Archiv der Kategorie: Ausgabe 01/2010

Inhalt 01/2010

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2010 erschien am 15. April 2010.


In dieser Ausgabe:
Genderstories – ein Perspektivdoppel, Monique Truongs Generationenroman, Systemfragen der Kultur, das Ende von Pornobangbang und Trinkerei, Feliner Behaviorismus, netzliterarische Rezeptionsästhetik 2.x, eine Dame mit Hut, die Karavelle aus Svalbard, keine Panik auf der Alcanzar, die Mechanik der Kaffeekanne, beim Säubern des Filters, Schnee und das plötzliche Glück, Hölderlins Sonette in Sky-pe, Regenschirme für Nachmittage, Max Frischs restgeisterfüllte Baulücke, Ententeich-Écrituren uvm.

INHALT:

MICRO | -NOTE | -QUOTE : Wie sieht es aus , das “digitale Scheiben” , Herr Chervel ?

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

czz-micro-note-quote-sourcne-aiga-airport-pictos-copyright-free-||| Thierry Chervel , Mitgründer und Chefredakteur des Meta- Feuilleton- Online- Magazins “Perlentaucher” zur Unterscheidung von journalistischen Inhalten im Netz im Gegensatz zu Formen ( indvduellen bzw. kollektiven ) “Digitalen Scheibens” :

Die Zukunft ist ja längst angebrochen. Das Netz hat Formen von Text hervorgebracht, die ohne es nicht existieren könnten, zum Beispiel das Blog und das Wiki, also eine extrem individualistische und eine extrem kollektive Art des Schreibens. Diese Formen können Funktionen des Journalismus wie die der Kritik oder der Information übernehmen, ohne Journalismus zu sein. Wer nach der Zukunft des Journalismus fragt, ist also gezwungen über diese Formen des digitalen Schreibens nachzudenken, die ihn untergraben, vielleicht sogar ersetzen könnten. ( … )

Wikipedia-Artikel sind Texte, die atmen, wachsen und innerlich grollen. Sie haben sicherlich nicht immer in der Realität, aber der Möglichkeit und dem Anspruch nach, den gleichen Willen zu Wahrhaftigkeit und Aktualität wie Journalismus. Sie greifen journalistische Information auf. Aber sie sind kein Journalismus. So wie sie, schon wegen ihres Echtzeit- und stets offenen Charakters auch keine Artikel einer Enzyklopädie sind. Und doch haben sie sich an die Stelle der Enzyklopädien gesetzt.

Auch das Blog stellt journalistisches Selbstverständnis zutiefst in Frage – hierüber ist oft diskutiert worden. Wie radikal anders das Blog ist, zeigt der Vergleich mit einem ebenfalls extrem subjektiven Genre des Journalismus, der Kritik: Kritiker waren daran gewöhnt, das letzte Wort zu sprechen. Danach diskutierte allenfalls noch das Publikum im privaten Rahmen. Anders als bei jedem anderen Genre hatte das Objekt der Kritik stillzuhalten. Ein Blog wie Nachtkritik.de zeigt, dass sich diese richter- oder priesterähnliche Position in der Verwaltung der Kunstwahrheit nicht halten lässt: Hier können die Kritisierten zurückschlagen. So krude, unfertig, halb bedacht Blogbeiträge oft sein mögen – durch die Kommentarmöglichkeit und den Hyperlink ist ein Blog doch immer ein Dialog, mit den Lesern, mit anderen Blogs oder Medien, und mit den Kritisierten.

