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Peter Schlemihls Schatten auf dem Weg zum Rheinfall

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Emil Laub aus Altbach in Baden-Württemberg beschäftigt sich als Fotograf vornehmlich mit dem Fänomen des Schattens und, beeinflußt von einer Sichtung Ahasvers, des “Ewigen Juden”, in seiner Heimat im Jahr 1766 mit dem Thema Migration, dabei insbesondere mit dem Zweig der Zwangswanderung. Beide Hauptfelder seiner Arbeit überschneiden sich geradezu exemplarisch in obigem Bild, das Emil Laub bereits im Sommer einsandte, das wir aber erst jetzt, nach einigen Nachfragen und Verifizierungen, publizieren möchten.

Nicht direkt vor dem herrlichen Naturschauspiel der Wasserstürze des Rheinfalls, aber eindeutig auf dem Weg dorthin, wie aus dem Bild selbst hervorgeht, gelang es Emil Laub oben zu sehenden Schatten einzufangen, nachdem er sich, wie er von selbst mitteilte, mit “einer gewissen Besessenheit” über Jahre hinweg mit “detektivischem Eifer” daran gemacht hatte, Peter Schlemihls Schatten ausfindig zu machen, zu stellen, und mithilfe seiner Kameras zu bannen. Weil das ein wenig ungewöhnlich klingt, haben wir mehrfach bei Herrn Laub nachgehakt und dabei folgende Geschichte erfahren:

Seine Suche habe anfangs der nach einer Nadel im Heuhaufen geglichen. An vielen Orten der Welt habe er zunächst “ohne Sinn und Verstand” dem berühmten Schatten aufgelauert. Ein Erfolg habe eigentlich nie wirklich in Aussicht gestanden, denn zu dürftig seien die Hinweise auf den Aufenthalt des Schattens in der Literatur gewesen. Während die Fluchtroute Peter Schlemihls, nachdem er seinen Schatten verkauft hatte, aus Chamisso und nachfolgenden Autoren, welche Schlemihls wundersame  Geschichte aufgenommen und bearbeitet hätten, einigermaßen bekannt sei, wüßten wir über den Verbleib des Käufers und eben des verkauften Schattens im Grunde nichts. Er, Laub, habe sich nach einigen Hals-über-Kopf-Expeditionen schließlich überlegt, daß a) die zwanghafte Wanderung Schlemihls in mit wissenschaftlichen Methoden allerdings kaum feststellbarer Weise auch seinen abhandenen Schatten beeinflußt haben könnte, in etwa in der Art wie man sich telepathische Kommunikation vorzustellen habe, daß also der Wandertrieb Peter Schlemihls seinem Schatten zumindest “irgendwie bekannt” hätte sein müssen, wenn er nicht gar b) automatisch, aufgrund all seiner klassischen Eigenschaften als Schatten, den Impuls seines Herrn verspüren würde, denn Schattenhandel sei an und für sich moralisch nicht zu legitimieren und daher bei gesetzlicher Prüfung ein Verkauf (“zumal für ein “nie versiegendes Säckel Gold”) wohl als ungültig, weil sittenwidrig anzusehen, weshalb der Schatten mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin de iure und auch dem eigenen Empfinden nach der Schatten Peter Schlehmils geblieben sein dürfte und sich nicht etwa dem fragwürdigen Käufer angeheftet habe, der ohnehin bereits einen eigenen Schatten besaß. Falls mindestens einer dieser beiden Punkte zuträfe, so Laub, sei anzunehmen, zumindest nicht auszuschließen, daß der Schatten ebenfalls einen Wandertrieb entwickle, sei es um die Bewegungen seines Herrn aus der Ferne zu imitieren, sei es, um zu ihm zurückzukehren. Natürlich, diese Annahmen seien dürftige Grundlagen, aber wer Erfolg habe wolle, dürfe sich durch nichts entmutigen lassen, so Laub, und daher habe er mit Dartwürfen auf eine selbstgefertigte Karte, die das Gebiet von Peter Schlemihls literarisch bekannter Wandertätigkeit begrenzte, mit der aleatorischen Suche nach dem Schatten begonnen und bei seinen nicht mehr ganz so kopflosen Nachforschungen nun tatsächlich die ein oder andere Information erhalten, denn es seien weit mehr Menschen an diesem Schatten interessiert als er es sich zuvor habe vorstellen können. In Gesprächen mit Leuten, die teilweise jahrzehntelang sich mit der Geschichte beschäftigten, darunter Akademiker, Dachdecker, Steinheilerinnen, habe er in Erfahrung bringen können, daß der Schatten mehrfach gesichtet worden sei, zuletzt allerdings vor mehr als 20 Jahren, und daß er normalerweise, aus Gründen der Tarnung, ausschließlich nachts sich bewege. Er sei, so Laub, sogar mit Schattenfallenstellern umhergezogen, deren Methoden ihm letztlich zu brutal erschienen seien. Auffällig sei gewesen, daß die Schattenjäger wie auf stillschweigende Vereinbarung ihre Reviere eingrenzten. Derartige Insider-Nachrichten hätten ihn bereits in den Harz, an die Opalküste und zuletzt in die Gegend des Rheinfalls gebracht, wo er seine eigene, sanfte Fallenstellermethode angewendet habe, indem er sich als auf Parkbänken schlafender Wandersmann tarnte, dieweil im Gebüsch seine Kamera mit einem Hell-Dunkel-Bewegungssensor auf vorüberziehende Schatten, die natürlich in den meisten Fällen an Menschen, Tieren, Fahr- oder Flugzeugen hafteten, reagierte.  Als er nach einem solchen Nickerchen nahe der oben abgelichteten Unterführung erwacht sei, habe er bei Durchsicht der Kamerafalle kaum seinen Augen trauen mögen: einen menschlichen Schatten ohne den dazugehörenden Menschen habe er zuvor nie, schon gar nicht in solcher Klarheit eingefangen. Natürlich könne niemand garantieren, daß der zu sehende Schatten derjenige Peter Schlemihls sei, auch habe der Schatten, das sage er, Laub, allerdings nicht in vollem Ernst, eine gewisse Ähnlichkeit mit Nosferatu, doch wessen Schatten, wenn nicht Peter Schlemihls, sollte es sonst sein, frage er sich und jeden, den es interessiere, denn es seien außer diesem ja keinerlei weitere alleinstehende, womöglich freilaufende Schatten verbürgt. Sicher, das Bild widerspreche der These von der ausschließlichen Nachtwanderung, andererseits kenne er, Laub persönlich, keine Regel ohne Ausnahme. Und auch falls dies letztlich nicht Peter Schlemihls Schatten sei, so stehe es ihm, als Entdecker eines herren- und namenlosen Schattens, zweifelsfrei zu, diesen zu benennen und so habe er sich entschlossen, diesen Schatten den Schatten Peter Schlemihls zu nennen, der er mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit schlußendlich auch sei.

