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die schrift meines vaters

14. Dezember 2012

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nordpol : 7.05 – Dass mein Vater älter wurde und müde, war seiner Schrift deutlich anzusehen. Die Buchstaben wurden kleiner, manche standen senkrecht, andere neigten sich einer unsichtbaren Linie zu, auf der sie sich wortweise vorwärts bewegten. Ich könnte sagen, die Schrift meines Vaters wirkte so, als wäre ein Sturm seitwärts über sie hinweggefahren, zerzaust, und doch waren alle notwendigen Buchstaben für jedes der Wörter, die mein Vater geschrieben hatte, gesetzt. Er notierte zuletzt gerne mit Hilfe der Tastatur seiner Computermaschine, das war nicht so anstrengend, er vermochte die Größe der Zeichen zu variieren, so dass er sehen konnte, was er gerade auf den Bildschirm brachte. Einmal musste mein Vater einen Brief unterzeichnen, es war ein Oktobertag, mein Vater wartete lange Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruhte, hielt den Stift, den man ihm gereicht hatte, in der Hand, betrachtete diesen Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, er zögerte den Moment hinaus, da er mit der Aufzeichnung seines Namens beginnen würde. In diesem Moment ahnte ich, dass mein Vater seinen Namen malen würde, dass seine nichtbewusste Signatur, die ein Leben lang gültig gewesen war, nicht länger zu existieren schien, oder dass er unter den Augen eines Beobachters sich nicht länger traute, seine ureigene Signatur auszuführen. Ja, mein Vater fürchtete sich, weil der Wind der vergehenden Zeit seine Schrift erfasste. Sie war einmal eine akkurate Schrift gewesen, eine Schrift wie gedruckt, sie notierte komplizierte mathematische Formeln, ohne je ihre Fassung auf den Papieren zu verlieren. Als Junge beschloss ich, diese Geheimschrift der Zahlen und Wörter zu entschlüsseln, bis sie noch vor meinem Vater selbst zu verschwinden begann. Zurückgeblieben sind nun seine Stifte in einer Schublade: Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Buntstifte, auch ein Werkzeug, mit dem man in weisser Farbe notieren kann, vielleicht um zu korrigieren, vielleicht um Nichtsichtbares auf das Papier zu setzen. – stop

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Aus: Giacomo Joyce. Die Neuübersetzung (Editions-Vorfassung)

Erste Zeilen der im Herbst bei etkbooks erscheinenden Nachdichtungen

(James Joyce)
Who? A pale face surrounded by heavy odorous furs. Her movements are shy and nervous. She uses quizzing-glasses.
Yes: a brief syllable. A brief laugh. A brief beat of the eyelids.

Cobweb handwriting, traced long and fine with quiet disdain and resignation: a young person of quality.

***

(Helmut Schulze)
Wer? Ein blasses Gesicht, umgeben von dichten duftigen Pelzen. Ihre Bewegungen scheu und nervös. Sie benutzt ein Lorgnon.
Yes: Eine kurze Silbe. Ein kurzes Auflachen. Ein kurzes Senken der Augenlider.

Ihre Handschrift zieht lange, feine Spinnfäden, ihre abschätzige, ergebene Ruhe dabei: eine junge Frau aus gutem Hause.

***

(Alban Nikolai Herbst)
Wer? Ein blasses Gesicht in duftschweren Pelzen. Ihre Bewegungen scheuend, nervös. Dazu die Lorgnette.
Yes: Eine kurze Silbe. Kurzer Lacher. Ein Lidschlag.

Spinnenfäden-Handschrift, langgezogen und apart in Hochmut und stiller Ergebenheit: eine junge Standsperson.

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VERMISST. Großvaters blaue Kladde (2002)