Für die Debatte gilt das gleiche. Am jüngsten Streit über den Islam könnten Medienwissenschaftler wunderbar die unterschiedlichen Argumentationsstrategien der unterschiedlichen Medien studieren. Verkürzt könnte man es so ausdrücken: In den Zeitungen redete man über die Gegner, im Netz redet man mit ihnen. Deutlich wurde es in den Artikeln, in denen sich Thomas Steinfeld (hier) oder Claudius Seidl nach der ersten Runde der Debatte gegen Kritik verteidigen, häufig ohne die Adressen der sie kritisierenden Artikel (etwa hier im Perlentaucher) anzugeben. Im Netz verlinkt man zu den Artikeln, auf die man antwortet, im Journalismus teilt man die Information über die Gegner in Portiönchen aus. Und auch wenn es an Journalismushochschulen als ungehörig gelehrt wird, verzichten Journalisten häufig auf die Nennung von Quellen. Darauf basierte ja ein Teil ihrer Macht, solange die Öffentlichkeit die Filter der Medien brauchte: Was sie nicht nannten, existierte eigentlich nicht. Das SZ-Feuilleton zum Beispiel ließ in der Islamdebatte keinen einzigen Beitrag zu, der Steinfeld widersprach. Keiner der von Steinfeld Attackierten durfte antworten. Es galt nur Steinfelds Version ihrer Ideen. Das ist das Pfäffische am klassischen Journalismus, der selbst entscheiden will, was die Schäfchen wissen dürfen. Die Leser der SZ kennen dadurch allerdings nur einen Ausschnitt aus der Debatte. Im Blog kann der Blogger natürlich kritische Kommentare entfernen, aber auf die Dauer macht das sein Blog steril. Es geht nicht ohne Diskussion.

Wenn die Zeitungen sich nun einfach weiter für Zahlschranken entscheiden (die ja bei er FAZ oder der SZ nie abgeschafft wurden), schneiden sie sich auch von Möglichkeiten ab, die Text bietet, und von Erwartungen, die legitimer Weise an Text gerichtet werden. Sie konservieren, für ein Weilchen, die alte Welt in der neuen. Der Zeitungsartikel ist hermetisch, der Blogbeitrag porös, die Kritik ist rund (oder spitz), der Blogbeitrag fragmentarisch. ( … )

Verlagen und Autoren steht die schwierigste, aber auch aufregendste Zeit seit Erfindung des Buchdrucks bevor. Ist ein Buch, das nicht in Gestalt eines Buchs erscheint, überhaupt ein Buch? Jürgen Neffe träumt von “undruckbaren Büchern”, die nur in digitaler Form existieren können und neue Formen der Erzählung und Darstellung ausprobieren. Ist die Entscheidung eines heutigen Autors, einen Roman im klassischen Sinne zu schreiben, bereits so etwas wie die Entscheidung eines Oulipo-Autors, ein Gedicht ohne den Buchstaben “e” zu schreiben, eine willkürliche, selbstauferlegte Regel und geistige Askese? Wird das Genre des Romans außerhalb des Gegenstands zwischen Buchdeckeln überleben?

Das Buch verschwindet von seinen Rändern her, oder genauer: Es löst sich auf in den neuen Aggregatzustand der Zeichen wie Eisschollen im Klimawandel. Bestimmte Formen sind obsolet geworden: Die Wikipedia ersetzt den Brockhaus. Wozu noch Loseblattsammlungen? Reiseführer lassen sich in digitalisierter Form viel besser aktualisieren – und mit Leserkommentaren versehen. Naturwissenschaftliche Erkenntnis wird nicht mehr in Büchern verbreitet, sondern in Zeitschriftenartikeln – und diese Artikel sind in Wirklichkeit Dateien in Onlinedatenbanken, die man durch supermassive Bezahlschranken abschottet, sofern sie nicht open access sind. In den Geisteswissenschaften könnte eine ähnliche Entwicklung bevorstehen – der “Heidelberger Appell” war die Immunreaktion der traditionellen Akteure gegen das Kommende.

Nur das ans breite Publikum gerichtete Sachbuch und die Literatur stehen scheinbar unangefochten da. Jahr für Jahr werden neue Romane veröffentlicht, unsterbliche Meisterwerke darunter wie Roberto Bolanos2666” oder David Foster Wallace’ “Unendlicher Spaß“. Nur wenige Schriftsteller scheinen sich für die neuen Formen von Text und Schreiben zu interessieren, die im Netz entstanden sind. Kaum einer führt ein Blog, wo er skizzieren und experimentieren und nebenbei auf neue Art mit seinem Publikum diskutieren könnte. Manche Autoren lassen sich mit ihrer Schreibmaschine filmen.