Bitterstoffe

1

Großes Hallo Richtung Lohhausen-Flughafen.

“Luise, meine zwölftbeste Freundin! Wie siehts aus? Hast du dein Röckchen dabei..?”

“Zwei, Edith, zwei. Eins mit Rüschen, eins mit Schlitz. Extra für dich, Liebes!”

“Na Prösterchen! Dann kanns ja losgehn!”

Luise und Edith thronen auf ihren Gepäckstücken und begiessen die kommenden zehn Tage Mallorca im klimatisierten Beach Club mit hochprozentigen kleinen Schweinereien, während ich schon am nächsten Halt raus muss. In Fahrtrichtung links, wie die Stimme von Band freundlich befiehlt, vermutlich weil man in Fahrtrichtung rechts voll in den Inter-City nach Dortmund kracht.

Es ist September, es ist zu kühl für September und ich bin auf dem Weg zur Auftaktveranstaltung. Sechs Monate warten darauf, mich in Geiselhaft zu nehmen, sechs Monate Maßnahme des Job-Centers, sechs Monate und nicht einen Maßnahmetag weniger. Andererseits – alles besser als Mallorca all inclusive, oder nicht.

Die Maßnahme findet im stillgelegten Trakt einer alten Volksschule statt und dient der Stabilisierung der Beschäftigungssuche, wie es im Anschreiben heisst. Hätte man das Kind beim Namen genannt, es hätte Sechs Monate raus aus der Statistik heissen müssen, und die Referenten Reinigungskräfte. Statistiksäuberer.

Putzerfischchen, mit Urlaubsanspruch.

Allein die Formulierung Stabilisierung der Beschäftigungssuche ist mir ein Rätsel. Wie zum Henker lässt sich eine Suche stabilisieren? Forcieren lässt sich eine Beschäftigungssuche, sie lässt sich aufgeben oder anpassen oder sonstwie gestalten, doch stabilisieren?! Werden da stramme Bambusstäbe und Rankstützen ausgeteilt? Oder doch lieber direkt als Dragee zur innerlichen Anwendung, für die ganz Sensiblen?

Wenn ich im Leben eins gelernt habe: Eine Formulierung in einem offiziellen Schreiben ist nie umsonst, es steckt immer etwas dahinter. In diesem Fall der unausgesprochene Vorwurf, der Verdacht: Langzeitarbeitslose sind nicht stabil. Sie finden keine Arbeit, weil sie nicht hart genug daran arbeiten, Arbeit zu finden. Sie geben zu schnell auf, sie sind haltlos und labil, sie pennen bis in die Puppen, verschlampen Unterlagen und kleben in der Bewerbungsmappe das falsche Foto falschrum auf die falsche Seite,

HERRGOTT!!

NUN STABILISIEREN SIE SICH DOCH ENDLICH, SIE.. SEELCHEN!

2

Ich hab noch Zeit und entscheide mich, im Schnellcafe am Hauptbahnhof einen Hauptbahnhofs-Espresso zu nehmen. Ist ja immer ein Risiko. Wenn man Pech hat, erwischt man einen Espresso, der nach allem, aber nicht nach Kaffee schmeckt, nicht mal lauwarm nach Hauptbahnhof, trotz all der Vollautomaten. Der hier geht. Ist zwar nicht so schwarz, dass man gleich zum Gospelsänger wird, aber geht.

Ich blicke aus dem Fenster und entdecke Pauli auf dem Bahnhofsvorplatz. Seine knorrige Visage ist unübersehbar, auch wenn er selbst blind wie ein Maulwurf  ist und sich eher tastend durch die Welt bewegt. Meist hat er einen Schmöker aus dem Fantasybereich in Arbeit, er liest ununterbrochen. Er liest im Gehen, er liest im Bus, er liest, wo immer er sich gerade aufhält, die Schwarte so nah vor den Augen, als würde sie bräunen.

Ohne was zu lesen bin ich kein Mensch, hat er mal gesagt, doch an diesem Morgen ist er ohne Buch. Kein Mensch. Was ich sehe, ist Pauli ohne alles sozusagen. Er steht unbeteiligt auf dem Bahnhofsvorplatz und beobachtet den Himmel über den Taxis. Ich zögere einen Moment, geh dann hinaus, den heissen Pappbecher in der Hand.

“Lange nicht gesehen, Pauli.”

Für die Uhrzeit umweht ihn schon eine stolze Fahne, und ohne mich groß anzusehen legt er sofort Beschwerde ein. Er habe drei Monate im offenen Vollzug abgesessen, wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe, aber niemand in der Szene, er wiederholte: NIEMAND!, hätte seine Abwesenheit bemerkt.

“Ich bin schwer enttäuscht!”

Ich muss lachen und klopf ihm auf die Schulter.