„Nimm die Kinder, bitte! Geht weiter.“, sage ich. Mir rinnen Tränen die Wangen herab und hinterlassen hässliche braune Wimperntuschespuren unter meinen Augen. Dicht bin ich an die Vitrine herangetreten, damit es niemand sieht. Wenn sich aber einer seitlich hinter mich stellt, spiegelt sich für ihn mein aufgelöstes Gesicht im Glas vor den Kriegsgefangenenausweisen. Meine Mundwinkel zucken beim vergeblichen Versuch kein Geräusch zu machen. Das Schluchzen ist leise, aber B. hat es dennoch gehört. Er stellt sich hinter mich und sieht, was er nicht sehen soll. Ich will jetzt keine Frage danach, was los ist. Ich will, dass er weiter geht, dass er die Kinder nimmt, bevor auch sie etwas bemerken. B. weiß nicht, was er tun soll. Der aggressive Ton verunsichert ihn,  er legt mir die Hand auf den Arm. Doch ich schüttele ihn ab: „Geh.“ Er ruft die Kinder; sie gehen hinüber in den nächsten Raum und ich bin allein vor dieser Vitrine im Haus der Geschichte in Bonn, in der ein grüner US-amerikanischer Kriegsgefangenenausweis ausgestellt ist: Prisoner of War, Camp Ashby, CA. Auf Großvaters grünen Ausweis, erinnere ich, war quer das Wort „Carpenter“ gestempelt.
Neben dem Ausweis liegt in der Vitrine eine dieser roten Postkarten, genau wie die, die  ich in den Händen gehalten habe: Die vorgedruckte Meldung an die Verwandten, dass einer in Kriegsgefangenschaft geraten ist und in ein Lager verbracht worden über den Ozean und einen fremden Kontinent nach Kalifornien. Ich habe Großvater niemals über die Jahre am pazifischen Ozean sprechen hören. In seiner unsicheren Schrift hatte er auf die Rückseite der roten Karte über das Vorgedruckte geschrieben: Dein Albert  Euer Vater. Das hatten sie ihm offenbar durchgehen lassen. Auf dem Ausstellungsexemplar  in der Vitrine sind nur die vorgesehenen Felder ausgefüllt. Ich versuche, die Linsen wieder scharf zu stellen: Ein Hermann, geboren 1907, hat diese hier gen Osten und über den Atlantik geschickt.  Albert, mein Großvater, wurde 1909 geboren, als jüngster Sohn seines Vaters. Wie ihre beiden Vorgängerinnen starb meine Urgroßmutter im Kindbett. An Mutters Stelle trat für ihn seine älteste Schwester Grete. Neunzehn Jahre alt war sie bei seiner Geburt. Im Kindesalter hatte er eine schwere Hirnhautentzündung und konnte fast ein Jahr lang die Schule nicht besuchen. Die Grete hat sich um ihn immer noch ein bisschen mehr gesorgt als um ihre anderen Geschwister. Albert, mein Großvater,  war in der Schule nach der langen Auszeit durch die Krankheit hinter seinen Kameraden zurück geblieben. Mit 14 Jahren ging er bei einem Großonkel in die Schreinerlehre. Meine Knie zittern. Ich suche nach einer Sitzgelegenheit, finde keine. Aber der Weg zur Toilette ist ausgeschildert. Dort kann ich mich einschließen und ausheulen.
Es hat mir nie jemand erzählt, wie Großvater Emma kennenlernte. Vielleicht hat es auch keiner gewusst von denen, die überlebt haben. Aber alle, die sie noch zusammen gesehen hatten, sagten, es sei eine große Liebe gewesen. Emma war anders als die anderen Frauen aus dem Dorf. Sie kaufte sich in der Stadt Zeitschriften und schneiderte sich die neueste Mode nach. Um den Hals legte sie sich einen Fuchspelz. Ihre schmalen, eleganten Kostüme bedeckten gerade die Knie. Doch ich kenne kein Foto von ihr aus jenen Jahren, als sie noch ledig und kinderlos war. Sie war vier Jahre älter als Albert. Mit der geraden, langen Nase, der hohen Stirn und dem länglichen Gesicht entsprach sie einem Schönheitsideal, wie Henny Porten es geprägt hatte. Bei den Kundinnen waren ihre Kreationen beliebt; sie selbst, hat man mir erzählt, eher nicht. Die Leute fanden sie hochnäsig mit ihrem Pelz und in den figurbetonten Kostümen. Auch als sie schon zwei kleine Mädchen hatte, arbeitete sie von zu Hause aus als Schneiderin