Aber auch der Roman ist nichts Ewiges. Er ist entstanden durch den Buchdruck und die Existenz eines breiteren Publikums, das lesen konnte. Damals galt er als das ganze Neue und Verdächtige. Seine Sprache war ungebunden – also lose. Anders als Versepen deklamierte man ihn nicht in Gesellschaft, sondern las ihn in seiner Kammer. Der Rahmen fehlte. Der Roman, das waren Bücher, die man “mit einer Hand” las. Pastoren und Professoren rieten besonders den Mädchen und Frauen ab. Das Autoerotische am Genre war zutiefst verdächtig, die entfesselte Imagination in einer Sprache, die sich durch ihren Prosacharakter selbst zum Verschwinden brachte. Wo ist der Halt, die Kontrolle? Der Roman zermanschte das Gehirn!

Hm, vielleicht sollte man das Genre mit den neuen Mitteln neu ausprobieren?

|||

Der Ruf nach der Entwicklung von neuen Formen “digitalen Schreibens” , wie es aus Chervels “Ententeich” erklingt , ist fraglos äusserst berechtigt . Nicht ganz legitim will uns das rhetorische Zusammenrühren ( und heimlich wieder Auseinandernehmen ) der Kategorien “Journalismus” , “avancierte Romankunst” , von “unpaid” ( Blogs , Wikis ) zu “paid content” ( Zukunftshoffnung der Zeitungen ) erscheinen . Für Jemanden , der nicht nur die Kurzreferaate sämtlicher Rezensionen der deutschen Qualitätspresse an den Online- Buchhändler libri.dev verkauft , sondern auch die gesamte “Feuilletonrundschau” an Spiegel Online verscherbelt , wird hier aus dem Glashaus ganz schön heftig mit Steinen geworfen . Belastbare Modelle des “digitalen Schreibens” finden sich “Im Ententeich” jedenfalls nicht .

|||

Update : Zum 10jährigen Bestehen des “Perlentauchers” befragt , definiert Chevrel  dessen zentrale Tätigkeitwie folgt :

Wie würden Sie den Perlentaucher beschreiben? Was machen Sie konkret?

Der moderne Begriff ist “händisch aggregieren”. Wir machen Presseschau. Wir verlinken und verweisen auf interessante Inhalte im Netz. Zum anderen sind wir publizistisch zunehmend zu einer eigenständigen Stimme geworden.

MEEDIA- Interview mit Chefredakteur Chervel : “Currywurst-Bude” Perlentaucher ( Meedia , 15. 3. 1010 )