“Das wird schon wieder, Pauli. Guck mal, ich hab dich sofort erkannt – das ist doch schon mal was.”

“Ach, du.. redest doch nur mit dem Mob, damit du was zu schreiben hast. Nee, mein Freund, du zählst nicht. Du bist out of order.”

Ich kenne Pauli aus längst verschollenen Haus der Jugend-Tagen. Schon damals war er als Suffkopp verschrien. Zwischenzeitlich dem Pulver verfallen und in den Knast gewandert, ist er nun reumütig zum Jägermeister zurückgekehrt, vielmehr zur Billigvariante Gold-Förster oder Försters Gold, aus meiner Perspektive lässt sich das schlecht zu entziffern. Was Pauli schon immer auszeichnete, das filigrane Klauen von Spirituosen, ob im gut sortierten Einzelhandel oder in Discountermärkten, hat er immer noch drauf. So was verlernt man nicht, meint er bescheiden und hakt sein Talent unter der Etüde Fingerübung ab.

“Wieso hast du kein Buch dabei?” frag ich.

“Keine Ahnung, was ich noch lesen soll. Die Buchhandlungen sind voll bis unter die Decke, aber ich find nichts, was ich nicht schon irgendwo gelesen hätte. Bei dir hab ich auch mal geblättert, bei nem Kumpel am Rechner. Wie heisst das, Blog? Fand ich jetzt auch nicht so berauschend. So ein Mix aus Bukowski und.. ja, keine Ahnung was. Sorry, Babe, aber so isses nun mal.”

Sprichts, und taucht unter in der Fußgängerzone. Ich blicke ihm hinterher und frage mich, wie das eigentlich kommt, dass unter meinen Bekannten so auffallend viele Arbeitslose, Kleinkriminelle und arbeitslose Kleinkriminelle sind, aber auch ganz herkömmliche Trinker und Junkies ohne Job und Perspektive. Ha ha! Sehr witzig!

Alles halb so ha ha.

3

Es nieselt, der Wind wird heftiger. Bis zum Schulungsgebäude sind es zu Fuß zehn Minuten – immer die Fußgängerzone runter und unten am Marktplatz rechts. Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dort eine Maßnahme mitmache. Dass einem Fallmanager was eingefallen ist .

“Ich glaub, wir müssen da noch mal was machen mit Ihnen.”

(Ich glaub, Sie müssen noch mal für ein paar Monate aus der Statistik raus.)

(Ich schätze, meine Vorgesetzte wird sonst unruhig.)

(Ich hoffe, ich schaffs noch bis zur Rente.)

Maßnahmen des Job-Centers sind die reine Zeit-und Geldverschwendung, und alle wissen Bescheid, alle spielen mit. Jedem Beteiligten ist klar, dass niemand schneller einen Job ergattert, nur weil er an einer Maßnahme teilnimmt. Maßnahmen dienen allein dazu, die Maschinerie der Trägervereine am laufen zu halten, die sich rund um die kommunalen Arbeitsämter und deren Budget für Langzeitarbeitslose aufgebläht hat.

Natürlich kommt es schon mal vor, dass Teilnahmer innerhalb weniger Tage die Fronten wechseln. Eben noch als arbeitslose Sozialarbeiter einer Maßnahme zugewiesen, werden sie vom Trägerverein vom Fleck weg als Referent engagiert und stehen als Ex-Arbeitslose vor Immer noch-Arbeitslosen und wissen nicht so recht, was sie eigentlich erzählen sollen. Warum sie plötzlich auf der anderen Seite stehen und aus dem Du ein Sie werden soll.  Ist aber auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es bei der Übermittlung der Kontodaten keine Zahlendreher gibt. Das wäre asozial.

Eine Maßnahme hat aber auch gute Seiten. Man ist von Leuten umgeben, die in ähnlichen Situationen stecken wie man selbst und von denen man noch was lernen kann. Denn mal ehrlich, was ist das Leben groß? Man wird allein geboren, man stirbt allein, und zwischendurch trifft man ein paar Leute, die einem was beibringen – wenn man Glück hat.

Ausserdem ist es ja nicht so, dass allen Erwerbslosen SOFORT der HIER, ICH! ICH! ICH!-Schaum vorm Mund steht, sobald irgendwo eine Stelle frei wird. Nicht jeder Erwerbslose, (das Wort benutzt mein Vater immer), will unbedingt und unter allen Umständen einen Job finden. Nachbar Timo zum Beispiel will gar nicht mehr arbeiten, er ist vom Macher zum Lasser geworden. Als er einen Termin im Job-Center hat und vom Fallmanager gefragt wird, wie er sich das denn vorstelle mit seiner beruflichen Zukunft, antwortet Timo ohne jeglichen Anflug von Ironie:

“Ich plane, demnächst mehr beim Lotto zu gewinnen.”

Und das ist nicht mal gelogen. Timo, ein hochintelligenter Bursche mit einem IQ von 130, hat lange Jahre als Personalberater in einer renommierten Headhunter-Kanzlei gearbeitet, doch das ist beinahe ein Jahrzehnt her. In der Zwischenzeit hat er von seinen Ersparnissen gelebt, so lange, bis sie restlos aufgebraucht waren, trotz eingeschränktem Konsum von so ziemlich allem, wie er sagt. Nach zehn Jahre Arbeitslosigkeit hat er sich nun endlich arbeitslos gemeldet und bezieht Hartz IV.

Timo, ein ruhiger Vertreter, der nicht viel Wert auf Gesellschaft legt, verbringt seine Abende damit, bei abgestellter Türklingel klassischer Musik und Opern zu lauschen, am liebsten Puccini, am liebsten über Kopfhörer. Und wenn nicht gerade Mitarbeiter des Job-Centers in der Nähe sind, gibt Timo freimütig zu, dass die Sache mit der Arbeit für ihn erledigt sei. Dass ihm, unlängst 50 geworden, das Leben zu schade sei, um davon jede Woche sechzig Stunden abzuknapsen.

