Archiv der Kategorie: Ausgabe 01/2010

Ausblick Sprachwandel (notula nova 67)

(Im Grunde, manchmal die Erfahrung / das Gefühl, die meisten Menschen können oder wollen mit ihrer Subjektivität gar nichts anfangen. Oder müssen sie noch entdecken …)

Und: Der Nichtstil ist der Stil. Und die Nichtkohärenz Kohärenz. Und die stetige Neuerfindung dessen. Als Kontinuitätsmuster. (Kontinuitätsmonster).

Kairos = time quality (Nicht: quality time)

Retrieval is the new user generated Hyperlink (netzliterarische Rezeptionsästhetik, 2.x)

Und noch etwas Grundsätzliches (ad Verlangsamung, nono 58): Man kann der Kritik an Bibliotheksentwicklungen vorwerfen, dass sie nur wenig ausformulierten Theorien von zukünftig problematischer Gesellschaftlichkeit das Wort redet. Selbst aber muss jetzigen Steuerelementen vorgehalten werden, dass sie im Windschatten von Dogmen sog. Systembedingter Acceleration (SbA) fährt. Auch solch ein Hang zu struktureller Entwicklung hat Konsequenzen (jenseits pausenlos wiederholter ökonomischer Sachzwängigkeit, die am eigenen Ast sägt). Man plant die eigene Auflösung. Und wir sprechen hier nicht nur von Text.

So eingetroffen auf der Buchmesse Olten, möchte man fast kalauern: Zwischen all den Knallerpreisen (you name it). (Der Kaffee wirkt noch nicht, aber warte nur …). Und: darauf muss man erst mal kommen: ol10 = Olten. (Die wechselseitige Pfropfung von Zeichensystemen. Jetzt auch im Selbstverständnis des Mainstreams. Darüber muss man einmal nachdenken: Geht so der Weg der Sprache, in näherer, in mittlerer Zukunft?)

nofretete persönlich (definitiv für martin)

heute kam >mauze an die küchentür. sie schnurrte kurz, kratzte, als wir nicht sofort öffneten, leise am holz, stolzierte schließlich durch die nun aufgezogene tür herein wie nofretete persönlich, ignorierte uns vollkommen abgrundtief komplett, schritt langsam durch unsre unterm tisch ausgestreckten beine hindurch zum wassernapf, rümpfte kurz die nase, weil er so gut wie leer war, trank ausgiebig, nachdem wir ihn, geplagt von schlechtem gewissen, gefüllt hatten, strich dann um den ofen, schnurrte erneut, jagte siebzehn sekunden lang ein unsichtbares etwas unter der spüle und sprang endlich mit einem einzigen eleganten satz auf deinen schoß. und als rené hereinkam, um sich einen mitternachtsimbiß zu bereiten, sagte er leise: na ihr drei?

marie

12. Januar 2010

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alpha : 0.02 – Zwei Stunden mit Anna Thomson verbracht, mit Sue in New York, mit einer Frau, die an Einsamkeit und Alkohol zu Grunde geht. Wollt gern hinter die elektrische Haut meiner Filmmaschine springen, um der Geschichte eine glückliche Wendung zu geben. Einmal hielt ich die Geschichte einfach an, in dem ich ihr weiteren Strom verweigerte. Aber das machte natürlich keinen Sinn, weil Geschichten, wie diese Geschichte, sich solange fortsetzen im Kopf, bis sie zu Ende gekommen sind. Und an Marie habe ich gedacht, an Marie, jawohl. Wie sie verrückt geworden ist. Als ich Marie zuletzt gesehen habe, lag sie im Flur ihrer Wohnung auf dem Boden herum und sah Geckos an den Wänden sitzen und ihre Zähne klapperten und ich musste aus der Bar im Erdgeschoss eine Flasche Cognac holen und sie damit füttern, damit sie wieder so ruhig werden wollte, dass ich sie zu ihrem Bett führen konnte. Aber dort kamen ihr die Geckos sofort wieder und spazierten über die Decke und sie musste sie mit einem weiteren Glas aus dem Zimmer fegen und ihr Körper gab restlos nach und sie schämte sich, obwohl ich ihr flüsterte, dass das nicht so schlimm sei, dass ich ihr helfen würde, sich zu waschen, dass sie jetzt endlich aufhören müsse, diese verdammten Filme zu drehen, und dass sie den Schweizer zum Teufel jagen solle, der nicht ein Freund sei, sondern ein mieser, kleiner Kunde, der nur dann in ihrem Wohnzimmer über sie herfallen wolle, wenn sie so betrunken geworden sei, dass er sich vor ihr nicht mehr fürchten müsse. Aber Marie hörte mich nicht, sondern weinte und verlor schnell das Bewusstsein und ich holte den Notarzt und wir fuhren in ein Hospital, wo man sie schon kannte. Und wie ich das jetzt so schreibe, erinnere ich mich, dass Marie einmal über das Telefon eine uralte Geschichte erzählte. Sie habe zu sich gesagt, so die Geschichte, dass sie jetzt aufhören werde. Schluss mit dem ganzen Wahnsinn, Schluss mit Pornobangbang, Schluss mit der Trinkerei. Sie habe alte Schulfreundinnen eingeladen zu sich in die Wohnung. Sie habe zunächst einen Apfelstrudel gebacken und alles habe sehr schön nach Vanille geduftet. Sie habe noch die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt und nur ein ganz klein wenig getrunken und kaum sei sie fertig gewesen mit der Putzerei, seien die Freundinnen angekommen, so seien sie hereinspaziert, als würden sie einen zoologischen Garten besuchen. Sie haben, sagte Marie, Marie gefragt, ob Marie ihre Wohnung shampooniert habe. Die haben sich nicht mal gesetzt! Und so ist Marie also verrückt geworden. – Ich geh jetzt gleich noch ein paar Schritte wandern im Schnee.
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Deutschlands Freiheit

