchenzeile, vor der seine Frau tanzt und verzweifelt Reste von den Tellern kratzt. Er sieht nicht zu ihr hin, weil er sie ja kennt, viele Jahre schon, und es ihm nicht nötig scheint, deshalb öfter als wirklich nötig in ihre Richtung zu schauen. Sie ist ihm zu einem Geräusch geworden, zu einem Schatten, zu einer dunklen Ahnung, die ihn nicht verlässt, so sehr und oft er heimlich auch schon darum gefleht hat.

Er drückt sich aus den Knien nach oben, sich seitlich am Stuhl abstützend, mit einem Ächzen, dass sein Alter als Reminiszenz erwartet. Zu seinem biologischen Soundtrack gehören diese Laute, die den Bewegungsabläufen einen Geschmack nach Hoffnungslosigkeit beimischen.

Ohne sich weiter um seine Frau, die Teller, die er ja in guten Händen weiß, zu kümmern, schlurft er bucklig durch das Wohnzimmer, nach den Zigaretten fischend, die auf einem verkümmerten Tischlein neben seinem Stammsessel der Abendstunden harren. Jedes Ding hat seinen Platz in dieser Wohnungswelt, nicht nur die Zigaretten, auch die Küsse, die neben dem Bett liegen und vor dem Schlafen acht- und blicklos verteilt werden. Zwei sind es an der Zahl, niemals mehr.

Seine Hand zerrt zittrig den Türgriff in die Horizontale, damit er in die frische Luft treten kann, die ihn still und unbekümmert empfängt. Weitab der Stadt wohnen sie, ewig schon.

Dort stampft er dann unruhig wie ein Pferd im Gatter von einem Bein auf das andere, mit einer Zigarette in der rechten Hand, die er sorgsam aufraucht. Das Licht des Wohnzimmers schimmert träge, als fehle ihm die Kraft. An den Rändern seiner Konturen franst es aus, verliert sich eilig im Dunkel.

Nie spaziert hier um diese Stunde jemand vorüber, und der Mann denkt, dass es gut so ist, wie es ist, denn es würde ihn beschämen, würde man ihn beim Rauchen und Spähen erwischen.

Reinste und klare Sternenpracht wuchert üppig über seinem Kopf. Den Mann, der sich zu keiner Zeit mit Astronomie beschäftigte, erinnern sie an kleine Taschenlampen, die weit entfernt in die Nacht gestreckt werden. Es könnten unzählige Kinder sein, die sich dort oben am oder im Himmel verlaufen haben, vielleicht auch das Kind, das ihm seine Frau vorenthielt.

Indem er eine Rauchwolke aus seinem Blickfeld jagt, entfernt er auch die ihm unsinnig erscheinenden Gedanken an Kinder, die es nie gab, nie geben wird. Warum also einer Vergangenheit nachtrauern, die so nie schlüpfte?

Seine Hand gleitet zur Seite, blind, weil sein Körper längst über eine eigene Erinnerung verfügt. Die Beine führen ihn gekonnt durch das undurchdringliche Schwarz der nächtlichen Wohnung, hatten sie doch Jahrzehnte Zeit, sich in der Durchquerung selbiger zu üben. Unbesehen klopft er die Asche in einen ehemaligen Blumentopf. Einen Aschenbecher kaufte er nie, weil er stets die Hoffnung in sich trug, das Rauchen in Kürze aufzugeben. Er tat es nicht, weil es nicht in seiner Art liegt, sich der Dinge, die er in und an sich trägt, zu entledigen. Ein Kleiderständer ist er, der alles, was im Laufe der Jahre über und an ihn gehängt wurde, mit sich schleift, Meter für Meter, bis zu diesem Tag heute auf dem Balkon, der ihm vorkommt wie alle anderen Tage. Der Gedanke beunruhigt ihn nicht, vielmehr kuschelt er sich an das Gebilde, das ihn  heimelig umschwebt. Es ist gut, das zu kennen, was man tagtäglich betrachtet, auch bewohnt und beschläft.

Ein weiterer Zug wird gesaugt. Der Qualm schlängelt sich in seine Nase, wird von ihm verschluckt. Es ist, als müsse er ertrinken, wenn er nicht nach dem Rauch schnappt. Ein lauerndes Krokodil, das sich seine Portion Abendfreiheit reißt.

Nicht mehr lange, dann wird er ins Wohnzimmer schlappen, sich in seinem Sessel niederlassen, abermals mit einem Laut, den er und seine Frau nur zu gut kennen, so gut, dass sie ihn zu überhören, sich längst antrainiert haben.