Oder 38,5.

“Ich hab das hinter mir. Ich hab das lang genug gemacht. Ich brauch das alles nicht mehr. Ich will die restlichen zwanzig Jahre meines Lebens geniessen und nicht bloß ein Jahr Rente beziehen und dann tot umfallen.”

Er hat sich einen Hund zugelegt, einen quirligen Collie, mit dem er auf Frisbee-Wettbewerben bis hinauf nach Belgien brilliert und das Bergische Land durchwandert, oft in tagelangen Touren. Alles besser als die Tretmühle Arbeit, sagt Timo. Alles besser als Mallorca, sag ich.

Unter einem schlackegrauen Himmel springe ich in der Fußgängerzone von Vordach zu Vordach, von Markise zu Markise, bis ich halbwegs trocken das Schulungsgebäude erreiche.

Die Auftaktveranstaltung beginnt Punkt zehn. Schnell noch eine rauchen, unter diesem speziell für Raucher gezimmerten Unterstand mit Aschenbecher, wo schon ein Haufen Leute wartet, alle mit dem gleichen Passierschein in der Hand, der sie als Teilnehmer der Maßnahme ausweist.

“Hallo.”

Kaum jemand grüsst, als ich mich dazustelle. Nur ein langer Stoffel mit Stirnglatze nickt freundlich. Rottner, stellt er sich vor. Wir unterhalten uns ein bißchen, dann gehts los.

Träger der Maßnahme zur Stabilisierung der Beschäftigungssuche ist eine als gemeinnützig anerkannte Fortbildungsakademie mit Sitz in Frankfurt, die in ganz Deutschland Ableger gebildet hat und gut im Geschäft ist. Pro Teilnehmer kassiert ein Veranstalter einige Tausend Euro, je nach Dauer und Intensität der Maßnahme. Es gibt Maßnahmen, da muss man ein halbes Jahr lang Tag für Tag seine acht Stunden abreissen, es gibt Maßnahmen, da schaut man am Montag- und am Donnerstag-Vormittag kurz auf einen Maßnahme-Kaffee rein und hat ansonsten seine Ruhe.

Ruhe ist das Stichwort, Ruhe zum Schreiben. Um ein Minimum an Ruhe zu haben, sozusagen die existentielle Portion, gibt es eine amtliche Voraussetzung: Man muss aus der Zeit fallen. Man darf nicht dazugehören. Nirgends. Wenn die Leute dich angucken, muss ihnen auf Anhieb klar sein, intuitiv und unmissverständlich: Dieser Mann kriegt keine sms-Nachricht von mir. Den rufe ich nicht an. Der ist definitiv nicht eingeladen. Nirgends. Dann hat man seine Ruhe. Das Minimum.

Die Gräfin und ich pflegen eine besondere Form von Autismus: Wir versuchen so viel wie möglich von der Welt mitzukriegen, ohne von ihr behelligt zu werden. Kein leichtes Unterfangen.

“Am besten, wir schleichen uns in eine betreute Aussenwohngruppe ein, damit wir den Kopf frei haben für die wirklich wichtigen Dinge”, so die Gräfin leuchtend:  “Dann sind wir Königin!”

Das ganze hat allerdings einen faden Beigeschmack, und ich werde ihn nicht los. Es stellt sich nämlich die Frage, warum die Gesellschaft für einen verschnarchten Autor aufkommen soll, der kein Buch auf die Reihe kriegt. Warum ihn mit Hartz IV durchziehen, bis er wann auch immer ein Bein auf die Erde bekommt. Und was, wenn dieses Bein niemals bis zur Erde reicht? Wenn es sich auf Dauer als Phantombein entpuppt? Blutleer und zu nichts nütze?

Tja, Freunde, das war die Sorte Fragen, die mir nicht in den Kram passt. Und weiter.

4

Was mir sofort gegen den Strich geht, ist dieser große Aufkleber über der Tür, der uns Teilnehmer empfängt:

ARBEITSFABRIK.

Erst denk ich, die haben sich irgendwie vertan in der Aufregung, dass da schon wieder zwei Dutzend Kunden anrücken, die Ende des Monats für ihren Lohn  sorgen, doch dann seh ich mir den Banner genauer an und entdecke Spuren von Abnutzung – der Aufkleber ist nicht neu, der hängt schon länger. Das ist durchdacht, das Wort Arbeitsfabrik, und es klingt gespenstisch. Arbeitsfabrik hätte man auch hoch oben über einem Konzentrationslager montieren können, zur Begrüßung. Warum nicht gleich Arbeit adelt.

Nach einer Weile finde ich Arbeitsfabrik nur noch dümmlich und doppeltgemoppelt. Es soll wohl darauf hinweisen, dass in diesen Räumen hart gearbeitet wird, mit klar definierten Strukturen und Hierarchien, ohne das übliche Maßnahmegesäusel und Bewerbungsgewäsch, aber mit klipper und klarer Ansage:

hier herrscht Pünktlichkeit. Sauberkeit. Ordnung.

5

Zweiter Tag der Maßnahme. Heute sind Einzelgespräche anberaumt. Anwesend sind zwölf Langzeitarbeitslose. Nur zwölf, am ersten Tag waren es noch dreiundzwanzig, die sich in die Anwesenheitsliste eintrugen. Die Hälfte der Leute hat sich schon verabschiedet. Ich frage mich, wie die das hinkriegen. Haben die alle Husten und sich krankschreiben lassen? Oder ist ihnen plötzlich aufgegangen, dass sie ja doch einen Job besitzen und nur vergessen haben, da auch hinzugehen. Kann natürlich jedem mal passieren, so ein Malheur. Logisch.

Ist klar.