weiter. Das war nötig, denn Großvater hatte für sie ein Haus gebaut, das abbezahlt werden musste und die Erlöse aus seiner Schreinerwerkstatt langten dafür nicht. Ihr scheint das nichts ausgemacht zu haben. Auf den Fotos berühren sich die beiden nicht, aber sie stehen ganz eng bei einander und ihr Stolz reicht hin, um seine Scheu, sein sanftes Lächeln um ihre Strenge auszugleichen. Auf dem letzten Foto, das die vier zusammen zeigt, steht meine Mutter, damals vier Jahre alt, neben ihrer Schwester, beide tragen sie weiße, spitzenverzierte Kleidchen, die Emma genäht hat. Albert trägt die Wehrmachtsuniform. Die beiden Erwachsenen sehen bedrückt aus, während die Mädchen in die Kamera lachen. Sie werden nie mehr zu viert vor einer Kamera stehen. Aber es wird nicht er sein, der fehlen wird.
Es ist nicht Trauer, begreife ich, als ich auf dem Klo sitze und die Tür von innen verriegele, weswegen ich weine. Ich kralle die Hände um den Rand des Deckels, auf den ich mich gesetzt habe. Ich möchte zuschlagen, irgendetwas entzwei hauen. Es ist Wut, pure Wut. Ich habe Emma nicht gekannt. 1944 ist sie bei einem Bombenangriff der US-Armee auf die Kreisstadt verschüttet worden. Ich weine nicht um sie. Ich weine wegen ihrer Schwester Minna, die die blaue Kladde verschwinden ließ, den grünen Ausweis, die rote Postkarte und die Briefe von Margret und Röschen an ihren Vater. Nur die zwei oder drei  Fotos von Emma und Albert mit Margret und Röschen gibt es noch. Sie kleben im Fotoalbum meiner Mutter. Aber alles, was Großvater Jahrzehnte lang in der blauen Kladde versteckt hatte, ist weg. Die blaue Kladde war in Großvaters Sekretär in der Werkstadt eingeschlossen, wo die Leitz-Ordner mit den Rechnungen an seine Kunden und alle anderen wichtigen Dokumente, sein Pass, seine Gewerbebescheinigung, seine Handwerkerrolle lagen. Ganz unten fand ich die Kladde, ein mit blauem Stoff eingeschlagenes Buch, dessen linierte Seiten zur Hälfte in seiner schwer leserlichen, spinnenhaft dünnen Handschrift beschrieben waren. Manchmal, selten, stand der Rollsekretär offen. Ich habe nie gesehen, dass  Großvater die Kladde herausnahm, wenn ich bei ihm in der Werkstatt war. Ich fand sie erst, nachdem er gestorben war. Ich durfte mir immer den Schlüssel vom Bord in der Küche nehmen und niemand hat mich gefragt, wozu ich in die Werkstatt gehe, weil alle verstanden haben, dass ich mich an Großvater erinnern will, der für mich eine kleine Hobelbank gebaut hatte, an der Wand neben seiner großen und ein Bord geschnitzt, an dem meine kleinen Werkzeuge hingen und der die Minna überredet hatte, mir eine blaue Schürze zu nähen, gerade wie seine große Schreinerschürze, die er nur zum Essen am Mittag und spät am Abend auszog.
„Sie sin an Kopp un en Arsch.“, haben sie über uns gesagt. Aber er hat mir nie von Emma erzählt. Kein Wort. Meine Mutter hat immer behauptet, dass sie sich an kaum was erinnern kann aus der Zeit, bevor  Emma weg war. So spricht sie darüber. Sie sagt nicht: „Als meine Mutter gestorben ist…“ oder „Nach dem Bombenangriff…“ Sie sagt: „Meine Mutter war dann weg…“ Mein Großvater, erzählen die Leute, ist ein gebrochener Mann gewesen, als er aus Amerika zurückkam. Sie haben die Emma nicht gemocht,  aber keiner hat je einen Zweifel daran gelassen, wie sehr Albert sie geliebt hat und sie ihn auch. Wäre es anders gewesen, wäre sie ja auch nicht gestorben. Jeder hat es ihr gesagt, lassen sich die Leute aus und schüttelten noch dreißig Jahre später den Kopf, dass die Kreisstadt bombardiert wird und eine Mutter mit zwei kleinen Kindern nicht dahin fahren darf. Deshalb hat sie es heimlich getan, denn sie hat es nicht mehr ausgehalten. Albert war als vermisst gemeldet worden im Sommer 1944 und sie musste nach Monaten ohne ein Wort wissen, ob es etwas Neues  über ihn gab. Die