Heute Morgen las ich im „Handelsblatt“, dass allein die Commerzbank neun Milliarden Euro Steuergelder erhalten habe. Gestern stand in meiner Tageszeitung zu lesen, Städtetagspräsident Gönner sorge sich, weil die Kommunen immer mehr an Straßenbau, Schwimmbädern, Theatern und Bibliotheken sparen müßten: „Das zerfetzt irgendwann auch mal die demokratische Stabilität.“ Und heute lese ich treffend Zitate des ehemaligen Kulturstaatsminister Naumann und seines Nachfolgers Neumann:

„Das bedeute auch, «wenn Politik ausgerechnet an diesem sowieso schon schwachen Feld kürzt, kürzt sie an ihrem eigenen inneren Sinn. Das müssen auch die jetzt in Not geratenen Kommunalpolitiker verstehen. Und jeder Kommunalpolitiker, der sich entscheidet, Bilder eines Museums zu verkaufen, weil sie ihn nicht interessieren, macht weitreichende Kulturpolitik, und zwar schlechte.» Und wenn wie in Wuppertal überlegt wird, ein Theater womöglich zu schließen, einen Ort, wo Pina Bausch Tanztheater-Weltgeschichte geschrieben hat, wenn man also ernsthaft daran denkt, diesem wahrhaft historischen Ort den Finanzhahn zuzudrehen, dann ist das einfach eine Schande, und ein völlig falsches Signal sowieso.»

Die Kulturausgaben seien keine Subventionen, meinte Naumann und argumentiert damit wie sein jetziger Nachfolger als Kulturstaatsminister, Bernd Neumann (CDU). «Kein Mensch sagt, die Bundeswehr wird subventioniert, aber die Kultur wird angeblich subventioniert. Das ist lächerlich. Das Volk der Dichter und Denker ist in Wirklichkeit noch immer befangen in einer Vorstellung von Politik als etwas Kulturfernem. Und Politiker sehen sich in diesem Land als Mäzene, die sich herabneigen und der Kultur etwas spenden aus dem Steuersäckel – niemals würden wir das vom Verteidigungsminister sagen. Deutschlands Freiheit wird in Wahrheit nicht am Hindukusch verteidigt, sondern in den Theatern, Konzertsälen, Opernhäusern, Museen und Buchläden und natürlich in den Schulen – dort wird unsere Freiheit in Wirklichkeit konstituiert und verteidigt.» (Mehr unter anderem in derAhlener Zeitung).

Die Commerzbank ist systemrelevant, Kultur jedoch ebensowenig wie Schwimmbäder und „glückliche Menschen“ oder wenigstens Menschen, die ihr Leben gestalten können bzw. ihre Kinder anständig ernähren können. Nach Guido Westerwelles Ausfällen und den Anmerkungen Gönners und Naumanns sollten wir Schriftsteller, wir Intellektuellen doch ruhig einmal die „Systemfrage“ stellen. Inwieweit leben wir in einer Demokratie oder herrschen tatsächlich dekadente, spätrömische, also herzlich wenig demokratische Zustände?