Der Fernseher wird ihnen seine bunten Bilder vor die Füße kippen, seinen Unrat, den sie nicht bestellt haben, aber in Ermangelung eines anderen Zeitvertreibs willig in ihre Augen schaufeln.

Fernsehshows mögen sie besonders, weil die Shows beide an die Tage ihrer Kindheit erinnern, an die Anfänge dieses irren Bildersturms, der seit seinem ersten Wehen jegliche Realität von der Landkarte gefegt hat.

Was übrig geblieben ist: die Frau und der Mann, und all die Vorkommnisse, die es nie gab, von denen sie aber zu träumen gelernt haben.

Zug um Zug gleitet der Mann auf unsichtbaren Schienen in die Nacht:  in das sich wiegende Gras, in die Äste des Baumes, die – wie so vieles – nur eine Andeutung bleiben. Er muss lange spähen, um sich gewiss zu werden, dass es sie gibt, auch wenn ihm seine Erfahrung verraten hat, dass es so sein muss.

Nichts verschwindet einfach so, obwohl er lernen musste, das es eine Lüge ist, die er sich selbst allzu bereitwillig auftischt. Die Welt schwindet, täglich, wenn auch oft unbemerkt. Große Löcher gab es trotzdem zuhauf: Die Arbeit, die ihn in die Frührente verbannte, die Eltern, die einem Krebs aufsaßen, der sie in den Himmel trug. Den, so hofft er, wird es doch geben, muss es doch geben, denn es wäre eine Blamage für sein Leben, für seine Erziehung, für seine Kirchgänge, für alle, wenn dem nicht so wäre. Es muss diesen Gott geben, von dem sie ihm berichten, und zu dem er rasche Stoßgebete in den Nächten sendet, denn die Worte, die verschleudert wurden, müssen ein Becken finden, in dem sie aufgefangen werden. Es muss ihn geben, ob er nun Gott oder anderswie heißt, das ist ihm einerlei. Es muss ihn geben, ob er will oder nicht.

Ein letzter Zug, und dann drückt er die Zigarette in den Blumentopf, in dem Abend für Abend die Früchte seiner Spätflucht fallen. (Er ist der Baum der Nichterkenntnis von Gut und Böse.)

Er will ins Wohnzimmer zurück, will sich drehen, als ihn ein Geräusch aufschreckt.

Der Mann hält inne und lässt seinen Blick schweifen, langsam, gemächlich, und dies, obwohl seine Augen nicht weit greifen können; selbst die blinde Erinnerung seines Körpers hilft bei der Entschleierung und Zuordnung des Unbekannten nicht.

Wie ein Husten klang es, vielleicht wie ein Wort, das er nicht verstanden hat, nicht verstehen konnte, weil es, so denkt der Mann unbeholfen, nicht aus unserem Sprachraum stammt.

Langsam, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, dreht er sich weiter auf seinen Sohlen und starrt in die Nacht, die seine Blicke schweigend und geduldig greift, und verschluckt .

Nichts ist mehr zu hören, und er will schon ein luftleeres Hallo in den Garten werfen, einen platten Ball, nach dem jemand greifen könnte, als  seine Frau plötzlich in der Türöffnung erscheint, den Kunststoffrahmen in der Hand, und fragt, was sei, denn er sei heute so ungewöhnlich lange fort. Sie habe sich Sorgen gemacht.

Erschrocken, ohne recht zu wissen warum, blicken sie sich an,  sehen sie sich tief in die Augen, tiefer noch als sie sehen können.

Eine seltsame Sorge, denkt der Mann.

Wie an den Kragen gerissen, zucken sie zurück. Der Mann möchte  seiner Frau am liebsten erzählen, dass er etwas gehört habe, ein Husten, oder auch ein Wort in einer fremden, ihm unbekannten Sprache, aber er hält sich zurück, behält es für sich, will er sich doch ungern zum Narren machen. Hier draußen war noch nie etwas, wird, so schätzt der Mann die kommenden Situationen ein, nie etwas sein: einzig die Frau und er, und die Erinnerungen an eine Zeit, die es nie gab.

Nichts, flüstert er, sie solle sich nicht aufführen, solle keinen Unsinn reden, solle sich in ihrem Sessel und in den Fernsehbildern versenken; er folge ihr – jetzt, sofort.

Die Frau deutet ein Nicken an, obwohl sie unsicher ist, ob dies die richtige Reaktion ist.