Mädchen hat sie mit zum Bahnhof genommen und ihnen eingeschärft, dass sie im Häuschen am Gleis warten sollten bis sie zurück käme mit dem Abendzug. „Lasst euch nicht vor den Leuten blicken“, habe sie gesagt, erzählt die Margret. Emma ist niemals  mehr zurückgekommen. Margret und Röschen haben auf den Abendzug gewartet, der nicht kam. Die ganze Nacht haben sie gewartet. Am Morgen hat sie ein Großonkel gefunden und nach Hause gebracht. Der hat auch die Emma an ihrem Ehering identifiziert in der Kreisstadt, wo die Leichen oder das, was von ihnen übrig war, in der Turnhalle aufgebahrt wurden. Meine Mutter hat nie über diese Nacht gesprochen. Sie sagt, sie hat das vergessen. Sie war fünf Jahre alt. Die Margret war zehn.
Albert begann im November 1944 in die Kladde zu schreiben. Da war Emma schon zwei Monate tot. Das wusste er nicht. Er schreibt: „Geliebte Emma, wie es wohl den Kindern und dir gehen mag. Ich denke jeden Tag an euch. Wenn ich in unserem Lager vor die Türe trete, sehe ich das Meer. Das ist der pazifische Ozean. Es ist unendlich weit. Kannst du dir das vorstellen? Ich bin am Atlantik gewesen und nun am Pazifik. Du glaubst nicht, wie schön das Meer ist. Es reißt einem das Herz auf, wie weit der Blick drüber hingeht. Wie ich  es in der Bretagne zum ersten Mal gesehen habe, dieses unendliche Blau mit den weißen Kronen drauf, da dachte ich an dich. Wie anders es gewesen wäre, mit dir dort zu stehen. Du hättest das mit mir gefühlt, denn du willst auch immer mehr als das, was da ist. Aber ich habe den Hass in den Augen der Franzosen gesehen, an denen wir vorüber gefahren sind. Ich hatte nur eine Chance, das Meer zu sehen, nämlich als Söldner von einem Verbrechers andere Länder zu überfallen. Für Leute wie dich und mich ist es nicht bestimmt, ans Meer zu fahren, obwohl es doch Gott geschaffen hat für alle Menschen. Das hat mich bitter gemacht und mein Herz verschlossen, das grade noch so weit geworden war: Der Gedanke, dass du niemals das Meer sehen wirst, liebe Emma. Ich sehne mich so sehr nach dir. Ich wünschte, du könntest herkommen mit Margret und Röschen.“
Fast ein Jahr lang hat er jeden Tag Eintragungen in diese Kladde gemacht. Vokabellisten deutsch – englisch: the door – die Tür, the cabinet – der Schrank, Kirschholz – cherry wood, Kiefer – pine. An anderen Tagen füllt er die Seiten mit seinen Gewissensbissen: „Du sollst nicht schwören, sagt der Herr. So hat uns der Pfarrer gesagt. Ich habe mitgebaut an dem Podest für den Parteitag in der Kreisstadt. Als ich gefragt wurde, haben alle gesagt, das kannst du nicht ablehnen. Du hast meinen Kopf in die Hände genommen und mich beschworen: Wir brauchen das Geld. Wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte es ein anderer gemacht. Das ist wahr, aber es ist auch wahr, dass mein Vetter Richard sich lieber ein Beil in den Fuß gehauen hat, als für das Pack zu marschieren. Du hast zwei kleine Kinder, Albert, hast du gesagt. Aber wir beide, Emma, haben gewusst, dass es nicht recht ist und deswegen haben wir wach nebeneinander gelegen und geschwiegen. Am Ende habe ich den Schwur auf den Führer geleistet , als sie mich zum Soldat gemacht haben. Du sollst nicht schwören, sagt der Herr, und dafür werde ich bezahlen müssen. Denn ich habe geschworen und den Schwur gebrochen. Bei der ersten Gelegenheit bin ich getürmt und zu den Amerikanern übergelaufen. So ist das nämlich, Emma. Ich habe nicht kämpfen wollen für diese Verbrecher und meinen Schwur gebrochen. Was ist schlimmer, einen falschen Schwur leisten oder ihn brechen? Die Amerikaner sind gut zu mir gewesen. Sie lassen mich arbeiten und es ist warm und schön hier. Außer das ich nicht raus kann und dir nicht schreiben darf, Emma. Wie sehr ich euch vermisse! Geliebte, dein Haar, wenn du es löst in der Nacht.“