Bitter im Mund

Monique Truong: »Bitter im Mund«, C.H.Beck 2010
Monique Truong: »Bitter im Mund«, C.H.Beck 2010, Foto: © Marion Ettlinger

••• Auf Monique Truongs neuen Roman »Bitter im Mund« musste ich länger warten, als mir lieb war. Bereits vier Monate vor Erscheinen wusste ich, dass ich dieses Buch lesen muss, und ich hatte eine sehr bestimmte Ahnung, dass ich es auch mögen würde. »Bitter im Mund« ist – wie »Die Leinwand« – im Verlag C.H.Beck erschienen, und aus diesem Grund konnte ich in der Verlagsvorschau, in der auch mein Buch angezeigt wurde, bereits den Klappentext zu Truongs neuem Roman lesen, als der noch nicht einmal fertig ins Deutsche übersetzt war.

»Du würdest unter dem zerbrechen, was ich über dich weiß, kleines Mädchen.« Das sind die letzten Worte der Großmutter Linda Hammericks, und es bleibt ihr überlassen, herauszufinden, was damit gemeint war. Linda, Mitte der Siebziger Jahre in Boiling Springs, North Carolina, aufgewachsen und heute in New York lebend, hat eine Gabe, die sie vom Rest der Familie unterscheidet. Sie kann Wörter »schmecken«, und an diese besonderen Wahrnehmungen heften sich zugleich ihre Erinnerungen. Aber ihre frühe Kindheit liegt im Dunkeln, geblieben ist ihr nur ein bitterer Geschmack im Mund, den sie keinem bestimmten Wort zuordnen kann.

Linda Hammerick ist die Erzählerin dieser modernen Südstaatensaga; und Linda erzählt sich selbst, beginnend mit ihrem siebten Lebensjahr. Ein »Davor« gibt es nur im Leben der anderen, ihrer nahen und entfernten Familienmitglieder. In ihrem eigenen Leben scheint es dieses »Davor« nicht zu geben. Und wenn Linda über ihre Mutter DeAnne schreibt, sie sei allem Anschein nach bereits als 35-Jährige zur Welt gekommen, so kann man mit gleichem Recht annehmen, Linda hätte ihr Leben als Siebenjährige begonnen. Ihr Großonkel, den sie immer nur beim Kosenamen Baby Harper nennt, ist ein leidenschaftlicher Fotograf. Dass er selbst, da immer hinter der Kamera, nie auf den unzähligen Familienfotos auftaucht, berichtet Linda. Dass auch sie selbst auf keinem der von ihr beschriebenen Fotos zu sehen ist, obgleich der geliebte Großonkel doch keine Gelegenheit ausgelassen haben dürfte, sie zu fotografieren, das hingegen spricht Linda nicht aus.

Was Linda erzählt, ist die Geschichte einer in den Südstaaten verwurzelten Familie. Sie berichtet von drei Generationen, allesamt ehrbare weiße Südstaatler, Anwälte und sogar Richter, bei deren Charakterisierung man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, sie wären allesamt noch höchstselbst als Landnehmer nach North Carolina gekommen, Ur-US-Amerikaner gewissermaßen und so weiß, dass sie die in Boiling Springs zweifellos ebenfalls lebenden »Schwarzen« nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn, dass sich ihr Leben mit deren Leben kreuzen würde – sieht man einmal vom Bitte-Danke an der Supermarktkasse ab.

Die Erzählung setzt ein mit dem Tod der Großmutter Iris, einer Frau, die die ebenso seltene wie unbequeme Eigenschaft besaß, »immer die Wahrheit zu sagen«. Und »immer« meint hier tatsächlich »immer«. Wenn Iris also auf dem Totenbett zu ihrer Enkelin den oben zitierten Satz spricht, kann kein Zweifel daran bestehen, dass tatsächlich etwas geschehen sein muss, an das Linda sich nicht erinnern mag oder erinnern kann, und folgerichtig beginnt sie umgehend, ihre und die Vergangenheit der Familienmitglieder erzählend zu durchforsten: Was nur könnte Iris gemeint haben?

Hinweise auf eine Antwort finden sich jedoch weder in den über 800 Mädchenbriefen, die Linda über Jahre mit dem Nachbarsmädchen Kelly getauscht hat, noch auf den Fotos in den Alben Baby Harpers. Ja, mit gerade einmal 11 Jahren muss Linda eine Vergewaltigung erdulden, durch einen Typen namens Bobby, ein Cousin Kellys, den Mutter DeAnne angeheuert hatte, um den Rasen rings um das blaue Ranchhaus zu mähen, in dem die Hammericks leben. DeAnne, mutmaßt Linda, hätte es auf diesen Bobby abgesehen gehabt und so ihre Tochter fahrlässig dem »Kinderschänder« ausgeliefert, indem sie ihm sorglos gestatte, sich »im Haus die Hände zu waschen«. Bobby verstand etwas anderes darunter. Linda erzählt aber niemandem davon. Iris konnte es, als sie ihren Orakelsatz sprach, unmöglich gewusst haben. Und selbst Baby Harper erfährt erst Jahre später davon, an Lindas letztem Abend in Boiling Springs, dem Abend des Abschieds, dem Abend der Geständnisse, bevor sie abreist, um in Yale zu studieren.