Einzelgespräche bedeuteten, dass stets ein Arbeitsloser ins Büro gerufen wird und die anderen elf Leute herumsitzen und nichts zu tun haben. Zwar gibt es nebenan einen großen Technik-Raum, ausgestattet mit funktionstüchtigen Rechnern und schnellem Internetanschluss, doch zumindest an diesem Tag bleiben alle den Monitoren fern und lernen einander kennen.

Mohammed, genannt Momo, rechts von mir, ein stabiler Bursche mit Backenbart, hat sich am Morgen das Kinn ausrasiert. Nun ist es so schwer gerötet, er sieht aus wie nach einer Brandrodung.

Momo stellt sich mit Handschlag vor. Sein Vater ist ein aus Marokko eingewanderter Metzger. Er hatte diesen Beruf auch für seinen Ältesten vorgesehen, und weil Momo ein braver Muslim ist, der Vater gehorcht, begann er eine Metzgerlehre, die er aber nach ein paar Monaten schmiss.

“Ich kann keinen Hammel mehr riechen, Baba! Die machen mich ganz bräsig, deine Hammel!”

Er überwarf sich mit der Familie und siedelte nach München über, jobbte bei BMW am Band, verdiente gutes Geld, war einsam, kehrte zurück und heuerte im typischsten aller Solinger Berufe an, dem Schlieper, dem Messerschleifer.

“Ich hab auch am Stein gearbeitet”, mischt sich ein spätes Mädchen ein, um die fünfzig, krumme Haltung, doch Momo lässt sich nicht beirren. Wir erfahren, dass er eine Weile vor hatte, professioneller Bodybuilder zu werden, “für die Frauen”, wie er betont.

Tatsächlich hat er Oberarme wie Straßenkreuzungen und ein strammes Kreuz. Beste Voraussetzungen für eine Karriere als Kraftpaket. Als ihm jedoch mehr und mehr klar wurde, dass er dafür sein ganzes bisheriges Leben über den Haufen werfen und stattdessen jede Menge Stereoide fressen müsste, entschied er sich schweren Herzens dagegen.

“Wegen den Frauen.”

Ich bin überrascht, was die Leute so alles für Jobs hatten, bevor sie arbeitslos wurden. Unter den Teilnehmern, die anwesend sind, befindet sich der 57jährige ex-Chefredakteur einer Zeitung, eine Ukrainerin, die Mathematik in Kiew studiert hat sowie ein junger Fitnesstrainer mit einem auffälligen Tattoo: Eine tintenblaue Schlange rekelt sich an seinem schlanken Hals empor. Eine Szene, die ich eher auf Porzellan vermutet hätte, auf Teegeschirr.

Der Fitnesstrainer, ein gutaussehender Bursche, ist irgendwie atemlos. Es fehlt ihm an Ruhe. Er hat zu gleichen Anteilen deutsche und serbische Vorfahren und ist exakt seit einem Jahr arbeitslos, obwohl er im Besitz hochwertiger Trainerscheine ist.

“Ich hab einfach kein Glück”, nölt er, und im weiten Rund nicken die Köpfe wie an Schnüren gezogen, sie nicken und nicken.

Ursprünglich komme er aus Baden-Württemberg, erzählt der Fitnesstrainer und beschwert sich, dass man in Solingen nur Kiffer kennenlerne.

“Achtzig Prozent aller jungen Solinger kiffen.”

Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, führt er fort, “aber ich kiffe nicht, ich bin ja Fitnesstrainer.” Wir fragen uns, was eigentlich die übrigen zwanzig Prozent Solinger mit ihrem Leben anstellen, die nicht kiffen. “Saufen, fixen, tralala”, sagt jemand, ich glaub, ich bin das.

Tarik, EDV-Fachmann, ist gut ausgebildet und noch keine dreissig Jahre alt. In jedem Kurs gibt es mindestens einen arbeitslosen EDV-Fachmann. Es gibt zu viele von ihnen. Sie stehen sich gegenseitig auf dem Fuß und nehmen sich die wenigen verbliebenen 400 Euro-Jobs weg.

Tarik kann sich maßlos darüber aufregen, dass das Job-Center für die Hin-und Rückfahrt zur Auftaktveranstaltung keinen Pfennig Fahrgeld erstattet, während es ab Tag 1 der regulären Maßnahme Fahrgeld gibt. Ausserdem, so Tarik, ein kleiner Nerd, hat er bei dem Betrag, den alle Teilnehmer für einen Monat Busfahren im voraus erhalten sollen, eine andere Summe errechnet: 35, 20 Euro statt 33, 00.

Er steht mächtig unter Strom und wiederholt die Zahlen, bis sie auch der letzte von uns parat hat und zornig aus der Wäsche guckt. Tarik ist kein unsympathischer Kerl, mit einem verschmitzten Lächeln und Gespür für Komik, doch beim Geld hört für ihn der Spaß auf.

Als wir das Fahrgeld am Nachmittag abholen sollen, ausgezahlt wird es einige Strassenzüge weiter bei einer Aussenstelle des Maßnahmeträgers, macht Tarik sich frühzeitig auf die Socken. Er fliegt beinahe durch die Fußgängerzone, will unbedingt der erste sein. Dass ihm womöglich 2 Euro 20 Cent weniger ausbezahlt werden als ihm zusteht, lässt ihm keine Ruhe. Er will unbedingt Beschwerde einlegen, ist sich aber nicht sicher, wo – ob beim Maßnahmeträger oder besser direkt beim Arbeitsamt.

“Wahrscheinlich schicken die mich sowieso von einem zum anderen und wieder zurück, bis ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht,” seufzt er. “Das ist ein ganz abgekartetes Spiel!”

Und wieder sieht man Köpfe nicken.

6

Die beiden Referenten haben wenig Zeit für die Teilnehmer. Sie sind vollauf damit ausgelastet, dicke Akten anzulegen, die ständig aktualisiert werden müssen. Meist stecken sie mit der Nase in irgendwelchen Ordnern und rufen uns einzeln ins Büro, wo wir Formblätter zu unterschreiben haben, deren Richtigkeit sie wiederum gegenzeichnen müssen.