Manche Seiten sind halb leer. Da hat er versucht zu dichten, der Mann, der mein Großvater wurde und den ich nie ein Buch lesen sah, außer der Bibel und auch aus der nur die Psalmen, die er gern hörte, wenn ich sie ihm vorlas. Schlicht und zuweilen ungelenk sind seine Reime.
„Ich seh dich über die Felder laufen Den Kirchberg herab in meine Arme Die Welt möchte ich für dich kaufen Ach, daß sich Gott meiner erbarme, Daß ich dich bald wieder an mich drücke Und sich füllt in meinem Herzen die Lücke.“
Ich habe geweint, jedes Mal, wenn ich in der Kladde gelesen habe. Diesen Mann habe ich gekannt, der das geschrieben hat. Das ist der Mann gewesen, mit dem ich in der Werkstatt gewesen bin, der Mann, der mit mir im Wald auf die Rehe gelauscht hat und mir vom Duft der Maiglöckchen geschwärmt hat. Das war der Mann, auf dessen Schoß ich gesessen bin und der mir Märchen erzählt hat. Wenn dieser Mann die blaue Schürze abgebunden und an den Nagel gehängt hat und hinüber gegangen ist von der Werkstatt über den Hof ins Haus, dann ist er zu einem anderen Mann geworden, einem dicken, verschlossenen Mann, dem kaum mehr zu entlocken war als „Ja.Ja. Nein.Nein.“ Das ist der Mann gewesen, den die Minna gehabt hat. Der Albert, mit dem die Minna verheiratet war, war ein Mann, der das Fett vom Braten gesäbelt hat, um sich eine Wampe wie einen Panzer anzufressen.
Meine Mutter erzählt oft, wie schlimm es für sie gewesen sei, nach der Rückkehr ihres Vaters plötzlich Mutter zu der Frau sagen zu müssen, die immer die „Gote“, die Tante gewesen war. „Die ganze Trepp´ bin ich e nunner gerannt, damit ich se net rufe muss.“ Es muss grimmig gewesen sein in der ersten Zeit in dieser neuen Hausgemeinschaft aus einem Mann, dessen Herz gebrochen war und einer Frau, die wusste, dass er sie nicht wollte, und zwei Mädchen, die ihre Tante Mutter nennen sollten.  Albert kam erst 1949 zurück aus Kalifornien. Für meine Mutter brach die Welt noch einmal zusammen, erzählt sie, als der so lang herbei geträumte Vater endlich im Hof stand, ein hagerer Glatzkopf in Lumpen. Sie erkannte in ihm nicht den Vater, den sie ersehnt hatte. Auch der Schwester war sie entfremdet, denn die war während dieser Jahre in Felbach beim Emmas Familie gewesen. Der Albert bestand drauf, dass die Mädchen bei ihm aufwachsen sollten. Die beiden Familien setzten sich zusammen und fanden eine vernünftige Losung. Die unverheiratete Schwester der Emma sollte ins Haus ziehen, um die Mädchen zu versorgen. Und damit alles „eine Ordnung“ hatte, heiratete der Witwer sie.
Von dem Mann, den ich gekannt habe und der Emma geliebt hat, gibt es keine Spuren mehr, außer jenen zwei oder drei Fotos im Fotoalbum meiner Mutter, die gestellt sind und auf denen sie einander nicht berühren. Deshalb sind mir die Tränen gekommen. Ich vermisse den Mann, der nie das Haus betrat, in das Emma 1944 nicht zurückgekehrt war. In der Werkstatt habe ich ihn kennengelernt und in seinem Sekretär hatte er mir etwas hinterlassen. Das bilde ich mir ein. Ich muss mir alles einbilden. Denn die Kladde, die abbricht an jenem Tag, an dem Albert die Todesanzeige von Emma erhält mitsamt den Briefen, die die Mädchen endlich an ihn schicken dürfen im Herbst 1945, ist verschwunden. Eines Tages, als ich sie wieder aus dem Rollsekretär nehmen wollte, war sie weg. Die Kladde und all die Briefe und der Kriegsgefangenenausweis und die Postkarte aus dem Lager. Jedes Wort, das ich hier geschrieben habe, ist erfunden. Es hat diesen Mann nie gegeben. Als ich die Minna nach der Kladde gefragt habe, hat sie behauptet, sie habe nie eine gesehen. Meiner Mutter habe ich versucht zu erzählen, was Albert geschrieben hatte. „Das glaube ich nicht.“, hat sie gesagt.“ Das bildest du dir ein. Mein Vater hat nie mehr als ein paar Sätze geschrieben und auch die nur geschäftlich.“ Alle haben immer so getan, als hätte ich mir das Buch in der Werkstatt nur ausgedacht, um mich interessant zu machen oder weil ich den Großvater so sehr vermisse.
Ich war zehn Jahre alt, als Albert gestorben ist. Ich war elf, als die Kladde verschwand. In all den Jahren habe ich selbst manchmal gedacht, dass ich mir nur eingebildet habe, in Großvaters Sekretär habe ganz unten dieses blaue Buch gesteckt. Und dann lag er vor mir in der Vitrine in Bonn, der Ausweis, den ich wiedererkannte: Prisoner of War, Camp Ashby, CA. Großvater war in Kalifornien, von wo er eine vorgedruckte rote Karte nach Hause schickte an Emma, Margret und Röschen. So war es doch. Ich sehe die Minna in ihrem geblümten Kittel in der Tür zur Werkstatt stehen und mich zum Essen rufen. Schnell stecke ich die Kladde ins unterste Fach des Sekretärs zurück. Die Minna zieht die Schultern immer zusammen; sie muss sich anscheinend dauernd zusammenreißen. Nur einmal habe ich erlebt, dass sie sich gehen lässt. „Das ist mein Mann“, hat sie geschrieen, ganz zum Schluss, als der Albert gestorben ist. Aber er hat nicht mehr nach ihr gefragt. Von jedem Enkelkind hat er einzeln Abschied genommen, von seinen Töchtern auch. Nur nach ihr hat er nicht verlangt.
Ich pudere mir das Gesicht vor dem Spiegel in der Museumstoilette und ziehe den Lidstrich sorgfältig nach. Minna ist jetzt seit zwei Jahren im Altersheim und seit einem Jahr nicht mehr ansprechbar. Ihre Wohnung habe ich zusammen mit meiner Mutter ausgeräumt, Ich habe alle ihre Schränke durchsucht. Da war keine Kladde. Vor der Tür der Toilette wartet B. mit den Kindern. Sein Blick sucht den meinen. Ich nicke ihm zu. Am Abend nach der Rückkehr aus Bonn rufe ich meine Mutter an und lenke das Gespräch auf Großvaters Cousin Richard. Sein linker Fuß ist verkrüppelt, solange ich ihn kenne. Ich frage meine Mutter, wie das passiert sei. „Ein Unfall“, sagt sie, „das weißt du doch, beim Holzhacken.“ Das haben alle immer gesagt. „Wann war das?“ „Weiß ich nicht mehr genau. Da war ich selbst doch noch ein Kind. Das muss gewesen sein, bevor meine Mutter weg war.“ Wochen später bei einer Geburtstagsfeier setze ich mich neben Richard. „Hast du Schmerzen in dem Fuß?“, frage ich. „Immer noch. Immer wieder.“ „Das war unglaublich mutig von dir.“ Er schaut mich überrascht an. „Was?“ „Dir in den Fuß zu hacken, damit du nicht für die Nazis kämpfen musst.“ Richard packt mich am Arm. „Das hat nur der Albert gewusst, wie es wirklich war. Hat er dir das erzählt?“ Da kommen mir noch mal die Tränen und ich muss wieder aufs Klo flüchten, bevor jemand was merkt.