Linda beschreibt im ersten Teil des Buches die Highschool- und College-Zeit mit den üblichen Quarterback-Ken-und-Cheerleader-Barbie-Geschichten, einer langwierigen, heftigen Verliebtheit und und und… Alles ist so easy oder eben auch schwierig, wie Teenager-Sein nun einmal ist. Gelegentlich hat man den Eindruck, diese Biographie sei eine Art Abziehbild, schematische Blaupause ungezählter Hollywood-Filmdrehbücher. Nein, in all diesen Erzählungen findet sich kein verwertbarer Hinweis auf jemanden oder etwas, das Großmutter Iris‘ Satz rechtfertigen könnte: »Du würdest unter dem zerbrechen, was ich über dich weiß, kleines Mädchen.«

Dennoch kann man nicht anders, als Monique Truong aufmerksam zu lauschen. Sie erzählt technisch auf höchstem Niveau. Die Idee, Linda mit einem sechsten Sinn auszustatten, der sie Wörter schmecken lässt, liefert immer wieder ganz wunderbare Erzählfiguren, die ich genossen habe, und es ist ein Verdienst der Übersetzung, dass sich der Zauber dieser Verbindung zwischen Wortbedeutung und Wortgeschmack auch im Deutschen mitteilt, etwa wenn Linda ihren Nachnamen »zerschmeckt«:

Ich zog das »Ham« in die Länge, verweilte beim »me« und weichte das »rick« etwas auf. Ich wiederholte das Wort, und jedes Mal, wenn ich seine drei Silben langsam im Mund miteinander verband, stieg mir der kitzelnde Geschmack süßer Lackritze mit einem Nachhall von Holzrauch in den Mund. Ein Phantomschluck Dr. Pepper. Auf dich, Iris.

»Bitter im Mund« ist literarische haute cuisine. Ich habe dieses Buch nicht einfach nur gelesen, sondern Seite für Seite gegessen, die Geschichte, die Worte geschmeckt. Truong ist eine Wortzauberin, eine Dichterin, die hier geschliffene, atmosphärisch aufgeladene Prosa liefert. Besonders sympathisch empfand ich, wie liebevoll sie sich ihren Figuren nähert, selbst den problematischen wie etwa der des Vergewaltigers Bobby. Keine ihrer Figuren muss sich fürchten, von ihr erzählt zu werden. Denunziation gibt es nicht.

Und dennoch: Auf Seite 120 etwa habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ob – und wenn ja warum – diese Geschichten erzählt werden mussten. Auf Seite 150 war ich sogar einmal versucht, trotz allen poetischen Vergnügens das Buch beiseite zu legen, aber ich blieb bei Linda … Und dass ich geduldig war, wurde belohnt.

Etwa in der Mitte des Buches berichtet Linda von ihrer Abschlussfeier in Yale, von dem Augenblick, als sie aufgerufen wird, um vor den Mitabsolventen ihres Jahrgangs ihr Diplom entgegenzunehmen. Mit einem einzigen unscheinbaren Satz stellt Monique Truong alles bis dahin Erzählte auf den Kopf, und von diesem Moment an hebt der Roman ab wie ein Jet. Kein Stein bleibt auf dem anderen, keine Figur bleibt, was sie zunächst zu sein schien, und eine Flut von »Enthüllungen« (so der Titel des zweiten Teils des Buches) lassen über dem zuvor erzählten Abziehbild eine andere, eine heftige, schmerz- und verlustreiche Erinnerungslandschaft aufleuchten. Von alldem will ich nichts verraten. Den magischen Satz aber will ich zitieren:

Linh-Dao Nguyen Hammerickdr.pepper, summa cum laude, Literaturroastbeef

So wird »Linda« aufgerufen. Während das Wort »mum« nach Schokoladenmilch schmeckt und »Linda« nach Minze, schmeckt »Linh-Dao Nguyen« nach … Ja, wonach? Es hinterlässt im Mund einen bitteren Geschmack.