Nur hin und wieder gelingt ihnen in den sechs Monaten so etwas wie ein Vermittlungserfolg: Momo bekommt eine Praktikumsstelle. Bei den angeblich so vielfältigen Beziehungen zur heimischen Industrie keine große Nummer.

7

Mir gefallen Menschen, die sich mit einer gewissen Nonchalance durchs Leben bewegen, und unauffällig. Typen, die man schnell mal verwechselt, weil sie auf den ersten Blick so gar nichts besonderes an sich haben, bis man sie näher kennenlernt und feststellt, he, der ist ja ganz locker, der Blödmann. Der macht einfach nur wenig Wind um sich.

Rottner, der lange Stoffel, ist ungefähr in meinem Alter. Er hat eine Stirnglatze und ständig diese Jesus-Sandalen an den Füßen, egal ob bei Sonnenschein oder Regen. Mit den Latschen und dem karierten Holzfäller-Thermohemd wäre er in den frühen 90ern noch anstandslos als Sozialkundelehrer durchgegangen, mit halber Stundenzahl, doch wir schreiben das Jahr 2011 und Rottner ist seit 11 Jahren arbeitslos.

Zuvor hat er zwei Jahrzehnte lang Wärmespeicher auf großen Frachtschiffen ausgetauscht, für eine international tätige Firma in Cuxhaven. Nun lebt er in Solingen. Warum lebst du in Solingen? frage ich. Warum nicht? nuschelt er, und wir belassen es dabei.

So genau wollte ich es  ohnehin nicht wissen.

Rottner hat einen Hund. Nun haben viele Arbeitslose einen Hund, sie haben ja auch die Zeit dafür, aber nicht alle haben einen Hund mit einer Geschichte wie sein Hund Bootsmann, ein Boxer-Rüde.

“Bootsmann? Och. Wie der Hund auf Saltkrokan?”

Rottner nickt. Viele Worte macht er nicht. Er hat einen leichten Sprachfehler: Die Zungenspitze klopft beim Sprechen gegen die Schneidezähne, so leicht, dass es nicht direkt als Lispeln durchgeht, eher als kleine Marotte, das ‘s’ zu Bett bringen zu wollen, auch am hellichten Tag, mitten im hellichten Satz.

“Der Hund von den Kleinen Strolchen hiess auch Bootsmann”, meint Rottner.

Blödsinn, entgegne ich. Der hiess anders, doch noch eine ganze Weile ist Rottner nicht davon abzubringen, dass nicht nur der Hund auf Saltkrokan, sondern auch der Hund der Kleinen Strolche Bootsmann hiess. Und natürlich sein Hund, der Boxer-Rüde, klar, der auch. Es geht also insgesamt um drei Hunde, die Bootsmann heissen oder heissen sollen.

“Der hatte so ein fettes schwarzes Klätschauge”, sagt Rottner, “der Bootsmann von den Kleinen Strolchen.”

“Ja, der hatte ein schwarzes Klätschauge, aber der hiess nicht Bootsmann, der.. der hiess anders.. Schibulsky oder so.”

“Schibulsky? Der hiess doch nicht Schiebulsky! Das war doch kein polnischer Pfannkuchen!”

“Ah Mann.. natürlich hiess die Töle bei den Kleinen Strolchen nicht Schibulsky, das weiss ich auch, das war SPASS! Aber erst recht nicht Bootsmann..!”

“Na schön”, gibt Rottner sich geschlagen, als er spürt, wie ernst es mir damit ist. “Aber auf Saltkrokan, der dicke Hund, der heisst Bootsmann.”

“JA!” schreie ich. “DER SCHON!”

Über einen Bekannten erhielt Rottner die Anfrage, ob er nicht Lust hätte, dem örtlichen Boxerhundeverein beim Renovieren zu helfen. Das alte Blockhaus auf dem Vereinsgelände hatte es nötig. Na schön – Rottner war arbeitslos und handwerklich nicht ungeschickt, er schlug ein.

Nach vierzehn Tagen harter Arbeit kam der Vorsitzende des Vereins auf ihn zu und fragte, ob er, Rottner, unbedingt eine Rechnung brauche oder ob man das vielleicht auch so regeln könne, unter der Hand.

“Nö”, sagte Rottner. “Ich will ihr Geld nicht, ich will einen Hund.”

So kam es, dass unmittelbar nach dem nächsten Wurf des hochprämierten Zucht-Weibchens Daxa von Bückeburg, “oder wie die Boxer-Tante da hiess”, Rottners Telefon klingelte: er könne jetzt ins Clubhaus kommen und sich einen Welpen aussuchen. Jetzt, auf der Stelle.

Rottner latschte hin und entschied sich für einen flinken kleinen Rüden, dann latschte er wieder heim. Und dann dauerte es noch einmal zwei Monate, bis ihm der kleine Hund vorbeigebracht wurde, als Bezahlung für Renovierungsarbeiten am Clubhaus.

“Sagen Sie, haben Sie Erfahrung mit Hunden, Herr Rottner?”

“Hunde? Wer? Ich? Nö. Nicht direkt. Aber ich weiss schon, wie er heissen soll. Ich hab schon einen Namen.”

“Ja sicher. Das ist Carlo von Bückeburg, der II.”

“Hm? Nee, der heisst Bootsmann.”

Der kleine Hund ging in die Hundeschule und absolvierte die Welpengruppe, zuletzt die Rockergruppe. Allerdings ohne Rottner. Der hatte keine Lust mitzukommen, das übernahm die Frau des Vereinsvorsitzenden, zweimal die Woche, drei Monate lang, und auch nicht ganz freiwillig.