Wann ist dein Buch denn fertig?

“Und wann ist dein Buch fertig?” fragte Vater.

Kurz zuvor hatte er gefragt, wie ich meinen Nachmittag verbringen würde, worauf ich “am Schreibtisch” geantwortet hatte, und jetzt antwortete ich zögernd “Mein Buch..? Fertig? Nächstes Frühjahr..”, zögernd und wie aus der Luft gegriffen, es gab nämlich keinen Zeitpunkt, keinen Masterplan. Ich hätte auch “nächste Woche” antworten können, das wäre nicht weniger richtig oder falsch oder wahrscheinlich gewesen.

Zwar gab es immer wieder mal Anstöße für ein Buch, ob von aussen oder innen, doch alle Welt forderte einen Roman, auch ich forderte diesen Roman von mir, doch da war kein Roman. In mir.

“Was wird das denn für ein Buch?” liess Vater nicht locker. “Ein Familienroman?”

Ich blickte ihn an. Wir standen im Flur der Wohnung, in der ich aufgewachsen war, es war Mittag und ich bereit zum Aufbruch. Der Hund an meiner Seite junkerte schon nervös, weil er endlich losmachen wollte, und in mir regte sich Dankbarkeit.

“Ja.. eine Familengeschichte”, sagte ich froh.