|||

Melander

Beim Spaziergang durch Schaans hanglagiges Villenviertel: Max Frischs Haus existiert nurmehr als restgeisterfüllte Baulücke und im Gartenteich des saarländischen Öko-Putzmittelkönigs Hans Raab tummeln sich fette dunkle flossige Gestalten, die auf eine ungeheure Geschichte weisen, die jüngst zum Erliegen gekommene Fisch-Frankensteiniade in Oberriet im St. Galler Rheintal: dort nämlich wurde unter Raabs Regie der Melander erfunden, der „perfekte Fisch“, der „Fisch der Zukunft“, unzweifelhaft ein Fisch großer Attribute und Hightechtier, Resultat aus der Kreuzung (hierzu variieren die Meldungen: zweier/dreier afrikanischer/indischer, jedenfalls:) diverser Welsarten, ein nährstoffideales Geschöpf, das weder Bächlein, Fluß, Teich, See noch Ozean je kannte, stattdessen in industriellen, biologisch gereinigten Thermalwasserbecken heranwuchs, mastbeschleuniger-, medikamente- und chemiezusatzfrei mit Soja und Mais gefüttert bis zur Schlachtreife, um darauf, seiner einzigen Bestimmung gemäß, in „Melander Filet“, „Melander geräuchert“, „Melander Wienerli“, „Melander Weisse“, „Melander Brätling weiss“ und „Melander Schnitt-Paté, mild und pikant“ verarbeitet zu werden. Die Produktion sollte 2009 auf fünf Tonnen täglich hochgefahren werden, somit pro Woche die bisherige Fisch-Jahresproduktion der Ostschweiz übertreffen und insgesamt die schweizerische, hauptsächlich aus Forellen bestehende, exotisierendst verdoppeln. Wurde, kannte, wuchs und sollte: die Melander-Fischfabrik ist seit diesem Februar amtlich geschlossen, die Produktion eingestellt, „zwei Veterinäre des Kantons bestätigten (…) nach einer über einstündigen Kontrolle (…), dass sich in der Fischfarm keinerlei lebendige oder geschlachtete Fische mehr befinden“. Zur Schließung kam es nach einigem Rechtsstreit über das Tötungsverfahren, welcher ein multiples Presseecho mit typisch schweizerisch-deutschem Nachhallali und einen Herzinfarkt beim Melander-Schöpfer auslöste. Wo aber ist seither der Melander (ein kürzestes Kapitel der Evolution?) abgeblieben? Konnten ein paar Exemplare Richtung Rhein entfleuchen, ganz ähnlich Dr. Frankensteins galvanischem Sohn? Antennen sie dort herum, axolotln gar und/oder schaffen sich in neue Sagen ein? (Die Zeit wird’s weisen, die Zeit allein.)
Stichworte:

als der knoblauch anfing zu brutzeln u.a.

1 als der knoblauch anfing zu brutzeln …

als der knoblauch anfing zu brutzeln
vermischte sich das geräusch
mit dem prasseln eines regenschauers

als ich anfing zu schreiben
griff ich nach dem ersten satz zum telefon
als ich heute im lauf des tages
aus dem fenster schaute, gingen die
die ich sah, mit aufgespanntem regenschirm
später dann am nachmittag
benutzten sie ihn als spazierstock

aber dass es regnete, hörte ich erst
als der knoblauch anfing zu brutzeln

2 die tropfen …

die tropfen
die dir
im kopf
zusammen
sein sind
wie sintemale
rinnsesaale

nibel nebel
nichel nemec
nie nahm
namens statt

es an

3 sie wiedet …

sie wiedet
das angen
den wortzins

die lila
die blüte
die apri-
die kose

dann der frost
der letzte
der kose

die sesam
anzuschau’n
ápriti-
unszinswort’

(den unslieb
geschassten)

Do, 4.3.10 (Do, 4.3.10, 23:50): singend gesunken

Das Thema von gestern variiert, ausgebaut im Krebsgang zum Sonett. Dazu Film aus altem Super-8-Material, das ich 1988 aufnahm. Und nochmal „Wie Wolken um die Zeiten legt“, das Versfragment aus Hölderlins trunken entworteter Zeit im Tübinger Turm. Natürlich auch eine Reminiszenz an Klavki. Vertont mit einem Ausschnitt aus Gerald Eckerts „Wie Wolken um die Zeiten legt“.

Die Stimmung der Saiten der Lyra heute: Lilly. Wie immer ein Vermissen. Und ein Himmelchen in Sky-pe.

— snip! —

singend gesunken

„wie wolken um die zeiten legt“ (friedrich hölderlin)

wie wasser sich ums wort gelegt, in eis
umschlossen über lang vergang’ne zeiten
als sehnenderes kyrie eleis,
bevor es singend sank ins sich verschweigen.

die teiche schließen sich noch fest um nachen.
des hades fährmann braucht ’nen packeisbrecher.
ich rufe ihn mit meines ruders sprachen,
und freud weist ihm den weg in den versprecher.

wir streiche(l)n ihm die wortverspielten zeilen
aus seinem fahrplan des zu früh versinkens
und handeln aus verspätung, ein verweilen.

die wolken legten zeit um uns’re gläser,
in denen wir des totenschiffers winken
missachteten als trunk’ne wortverweser.