Monique Truong, 1968 in Saigon geboren, kam mit sechs Jahren in die USA. Sie studierte an der Yale University und der Columbia University School of Law und arbeitete in einer namhaften New Yorker Anwaltskanzlei, wo sie sich auf Urheberrecht spezialisierte. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien und wurde für ihren ersten Roman »Das Buch vom Salz«, der in viele Sprachen übersetzt wurde, u. a. mit dem Fiction Award des Bard College und dem Young Lions Award ausgezeichnet. Monique Truong lebt in New York. Ihr neuer Roman »Bitter im Mund« (328 Seiten, 19,95 €) ist soeben in deutscher Übersetzung bei C.H.Beck erschienen. Die englische Originalausgabe ist erst für August 2010 angekündigt.

Die Banater Emmanuelle.

„Ich möchte Ihnen keine Probleme wegen Ihrer Frau bereiten.” Sagte sie. Ich hatte an der Theke des >>>> Soupanovas gesessen, es war proppevoll gestern nacht. Ob sie mich wohl gleich erkannte? >>>> „Junge Frau”, das hatte ihr g a r nicht gefallen, war mein Gefühl; vertraute ich ihm, dachte ich vorher, dürfe ich auf gar keinen Fall Krawatte tragen.
„Ich habe erwartet, Sie im Anzug zu sehen”, sagte sie denn auch, die junge Frau.
„Nicht im Soupanova.” Was gelogen war: ich zieh an, wonach mir ist. Bei ihr war mir nach harter Lederjacke. Lammfellweste drunter, was dann erst recht zu warm war. Cigarillos, logisch. Ich erkannte sie sofort, als sie eintrat. Au weia, dachte ich. „Ich möchte Ihnen keine Probleme wegen Ihrer Frau bereiten”, war der erste Satz, den sie zu mir sagte.
„Das gibt keine Probleme. Meine Frau und ich, wissen Sie, das ist ein seltsames Verhältnis. Sie lehnt mich sexuell ab… nein nein, ich habe kein Problem damit, das offen zu sagen. Man kann sagen: sie lehnt meine sexuellen Neigungen ab. Dennoch sind wir zusammen. Dennoch, sie ist meine Frau. So ist das.”
„Sie sind in sexueller Hinsicht ziemlich frei, oder?”
War das bereits der Flirt? „Das Problem sind mehr meine Geliebten. D i e finden meine Eskapaden nicht lecker. Meiner Frau sind sie egal.”
„Geliebten? Immer gleich in der Mehrzahl?”
„Sehen Sie”, sagte ich, „Sie jetzt auch schon.”
Ich half ihr aus der Jacke. Sie ist relativ hochgewachsen, wie viele junge Menschen heutzutage, ich bin dagegen ein Kleinwüchsler von einsneundundsiebzigeinhalb. Eine Geliebte hatte mal gesagt, sie trage in meiner Gegenwart besser keine hohen Schuhe. Was mich verstimmt hatte. Daß „es” nicht der Körperwuchs sei, hatte ich erwidert und mir spontan angewöhnt, von j e d e r Frau ab, sagen wir, 1.77 einzufordern, um EmmanuelleArsansWillen nie auf hohe Schuhe zu verzichten. „Ich trage keine hohen Schuhe”, sagte nun d i e s e Arsan. Sie war auch sonst jugendlich gekleidet: Jeans, Pulli, darüber ein dunkles Blouson – eine schmale Frau, die einmal elegant werden wird. Weiß sie aber noch nicht. Spontan die Lust, ihre linke Brust zu berühren. Man sagt mir zwar anderes nach, aber das stimmt nicht: ein Grabscher war ich nie. Nur die Augen halt. Ich schaue immer direkt, nie verstohlen. Sie merkte das und ging ein wenig ins Hohlkreuz.
„Das hat Ihnen nicht gefallen, das mit der jungen Frau.”
„Ich bin 26.”
„Eben.”
„Wissen Sie: rotes Haar ist an sich nicht mein Revier.”
„Sind Sie enttäuscht, weil sich das ändert?”
Da war ich erstmal sprachlos.
Sowieso.