*

Da fällt mir beim Durchblättern eines alten Fotoalbums meiner Eltern Post in die Hände, die ich selbst verfasst habe, Post an meine ältere Schwester. Der Brief stammt aus dem Sommer 1971, als an der Mosel vor meinen Augen ein Mensch ertrunken war. Ein Taucher.

Daniel Gerards Butterfly war 1971 der Sommerhit. Sommmerhits sind lästig, wie Stubenfliegen. Bleiben überall haften mit ihren widerlichen kleinen Pfötchen, und wenn man sie verjagt, sind sie keine halbe Minute später zurück und kleben nur um so fester am Kofferradio, im Gehirn, an der schmierigen Butterdose.

Im Sommer zuvor war In the Summertime von Mungo Jerry der Sommerhit an der Butterdose gewesen. In the Summertime hatte ich sogar als Single gekauft, eine brettharte Pressung, in Holland, wo wir in Urlaub waren. Meist fuhren wir in den großen Sommerferien an die holländische Küste oder zum Gardasee, doch alle paar Jahre war Mutter dran mit einem Urlaubswunsch, und sie wollte lieber in die Berge.

Nun liegt Zell an der Mosel nicht wirklich in den Bergen, aber immerhin gibt es dort Weinberge, wohin man auch blickt. Zell a. d. Mosel war eine Art Friedensangebot meines Vaters, für den es nichts schöneres gab als den Wellen der See zu lauschen, wenn er spätabends im Zelt lag und an Bournemouth zurückdachte, dem englischen Seebad, wo er die aufregendste Zeit seines Lebens verbrachte, zwischen 1945 und 1947 in englischer Kriegsgefangenschaft. Bei den Tommies, wie er sie stets respektvoll nannte, wenn er von ihnen erzählte. Bei den Tommies mit dem fussig roten Haar.

Die deutschen Kriegsgefangenen arbeiteten in einer Kolonne. Zehn Burschen vielleicht, alle um die 17, im letzten Moment noch in den Krieg geschickt und glücklicherweise in Gefangenschaft geraten. Ihre Aufgabe bestand darin, Strandbefestigungen abzubauen. Ein englischer Soldat war ihnen zur Seite gestellt, Johnny, Anfang zwanzig, immer auf der Suche nach einem guten Geschäft.

Eines Tages schlugen ihm die Deutschen vor, aus den vielen am Strand angespülten Jutesäcken Sommerschuhe anzufertigen und sie den britischen Urlaubern zu verkaufen. Britische Urlauber 1944? fragte ich. Ja, antwortete Vater. Die gab es.

Um Schuhe herzustellen, musste man die Säcke zunächst aufschneiden, dann im Meer den Sand rauswaschen und in der Sonne trocknen lassen. Die Sackleinen aufriffeln und neu flechten bis daraus eine Schuhform entstand inclusive der Leisten. Englische Rentner saßen an der Promenade und guckten den Prisoner of War (POW) bei der Arbeit zu.

Johnny wurde prozentual am Gewinn beteiligt. Die provisorischen Sommerschuhe verkauften sich blendend. Sie hielten zwar nicht länger als eine Saison, aber dann waren die POW’s sowieso über alle Berge. Nun meinte Johnny, er könne schlecht mit dem geschulterten Karabiner durch den Sand laufen und Schuhe verhökern, das sähe verdächtig aus, also machten die POW’S den Vorschlag, das Gewehr solange im Bauwagen zu lassen, der den Deutschen als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand.

Währenddessen zog Johnny mit einer ausladend großen Sporttasche voller Sommersandalen über den Strand und verkaufte sie an Einheimische. Auch am Bauwagen hing in englischer Sprache eine Tafel mit dem Tagesangebot aus:

Clarks!

*

Aber ich wollte ja vom Tod des Tauchers erzählen und von dem Brief, den ich an meine Schwester geschrieben hatte. Der Campingplatz in Zell lag direkt an der Mosel. Wie immer dauerte der Aufbau des Hauszelts seine Zeit, weil Vater jede Zeltstange durchmarkiert hatte und nur er das System durchschaute, welche Stange in welcher Farbe nun zu welch anderen Stange in welcher Farbe gehörte.

Für mich war der Zeltaufbau zu Beginn jedes Campingurlaubs nichs als Anhalter- und Steckerei: Halt mal die Stange fest, nein, die andere Stange, steck die mal da rein. Nein, nicht die. Die andere. Da rein.