Seraphima, die Schwerhörige

Du weißt: wenn es schneit
schauen sie alle dir zu –
die Toten und Kommenden,
wie du nicht nähst,
wie du fröstelnd nichts tust.
Durch den Schnee hindurch
sieht man dich, Phima.

Immer am Fenster,
auf einem Bauernstuhl,
wie von Spinnen geschnitzt,
thronst du, Atem der Spitzengardine,
während die Erdscheibe
im Weltteich dieselben
traurigen Fische umkreist,
während die Anderen lieben
und öffnen die Münder
voller schmelzender Worte
wie Marktbonbons.

Wie kann es dich rühren?
Es schneit und du weißt:
sie schauen dich an –
die Toten und Kommenden,
jede Flocke – ein Blick
im Boden versinkend.
„Ob es darunter auch schneit?“
sagst du und lachst
fast erschrocken
vor plötzlichem Glück.

Bodum

Rätsel, ist das nicht eine Begebenheit, wären es drei
oder fünf, die man behielt, weil sie einander folgten.
Auch der Satz, das um uns sei magisch, ist es nicht
weniger als die Geschichte, die ihn beweisen soll, oder
der Küchentisch, an dem ich meinen Zug verpasse,
um davon zu hören, und es dauert kaum länger als
ein Entenplätschern, ein Quaken, sich irgendetwas
vorzustellen. Standhafter bleiben die übrigen Aufgaben,

die Mechanik der Kaffeekanne, beim Säubern des Filters
die Ratlosigkeit vor Teilen, bis einem das Ganze wieder
bekannt vorkommt. Zur Geschichte: weder die Nummer,
von Kindern oder Böen gekritzelt auf die Staubhaut
des Wagens, in dem jemand dem Unfall entkam, noch
dass ich beten lernte, bevor es mich rettete vor einem
grauen VW Passat, ordnet, was uns übern Kopf hinweg
passiert, an zur Formation, etwa der eines Pfeils Enten

in eine bestimmte Himmelsrichtung. Eine übrigens holte
mich mal aus ganz kurzem Flug, knallte auf das Wasserloch
bei der alten Zünderfabrik, wo ich damals wohnte, nachts,
so dass ich nicht mehr weiß, ob ich denn meine Arme hatte
ausbreiten müssen. Die Dinge träumen, lesbar wie das flüchtige
Zusammentreffen der Schwerkraft mit den Teilchen am Grund
dieser Kanne. Rätsel, am liebsten ist es mir unerschütterlich
als Kaffeenebensatz, wenn es heißt: „Dreh den Boden um.“

für Dieter M. Gräf

I loved you when our love was blessed I love you now there’s nothing left but closing time

— it’s hell to pay when the fiddler stops —

Liebe Freunde des Postamtes von und zu Kangerlussuaq,

einmal mehr habe ich es nicht verstanden, dann aufzuhören, wenn es am Schönsten ist. Ich entschuldige mich dafür, dass Ihr nun schon eine Weile knöcheltief in Essig watet, und bedanke mich zugleich für diese rührende Treue. Der teure Wein ist ausgesoffen, zugeschüttet mit billigem Bier, und Ihr habt nicht gemerkt, dass ich vor einer Weile aufgehört habe mitzubechern … Denn aufräumen muss ich schliesslich allein. Seit Wochen habe ich hinter den Kulissen mit der Abrissbirne gewütet, und es hat mir noch einmal in aller Deutlichkeit bestätigt: gute dreieinhalb Jahre sind mehr als genug. Irgendwie, dem unvergleichlichen Elend zum Trotz, mag ich den Kater und den Mief nach Schweiss und Alk und Pisse und Saurem und kaltem Rauch. Jeder verdammte Knochen schmerzt, während man die Stühle in die Ecke stapelt und auf Knien hinter dem Fegbesen herrutscht, was sagt uns das?, genau: so fühlt sich das Sterben auf der Zunge an (Kater auf Französisch: gueule de bois), jetzt leben wir aber noch ein bisschen weiter mit diesem Schädelbrummen. Die nächste Party kommt bestimmt!