Ich war davon ausgegangen, daß wir uns duzen würden, von Anfang an; sie ließ mich aber, bis zum Schluß, aus meinem inszenierten Sie nicht heraus. Ihr das Du anzubieten, hätte was von einem etablierten Herrn gehabt, der sich zu einer „Kleinen” herunterbeugt, was in unserem Fall schon wegen Arsans Körperhöhe nicht geht, aber vor allem meinem Jagdtrieb vors Schienbein, nein: vor beide, getreten hätte; Lederjacke, sag ich nur. Ich saß auf dem Barhocker, sie stand neben mir. Ich hatte keine Lust, chevaleresk zu sein. Heute mal nix Alte Schule. Übrigens ließ sie ihre Blicke genau so sinnlich über mich laufen. Genau so klar war aber, daß sie mich heute nicht mit ihr schlafen lassen würde. Noch nicht. Leser, Sie werden meinen Genuß kaum ahnen, das hier hinzuschreiben und dabei zu wissen, daß sie es lesen wird. Ich schreib das eigentlich auch nur für sie, nicht für Sie; daß Sie dabei zugucken, garantiert die kleine pikante Perversion, die ich bei so etwas schätze. Was diese (ich insistiere:) junge Frau ziemlich gut weiß. Überhaupt war sie informiert über mich, man kann sagen: sie hatte sich vorbereitet. Nicht für ein devotes Vorstellungsgespräch (sowas inszeniere ich ja auch immer mal gerne für Blinddates), sondern auf einen Ringkampf. Sie sagte das nicht, aber ich hörte: „Ich bin keine Trophäe”. Wahrscheinlich stellte sie sich um meinen Schreibtisch herum lauter Souvenirs von Frauen vor. Vor noch drei Jahren hätte sie recht gehabt. Über meiner Schreibtischlampe hingen damals zwei Nylons, nein, nicht von einer Frau, in meine Schreibtischschublade tat ich fast zwei Jahre lang Slips von Frauen, die sie mir beim allerersten Treffen gaben, an der Bücherwand hing ein BH. Sowas gefiel mir. Ein Ohrreif, den ich einer Schönen nachts aus dem Läppchen riß, nicht absichtlich, nein, sondern wir fielen so übereinander her, und das Blut schmeckte mir, ich kann ganz versessen auf Blut sein, auch auf jenes mit dem starken Metallgeschmack… – also der Ohrreif, fein, silbern, liegt bis heute auf meinem Schreibtisch, ich schaue ihn immer wieder an. A u c h eine hochgewachsene Frau, übrigens, Basketballerin, Profisport. Dann fing ich eine Liste aller Frauen an, mit denen ich jemals geschlafen habe, ich numerierte sie durch, das wäre sonst unübersichtlich geworden – ich brach das aber ab, weil ich hätte auch diejenigen Frauen mit draufschreiben müssen, die ich wirklich geliebt habe und immer noch liebe. Das wollte ich nicht. Es waren bis da hundert/hundertfünfzig Namen, ich weiß nicht mehr, so schwindlig war mir. Die Angelegenheit selber ist kein Grund, sich zu schämen; ein Grund, sich zu schämen, ist, daß einem manche Namen nicht mehr einfallen, man hat nur noch den Vorschein eines Gesichtes, oder einen Sprechklang, oder eine besondere – „technische” ist falsch – Vorliebe; auch sehr schwere Brüste bleiben in der Erinnerung, die in den Handflächen sogar taktil erhalten ist. Eine andere Frau, die momentan eine Rolle zu spielen beginnt, schrieb: ihre Art (ihre A r t, stellen Sie sich vor!) sei immer auf den Samen des Mannes aus. Das sind so Sätze, denen keiner entkommt. Es sind nämlich nicht Sätze, sondern Fallen: hier ist es sogar eine Rutsche, über die man hoffnungslos in den Schlamm der Seeufer glitscht. Dann wird gefaßt, er wird gezogen und ertränkt. Am besten hört man diesen Sätzen gar nicht erst zu. Am besten, man liest weg. Kann man aber nicht, weil sie zu gut, zu perfekt gewundene Schlingen sind; einer wie ich dürfte nicht mehr vor die Tür, wollte er sich nicht verfangen. Das wissen diese Frauen. Den Kokolores von Seelennähe und pochender Verliebtheit, die an den Wänden der Pubertät entlangstreicht, dürfen Sie, Leser, getröstlichst vergessen, wenn die Genetik Arsans herrliche Zähne