NICHT DA!

Nur eine Viertelstunde entfernt ist ein Strandbad, schrieb ich an meine große Schwester. Bisher haben wir es aber nur auf Bildern gesehen. Darauf sah es ganz toll aus. Morgen werden wir, wenn wieder schönes Wetter ist, dahin fahren.

Natürlich konnte man auch in der Mosel baden, aber ich war skeptisch, was das Baden in Flüssen betraf. Daheim wäre doch auch kein Mensch auf die Idee gekommen, freiwillig in die stinkige Wupper zu steigen. Immerhin roch die Mosel besser als unsere Wupper. Sie sah auch besser aus. Flussiger.

Ich maß die Entfernung zwischen unserem Stellplatz und dem Flußufer ab. Exakt acht Meter.

Neben uns stehen jede Menge Belgier und Dänen, und alle sprechen Deutsch. Aber wir? Was können wir Deutsche? Wir können keine Sprache. Nur unsere eigene.

Endlich hatte Vater die Schlafkabinen eingehangen und Mutter die letzten Campingutensilien ins Zelt eingeräumt. Es war ein stickig heisser Nachmittag, Kinder planschten im Wasser. Ich hatte diesen Mann mit Taucherbrille und Schnorchel schon beobachtet,  wie er langsam die Mosel abtauchte. Der Fluß war an dieser Stelle nicht tief, hüfthoch vielleicht, man konnte überall stehen. Plötzlich war der Schnorchel weg. Ich sah ihn nicht mehr. Es war ja auffällig gewesen, dieses ruhige Gleiten des Schnorchels, der aus dem Wasser gelugt hatte wie das Periskop eines U-Boots.

Immer mehr Camper kamen zum Ufer gelaufen, es standen plötzlich überall Leute und riefen wild durcheinander. Ein richtiger Tumult. Ein paar tatkräftige Männer stiegen im Wasser. Irgendwo lief Radio. Ich hätte es besser gefunden, jemand hätte es leiser gedreht oder das Radio ganz ausgemacht. Als der Platzwart auftauchte, schrie er die hilflos herumstehenden Leute an: “Hat einer was gesehen??!” Als keiner antwortete, drehte er durch. “Warum sagt keiner was, um Himmels Willen??! SAGT DOCH WAS!” Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen.

Als die Polizei endlich mit einem Rettungsschwimmer kam, er hatte eine Gasflasche auf dem Rücken, war der Taucher schon längst tot. Schnell hatte der Rettungsschwimmer den Mann gefunden. Wahrscheinlich hat er einen Schlag bekommen, meinte Papa. Denn das Wasser ist ja nicht tief, man kann überall stehen. Er hat sich bestimmt nicht abgekühlt.

Genau vor unserem Zelt, auf der Wiese, wurden Versuche unternommen, den Mann wieder zum (Atem) atmen zu bringen. Das dauerte bestimmt eine Stunde.. genau vor unserem Zelt! Allerdings durften wir Kinder das nicht sehen. Auch Mutti und Papa waren sich am gruseln.

Es war brütend heiss im Zelt, und mein kleiner Bruder, der nie still sitzen konnte, fing an Ärger zu machen. Er war wie ein junger Hund. Das war nicht schlecht, denn so war ich aus der Schusslinie und konnte einen heimlichen Blick nach draussen werfen. Einmal fuhr eine kleine Windbö ins Zelt und bauschte den Vorhang auf, den meine Mutter extra heruntergelassen hatte, damit wir nicht sehen konnten, wie der Tod sich was zum Fressen holte, doch dann sah ich es für einen kurzen Moment: wie dieser Masseur in weissen Hosen den Brustkorb des Tauchers bearbeitete und nicht aufhörte. So einfach geht das? dachte ich. So einfach geht Wiederbelebung? Aber es ging nicht so einfach.

Dann dauerte es nochmal eine Stunde, bis der Leichenwagen kam und den Toten abholte. Er war ganz blau angelaufen und hatte einen aufgeblähten fetten Bauch. Jetzt ist er ein Wassergespenst, sagte Mutter. Mehr will ich darüber nicht schreiben. Hier auf dem Campingplatz gibt es zum Glück auch einen Kiosk. Na, Kiosk kann man es nicht nennen, nämlich es ist ein paar Mal so groß wie die Bude von Frau Drexelius. Und wie geht es euch? Gut?

Viele Grüße.