“Machen Sie mal”, hatte Rottner zu ihr gemeint, “Sie machen das schon. Hauptsache, Sie versauen mir den Hektor nicht.”

“Welchen Hektor?”

“Na den Bootsmann.”

Später gewann Bootsmann Preise auf Ausstellungen, er war von bemerkenswert schönem Wuchs, was Rottner auch nicht groß berührte, Schönheitswettbewerbe waren nichts für ihn, alles zu affig da unter all dem Gepudel.

Mittlerweile ist Bootsmann im besten Hundealter und Rottner und er sind gute Freunde geworden. Wenn Rottner, wie während der Maßnahme des Job-Centers, den halben Tag aus dem Haus ist, übergibt er Bootsmann in die Hände seiner Nachbarin.

“Die geht mit dem Joggen in der Heide. In Ordnung hab ich zu ihr gesagt, machen Sie mal, gehen Sie ruhig Joggen mit dem Kerl, Hauptsache, er kommt hinterher nicht zu mir an und beschwert sich, he, Langer, die Tante ist mit mir jeden Tag drei Stunden durchs Unterholz gehoppelt.”

8

Es dauert eine Woche und ich gerate mit einem 57jährigen Ex-Chefredakteur aneinander, der zudem eine halbe Karriere als Radiomoderator hinter sich hat sowie eine dreiviertel Karriere als Rockmusiker. Die Betonung liegt bei allen drei Karrieren auf hinter sich, was allerdings mit 57 nicht ungewöhnlich ist.

Früh am Morgen reisst er gleich das Maul auf, wenn auch mit einer angenehm klingenden, sehr sonoren Alexis Korner-Blues-Stimme, was den Stuss, den er absondert, halbwegs abfängt und mildert.

Er sei immerhin Chefredakteuer gewesen, mault er zum wiederholten Male vor versammelter Mannschaft, man habe ihn zu dieser Maßnahme “zwangsrekrutiert”. Als wären auch nur einer von uns freiwillig hier. Von welcher Zeitung er kommt, lässt er unerwähnt, trotz Nachfrage. Erst auf mein Drängen hin, ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe, rückt er mit dem Namen der Zeitung heraus,  “Die Brücke”.

Die Brücke ist ein Obdachlosenmagazin und wird in den bergischen Großstädten verkauft. Das ist an sich kein Grund, die Nase zu rümpfen, aber wenn jemand sich als ex-Chefredakteur aufspielt.. Na schön. Wir erfahren weiter, dass er in der Redaktion als 1-Euro-Kraft angefangen hatte, sich hocharbeitete und als die Zeit vorüber war, beschäftigte man ihn weiter, bezahlt aus Töpfen des Arbeitsamts.

“Die hatten mir versprochen, ich dürfte dableiben bis zur Rente. Und dann war plötzlich doch kein Geld mehr da”, jammert er sonor. (Der könnte ins Radio gehen, denke ich, da wusste ich das noch nicht mit seiner halben Radiokarriere.)

Es ist neun Uhr, als wir um den Tisch herum sitzen. Zuvor hat eine Krankenschwester einen 45minütigen Vortrag über Gesundheit und richtige Ernährung gehalten, so als wären Langzeitarbeislose zu doof zum Fressen. Die Krankenschwester ist allerdings okay soweit. Sie arbeitet im Klinikum im Nachtdienst und verdient sich tagsüber mit Vorträgen etwas hinzu. Sie ist der Typ vorsichtige Radfahrerin Mitte vierzig, der im Verkehr nervt, aber sie erinnert mich an meine Schwester. Da kann sie eigentlich sagen, was sie will, sie hat bei mir ein Stein im Brett.

Am Ende des Vortrags erzählt sie irgendetwas über Kalorienzufuhr, als der ex-Chefredakteur, der zufälligerweise neben mir sitzt, plötzlich ausholt, um seine Sicht der Welt darzulegen. Es beginnt mit unserer von riesigen Konzernen versauten Industrienahrung (wir werden mit Abfall zugestopft) und endet bei Quantenphysik. Für sich genommen macht das alles Sinn, doch er wirft alles in einen Topf und rührt darin herum, bis irgendein unausgegorener Mist herauskommt.

Besonders auf den Geist geht mir, dass seiner Meinung nach alles, was aus Indien und China kommt, gaanz toll ist, und alles was aus dem Westen kommt, gaanz böse. Da platzt mir der Kragen.

“Du redest nur Scheisse”, fahre ich von der Seite an. “Von vorne bis hinten nur Müll.”

Zuletzt hatte er behauptet, eine positive buddhistische Grundstimmung könnte bei Rauchern sogar Lungenkrebs verhindern.

“Mein Gott, natürlich erleichtert positiv denken das Leben, aber es macht den Krebs nicht weg! Das ist doch voll Kokolores.”

Ich werde aggressiv und rücke ihn mit seinem Gefasel in Sektennähe.

“Den Quark, den du zusammenquasselst und wie du das tust, erinnert an Scientology.”

Das Wort “Scientology” habe ich hinter meinem Rücken aufgeschnappt, wo es Rottner gerade ausgesprochen hatte, der Wärmepumpenaustauscher und Besitzer von Bootsmann, der den Scheiss auch nicht mehr mitanhören kann. Seltsamerweise reagiert der ex-Chefredakteur weniger auf meine Kritik als auf die Heftigkeit meiner Worte, die mich selbst überrascht hat.

“Ich wollte hier niemanden auf die Füße treten und Aggressionen auslösen”, sagt er.

9

Momo, der verhinderte Bodybuilder, berichtet von der wilden Zeit, als er davon träumte, Profi zu werden und die Kraftsportbühnen der Welt zu besteigen, mit eingeölten Muskelsträngen. Damals plante er den Tagesablauf strikt nach der Ernährungsvorgabe. Dazu gehörte auch, den Wecker auf drei in der Nacht zu stellen, um eine Portion Nudeln zu kochen und zu sich zu nehmen. Damit sollte der Körper mit den Kalorien aufgefüllt werden, die er im Schlaf gerade verbrannt hatte.