zeigt. Ich hab mal in einem Porno eine Szene gesehen, very close up, die eigentlich nichts war als die Szene, die man in j e d e m Porno sieht. Hier aber sah man die unpersönliche Gier, eine von der Frau wie von dem Mann als Bewußten völlig abgelöste Gier, eine Gier des Organs, muß man das nennen: und zwar, wie die inneren Labien über den Schaft leckten n a c h dem Erguß: sie leckten ihn a b; da sollte nicht ein bißchen vergeudet werden, nein, alles alles sollte rein. Das war der Wille des Organs und hatte mit den beiden Beteiligten gar nichts mehr zu tun. „Irgend eine Kraft des Universums hatte sich in einer Stelle ihres Körpers konzentriert”, schreibt Pynchon.
Über alledies sprachen wir, Frau Arsan und ich, aber gar nicht mehr, sondern das war eine Voraussetzung. Es wurde spät, nein: früh, als wir uns trennten. Sie erzählte, wie sie zur Literatur gekommen sei, sie erzählte von Rumänien, vor allem von ihrem Großvater, so kamen wir auch auf >>>> Peter Grosz, kamen auf Hertha Müller und Richard Wagner. Da war sie naiv. Sie g l a u b t e einfach, was geschrieben stand, was behauptet wird, was inszeniert ist; sie war dieser ganzen Heuchelei, bei der es nur um Machtpositionierung im Literaturbetrieb geht, wie ein ganz kleines Mädchen aufgesessen. Ich fand, sowas stehe ihr nicht. Also diskutierten wir. Ich berichtete ihr von den Hintergründen; vieles wußte sie einfach deshalb nicht, weil sie viel zu jung gewesen ist damals… überlegen Sie mal: als die Mauer fiel, war sie fünf. Was konnte sie erlebt haben von den Banater und Siebenbürger Auseinandersetzungen noch zur Ceauşescu-Zeit? Nichts, gar nichts. Alles nur ein Hörensagen. Ich blieb aber sehr ruhig, jetzt wirklich mal der ältere, besonnene Mann. Der einfach nur Verhältnisse geraderückt. Und ihr nebenbei zeigte, wie dieser Betrieb funktioniert und wo die Fußangeln liegen. >>>> Scheel, der als ein solcher peinliche Anhänger John Waynes, weil damit besondrer US-Experte für europäisches Denken, hat sie >>>> mit ihrem Foster-Wallace-Projekt zum >>>> Merkur eingeladen; das muß man sich vorstellen. Andere nicht. Weshalb? „Sie sind eine schöne junge Frau, deshalb.” „Aber er hat mich doch noch nie gesehen.” „Das spielt keine Rolle, weil er eine Projektion von Ihnen hat und weil Sie diese weibliche Fähigkeit h a b e n, Projektionen in Männern auszulösen. In mir auch, klar. Wenn man Sie treffen will, sein Sie damit heikel. Alle wollen eines, in beruflichen Zusammenhängen ist das blöd, wenn Sie dann abweisen müssen. Das hat Folgen. Mir haben die Schwulen immer übelgenommen, daß ich nicht zu ihnen gehöre. Was meinen Sie, was ich deshalb an Aufträgen alles verloren hab. Und was Sie anbelangt: klar, i c h will das auch, selbstverständlich, es wäre außerdem beleidigend für Sie, wollte ich es nicht: mir Ihren Körper nehmen. Aber auf mich sind Sie beruflich nicht angewiesen, es ist sogar besser, Sie erwähnen mich nicht, damit man Sie nicht in Gruppenhaft nimmt. Also haben Sie jede Freiheit, meine Avancen abzuwehren.”
Da lachte sie was. Ganz frei, fast unschuldig. Was sie natürlich nicht ist.
Dann Foster Wallace. Verhältnismäßigkeiten. Was alles nicht mehr bekannt ist. Die Großen Romane. Was Dichtung ist. Was das L e b e n eines Dichters ist. Daß es sich nicht um einen Beruf handelt. Daß man nie wissen wird, ob man wirklich einer war, noch dann nicht, sagt Mahler, wenn man auf dem Sterbebett liegt. Daß da immer eine tiefe Unsicherheit bleibt, die man entweder mit öffentlichem Erfolg bemäntelt oder mit Größenwahn oder mit beidem. Darüber sprachen wir. Ich war erregt, als ich ging. Es war an mir, das Gespräch zu beenden, i c h führe, Punkt. Aber ich war erregt. Es war irgendwas nach eins. Wir werden uns wiedersehen. Abermals: Punkt.