Selbstverständlich bräuchte ich keine Gründe, um mich zu entnetzen. Ich habe jedoch derer viele und triftige, vorwiegend literarische, aber auch persönliche, theoretische, technologische, monetäre. Ausbreiten werde ich sie hier nicht. Eins der Dinge, gegen die ich netzliterarisch eine starke Abneigung hege, ist gerade der Metaismus. Ich gebe zu, dass ich gern in anderer Schriftsteller Nähkästchen hineinspannere, bin jedoch nicht bereit, meine eignen Fingerhüte dem öffentlichen Büchsenschiessen zur Verfügung zu stellen. Vielleicht ist es dumm, ausgerechnet jetzt auszusteigen, da Netzliteratur gerade zunehmend seriös rezipiert, literaturtheoretisch fundamentiert und technologisch immer wildmöglicher wird. Dann wiederum erscheint mir dieser Zeitpunkt erst recht logisch. Einmal muss man eine Entscheidung treffen. Alls oder nix, ich mache keine halben Sachen. Ich, die ich die Erst- bis Drittfassungen stets mit Tinte auf Papier schreibe, bin retro bis ins Mark. Dass die Götter meine gedruckte Zukunft mittelfristig gesichert haben, dass sogar der eine oder andere honorierte Papier-Auftrag hereintropft, zeigt mir umso mehr, dass die Richtung stimmt. Auf die Winke der Götter muss man achten und ihnen Folge leisten.

Einen Roman im Lektoratsofen ausbacken, einen nächsten im Teigkessel anrühren, die hier entwickelte Kleine Form in andere Kalamitäten überführen, stilles Studium, lange Spaziergänge. Noch längere Briefe. Zwei Liebhaber oder auch vier. Ausflüge zu Orten, an denen höchstens Einer vor mir war. Hin und wieder ein heimliches Besäufnis. Das ist mehr, als ich mir je gewünscht habe. Ich freue mich auf das kommende Jahr. Der Blogentzug der letzten Wochen verlief komplikationslos, jetzt bin ich nicht einmal mehr wehmütig.

Ich danke zuallererst meinen Lesern, den bekannten und unbekannten, den bunt Kommentierenden wie den Stillschweigenden und denen, die es vorzogen, mir ihre Kommentare persönlich zu schicken. Ich danke für Eure Gedanken und Ideen, für Eure guten Wünsche, für das aufrichtige Lob (es fällt mir kein Zacken aus der Krone, wenn ich zugebe, dass mir das gutgetan hat) und mindestens ebenso für den fundierten Tadel (der mich nachhaltig weiterbrachte).
Ich danke den Litblogs-Herausgebern Christiane Zintzen, Hartmut Abendschein und vormals Markus A. Hediger für ihre riesige und grossartige Arbeit.
Und ich danke denjenigen schreibenden Netzkollegen, mit denen ich in intensivem oder sporadischem Austausch stehe oder stand. Ich wage es nicht, sie aufzuzählen, aus lauter Angst, es könnte mir der eine oder andere mir teure Name unters Eis gehen. Das war (und ist hoffentlich weiterhin) literarisch überaus fruchtbar, aber wichtiger noch: menschlich. Menschlich. Menschlich. Schön!

Zigilliardenmal DANKESCHÖN! Ich verbeuge mich vor Euch. Wünsche allen das Blaue vom Himmel herunter und die Sterne (diese alten Schweine, denen wir Schnuppe sind), das Beste für 2010 und überhaupt. Bevor jemand losweint, ich kann das nicht ertragen!: tschüss, and thanks for all the beef!,

allzeit Eure treue Dienierin: La Tortuga


Leonard Cohen: Closing Time

Addendum, die Logistik:

1) Bis die geplante archaisch-simple Netzseite steht, bleibt das Postamt vorerst offen. In aller Stille werde ich noch verkleckerte Tischtücher wegräumen, volle Aschenbecher leeren und soweit nötig Bio und Biblio aufdatieren.