Ihre Hand erscheint hinter dem Glas der Tür, gefolgt vom  kläglichen Rest ihres hageren Körpers, den sie Schritt für Schritt achtsam zum Sessel balanciert. Ihr Leben ist ein Drahtseilakt, eine Gang über eine schwankende Hängebrücke.  Sekunde für Sekunde muss sie achten, nicht in die Tiefe zu stürzen, hinab in jenen wilden Strom ihrer oder des Mannes Gefühle, die sie mit sich reißen würden, einem Wasserfall entgegen, dem sie seit ihrem Kennenlernen ausweichen.

Der Mann bleibt zurück, ein Blinzeln lang, das er nutzen will, sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass dort draußen nichts ist, was er nicht kennt, etwas Unbekanntes, das hier nichts zu suchen hat.

Dann schleift er den Wohnzimmerboden, die Tür aber lässt er halboffen, wie die eines Käfigs, von dem er nicht weiß, ob er sich darin oder davor befindet, ob er etwas fangen oder in die Freiheit entlassen soll.

Beide hocken sie in ihren Sesseln und beäugen nicht den Fernseher, wohl aber den Spalt, der zwischen Mauerwerk und Rahmen aufgetan wurde. Ein zahme Brise schlüpft ins Zimmer und lässt sich auf ihren Gesichtern nieder.

Nichts geschieht, nichts ist zu vernehmen, außer dem  röhrenden Gesang eines Schlagersängers, der ihnen seine vergebliche Liebesmüh in die Seelen quetschen will.

Eine, oder zwei Stunden später, sie haben jegliches Zeitgefühl in ihre eingeschlafenen Händen geschweißt, steht der Mann ruckartig auf und schließt die Tür.

Was, möchte die Frau fragen, was hast du erwartet.

Sie schweigt ihre Frage runter, drückt und würgt sie durch den Hals in ihren müden Bauch.

Der Mann schüttelt den Kopf, dann schleppt er sich in sein Bett, wie ein Verletzter, ein vom Leben getroffener, und dies ohne ein Wort auf dem Weg dorthin zu verlieren.

Da war nichts, spukt es durch seinen Kopf, bevor er sich bedeckt, weiter bedeckt hält, damit seine trügerischen Hoffnungen nicht als Worte auf der Zunge landen.

Die Kleider dem Huhn

Auf einem Schämel sitzt sie im Bauer
Die Federn graupeln durch die Küche, sind von
Einem gerupften Huhn, das läßt Federn fallen
Im Morgengrauen (wenn der Hahn kräht),
Die fallen in einen Trog, dort schwappt auch Blut –
Oh Königs=Saft. Ah ! Dieses sonderbare Erwachen!
Diese Bilder, die in der Netzhaut eingebrannt bleiben.
1000 Jahre der Nacht, die Sonne ist nicht mehr zu sehen,
In dieser stahldunklen Umgebung wird alles zu Stein,
Die Sinne der Mensch=Tiere mutieren.
Die Ultraschalljäger dominieren.

– Sie sagen, man könne etwas ändern
(Pause)
Am Menschen.
Gleichgültig ist der Blick des gerupften Huhns.
Merkwürdig leuchtende Nebelzonen, darin
Eigenartige Lichterscheinungen, wie große
Strahlende Kugeln, die sich unter der Wasseroberfläche zeigen.

– Hat man denn je etwas geändert
(Pause)
Am Menschen?
Nein, sage ich dir, es ist jetzt wie ehedem.
Eine junge Magd so glatt, so schüchtern,
Kommt durch die hohe Türe, kniet vor den Trog hin,
Die Hände gefaltet, wie einem Heiligen gefällig,
Senkt den Blick auf die Reste des frühen Morgens,
Die Reste von einem Huhn, die Kleider, das Gefieder.

– Man hat uns doch nicht wirklich alleine hier zurück gelassen?
Sie erhebt sich von dem Schämel,
Klopft paar Federn von der Schurz,
Legt das bereits nackte Huhn auf den Holztisch
Der Rauch=Küche. Gestampft ist der Boden,
Ertanzt, ackern, festgetrappelt, die Magd
Tritt an den Tod heran, befummelt das nackte Huhn.

– Das ist unser letztes Fleisch, wir sollten ebenfalls fortgehen.
Sie hüllen sich in dicke Mäntel. Bevor sie in die behandschuhten Hände
Den Koffer nehmen und Sonnebrillen aufsetzen (es schneit),

– Wo sollen wir hin?
– Erst einmal zur Straße!
Ziehen sie eine Schublade auf und holen die Hutschachtel heraus,
Ziehen Puppenkleider hervor und bekleiden das Huhn
Mit bunten, hübschen Sachen, hübsch das Hemdchen.