Der Herr der Dschungel

Gestern Nacht um ein Uhr, es war sogar schon nach eins, also eigentlich heute, vor fünf Stunden, komme ich nach Hause und Olga steht in der Türe. „Wie war‘s?“ fragt sie ohne Einleitung. Als wäre ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Mann verabredet gewesen. Ich gebe einen Ton von mir, antworte aber nicht ausführlich und gehe in mein Zimmer. Das ist bei uns klar geregelt. Türe zu bedeutet, dass man alleine sein will. Da halten wir uns auch dran. Ich habe mich ausgezogen, bin ins Bad gegangen, Zähne geputzt, wieder zurück und dann ins Bett. Da geht doch die Türe auf, Olga kommt rein, sagt kein Wort, kommt zu mir ins Bett, schmiegt sich an mich, legt eine Hand an meinen Busen, beißt mir feucht in den Nacken, sagt erzähl! und schläft ein. Da liegt sie auch jetzt noch, ohne sich zu bewegen, es ist viertel vor sieben, meine Tastatur klappert und klickert und Olga schläft.

Gestern Abend war ich mit dem Herrn der Dschungel verabredet. Ich bin ein paar Minuten zu spät gekommen. Das war strategisch bedingt. Ich wollte, dass er schon sitzt, wenn ich hereinkomme. Er hat aber gestanden als ich kam. Dann hat er sich gesetzt. Das war auch strategisch bedingt. Es war ihm wohl unangenehm, dass ich drei Zentimeter größer war als er. Vielleicht hat er gedacht, das fiele nicht so auf, wenn er sitzt. Dabei war er dann ja noch kleiner. Ich weiß, vielen Männern und Frauen ist die Körpergröße sehr wichtig. Männer müssen sich Frauen gegenüber größer fühlen. Vielleicht hat er sich aber auch hingesetzt, weil er gespürt hat, dass mir das nicht wichtig ist. Weil er die Größe dazu hatte.

Wir mussten ein bisschen warm werden miteinander und waren auch noch beim formalen „Sie“ als wir uns drei Stunden später getrennt haben. Aber das ändert sich irgendwann. Nichtsdestotrotz war das ein wunderschöner Abend! Wir haben über Literatur gesprochen, über Wallace natürlich und Pynchon. Ich konnte eine Menge lernen. Wir haben über Rumänien, die Securitate, Herta Müller und Richard Wagner geredet. Herr Herbst hat mir einen Vortrag über Neue Musik gehalten und ich habe den Versuch unternommen, ein einigermaßen intelligentes Gesicht zu machen. Ich habe dieses Gesicht aufgesetzt. Aber das stand mir gar nicht gut und dann habe ich es auch wieder abgesetzt. Er hat mir von seinem Sohn erzählt, von den Anfängen der Dschungel, von der Buchmesse, vom Profi und von der Löwin. Das war ein Gespräch zwischen zwei Künstlern, zwischen Künstler und Künstlerin. Wir waren einvernehmlich der Meinung, dass wir, was wir da tun, das Schreiben, dass man das nur kann, wenn man sich zu hundert Prozent engagiert. Wenn man mit seiner Person dafür einsteht.  Schreiben kann man nur, wenn man sich dem verschreibt. Soviel zur Legasthenie. Das ist ein gutes Gefühl, zu bemerken, dass ein anderer genauso denkt wie man selbst.

Außerdem weiß ich jetzt etwas, was ich vorher nur habe ahnen können: der Mann macht keine Umwege beim flirten. Der macht das einfach ganz direkt. Es gibt Männer, die um die Ecke flirten und erst einmal eine Lebensversicherung abschließen, bevor sie sich an die Arbeit machen. So ein Mann ist er der Herr Herbst nicht. Der hat die Arbeit dann schon hinter sich und der flirtet, weil ihm das Spaß macht (übrigens, Herr Herbst, ich bin stinksauer, sollte ich bei Ihnen unter „Arbeitsjournal“ eingegliedert werden!).

Beim Bezahlen, als ich bezahlen wollte, was mein Gegenüber allerdings nicht mit seiner Mannhaftigkeit verbinden konnte, habe ich ihm meinen Personalausweis unter die Nase gehalten. Ich lebe seit jeher mit meinem Namen. Inzwischen mag ich es, wenn Menschen nicht glauben wollten, dass ich tatsächlich so heiße. Aber ab einem bestimmten Punkt möchte ich, dass sie meine Existenz zur Kenntnis nehmen. Das ist ein enorm wichtiger Punkt, dass nach dem Zweifel die Sicherheit kommt. Weil ich mich durch den anderen selbst begreife. Weil ich mich über den anderen meiner Selbst versichere. Ich kann mir sagen, dass ich existiere, aber richtig begreifen kann ich es nur, wenn andere es können.

Olga liegt da immer noch. Vielleicht ist sie längst tot. Wie findet man das heraus? Irgendein Mann der sie beatmen will, wird sicher bald hier auftauchen. Habe ich schon erwähnt, dass Olga Model ist und schlicht und ergreifend der schönste Mensch, den ich jemals gesehen habe? Und die hat Männer, das ist zum Abschnallen! Bei uns in der Küche sitzen manchmal Typen rum, das ist unfassbar. Olga arbeitet oft für H&M und die Typen, die andere nur auf Plakaten an der Bushaltestelle sehen, die treffe ich bei uns in der Küche. Vielleicht sollte ich Olga wachküssen. An ihr ist einfach alles schön, die ist beim Schlafen schön. Ich sehe von hier ihren Hintern. Die hat nichts an. Vielleicht sollte ich einfach wieder ins Bett gehen und Olga anfassen. Aber ich finde sie nur schön, nicht erotisch.

Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.