2) Mein (sehr) unregelmässiger Niusledder „Karavelle aus Svalbard“ kann nun selbstverständlich auch von Postamt-Freunden abonniert werden. Die Karavelle richtete sich bisher an Verwandte und Freunde und war deshalb persönlich gefärbt. Dies möchte ich gern fürderhin so halten und bitte daher jene Leser, die ich nicht in natura oder durch langjährigen Schriftkontakt kenne, Klarnamen und Adresse anzugeben.

Postfach: conrads punkt harlequin at gmail punkt com

F4/O6/E24

Oktave. 198//Vielleicht nicht das Gesammelte, nicht das Dichte, das die Form bestimmt und ein Wort bildet. Die Bebilderung des Geistes. Auflösung. Die Formel eines Gedichtes ohne Fassung, ohne Titel. Das Aquarium eines Fisches. Verschwiegen, er und es. Das Lot am Horizont befestigt. Den Himmel zu sich ziehend. Auch er Wasser. Und während der Schnee fällt, steigt der Wal auf.

Die Bergung. Die Dame mit Hut las. Das Einhorn hatte ich nicht gesehen. Es sei hinter ihr gestanden. Ab und zu mit dem einen Vorderhuf im Moos geschart, das sich mit den Jahren über den Fussboden ausgebreitet hatte, durch die Ritzen der roten Fliessen, als wäre ein Teppich vor die Füsse der Frau und unter den Stuhl ausgerollt worden. Die Zeit war nicht still gestanden. Der Wind wehte vom Meer her und bewegte die Wellen flussaufwärtes. Es könne nicht sein, dass sie den ganzen Tag so dagesessen und gelesen hätte, denn es lag Schnee und die Sonne hatte nicht die Kraft, die Steine, auf denen die Frau sass, einmal auf diesem, einmal auf dem andern, aufgewärmt hätte. Das Schmelzwasser aus der Dachrinne. Das Gurgeln des Baches, die Orchestrierung in der Szene, ein Singsang, gaben dem Gemälde etwas Gedankenloses, etwas Unwirkliches. Doch es könnte auch die Zusammensetzung der Figuren gewesen sein, die ohne eine ersichtliche Bestimmung, ohne eine Verbundenheit, die Komposition bestimmten; den Blick von der Veranda in den Park, vor den Stufen die Statue der Dame mit Hut. Lieber Freund, schrieb sie, hätte sie geschrieben, oder würde sie schreiben; Jetzt, der erste Tag mit Sonne und einer Ahnung Frühling, seit ich hier angekommen bin. Wäre der heutige Tag nicht, ich hätte angenommen, dass hier nur Nebel existieren, die den Park und die Welt hinter ihm, einhüllen, als würden sie ein Geheimnis hüten, als müssten sie es im Verborgenen halten. Nebelland. Ohne Konturen, ohne Schatten, ohne Geräusche. Das Wissen um das nahe Meer brachte keine Welle an Land und das Bewusstsein darüber, dass es so ist. Man wäre aufgestanden und in ein Nichts gelaufen. Nichts, das einem Gewissheit gab, etwas zu erkennen, ein Zeichen, das Hiersein bezeugte, keinen Namen, kein Wort, kein Beschreiben. Der Leere Inhalt. Ich hatte den Eindruck, als hätten die Tage zuvor nie existiert, als hätte es nie einen Schmerz gegeben, als gäbe es nur diesen Tag mit Sonne, der die Erinnerung an Nebel aufgelöst hatte und die Welt im Jetzt entbirgt. Es ist, als hätte die Zeit nur auf diesen einen Augenblick hin gewartet, in dem ich in der Sonne sitze und an Sie schreibe. Der Wind bewegt sanft die Blätter des Bambusbusches und das Wasser aus der Dachrinne teilt in seinem Fallen die Stille in diese und jene Wirklichkeit, ohne Schattierung im Bild der Dame mit Hut.