“Um den Energieabfall zu minimieren. Das war zu der Zeit, als ich gnadenlos auf Masse gemacht hab.”

Um auf Masse zu machen gabe er Monat für Monat Hunderte von Euro für Pülverchen und Vitamin-Shakes aus.

“Das war schon geil, das Massemachen. Mit Anabolika baut man viel schneller Muskelmasse auf als nur mit Training. Da glaubst du jeden Morgen, du könntest die Welt aus den Angeln heben. Doch sobald du die Anabolika absetzt, fällt alles zusammen und du bist nur noch Gewürm.”

Als Momo endete, war Stille. Ich fühlte mich fatal an Heroin erinnert. Nur dass Heroin keine Muskeln aufbaute, sondern Illusionen. Aber der Zusammenbruch war der gleiche.

Links neben mir sitzt eine hübsche Ukrainerin, die Mathematik und Statistik in Kiew studiert hat und in ihrem blauen 80er Jahre-Kostümchen an eine alternde Stewardess erinnert. Nach dem Ernährungs-Vortrag der Krankenschwester meldet sie sich und will wissen, wie man am effizientesten Bitterstoffe zu sich nehmen könne, doch die Krankenschwester kann nicht viel weiterhelfen.

Gewisse Gemüsesorten wie Fenchel enthalten Bitterstoffe, sagt sie. Doch würden Bitterstoffe zunehmend aus unserer Nahrung herausgeschwemmt, damit es fluffiger schmecke.

Pernod, sage ich, ist auch bitter, und links von mir die Frau kichert. Es ist die Frau mit schiefer Haltung, die behauptete, auch schon am Stein gearbeitet zu haben. Eine nette Frau. Dreimal verheiratet, drei Kinder von drei Männern. Stammt ursprünglich aus Freiburg und hat hoch im Norden in der Verwaltung eines Rüstungsbetriebs gearbeitet.

“Ich hatte die Panzerketten unter mir.”

In Solingen ist sie der Liebe wegen gelandet. Hat hier das dritte Mal geheiratet und 10 Jahre lang (wieso eigentlich immer genau 10 Jahre?) in einem Familienbetrieb Messer geschliffen. Seither ist ihr Rücken lädiert, vom langen Sitzen am Schleifstein.

Tatsächlich bildeten Haltungsschäden über Jahrhunderte so etwas wie das Krankheitsbild Nr. 1 unter der Solinger Arbeiterschaft, und noch heute sind orthopädische Deformationen dieser Art im Stadtbild präsent: Buckel, Höcker, Schulterkröpfe.

10

Ausser einem EDV-Spezialisten befindet sich in jeder Maßnahme auch ein Zombie. Ein graues Etwas, das auf seinem verhuschten Pfad durchs Dasein gerade Station in der Langzeitarbeitslosigkeit macht. Wobei an dieser Stelle einschränkend gesagt werden muss: Langzeitarbeitslosigkeit beginnt definitionsgemäß bereits nach einem Jahr ohne steuerpflichtige Beschäftigung. Meines Erachtens ist man nach einem Jahr aber noch lange nicht langzeitsarbeitslos. Dazu fehlt dann doch noch ein bisschen was.

In unserer Stabilisierungs-Maßnahme heisst der Zombie Eileen. Eileen ist um die vierzig und hat es an den Nerven. Das Haar gebrochen und voller Spliss, der Blick getrübt, der Mund eine Kneifzange, dazu nachlässige Kleidung – insgesamt ist Eileen eine einzige Altlast.

Einmal stapfen wir nebeneinander durchs Treppenhaus. Sie ist furchtbar unsicher und wägt ihre Worte ab, sie will bloß nichts dummes, nichts falsches sagen. Da tut sie mir ein bisschen leid, und fortan mag ich sie.

Sie zählt zur Abteilung Ich möchte keinem auf den Wecker gehen, aber ich bin so unglücklich, merkt das denn niemand? Nicht selten weiss ich bei diesen Menchen nicht, wie ich ihnen meine Sympathie deutlich machen kann, ohne sie gleich in die Arme zu schliessen. Ein aufmunterndes kleines Lächeln hier, ein aufmunterndes kleines Lächeln da, das kann jedenfalls auf Dauer dümmlich wirken und eher das Gegenteil bewirken.

Also belasse ich es oft bei meiner heimlichen Sympathie und gehe davon aus, dass diese Mitmenschen meine Gefühle schon irgendwie mitkriegen, oder zur Not eben erraten. Eine trügerische Annahme, die mich im Leben schon oft in die Bredouille gebracht hat.

In einem Fall wie Eileen geht es nur darum, dass jemand spürt, dass ich auf seiner Seite bin, doch in anderen Fällen wurde ich schon komplett missverstanden, nur weil ich den Mund nicht aufmachte. Weil ich davon ausgegangen war, dass Menschen meine Gedanken und Blicke schon richtig einschätzen.

So war ich automatisch davon ausgegangen, dass meine beiden Geschwister es mir nicht verübelten, dass ich kaum noch Einladungen annahm, ob zum gemeinsamen Essen, zum Spieleabend oder zum traditionellen Osterfeuer. Aus dem einfachen Grund, dass ich keinen Alkohol mehr trank und mir jede Gesellschaft nach spätestens einer Stunde lästig wurde und ich nur noch heim wollte. Das müssen die doch wissen, dachte ich. Die kennen mich doch. Pustekuchen.

Was ich dabei nämlich unterschlug: Andere Leute, selbst Geschwister, die mit dir aufgewachsen sind, haben den Kopf und das Herz voll anderer Dinge, die ich nicht mitkriege. Das macht es so nötig, dass man sich hinstellt und sagt, was man will und was man nicht will, was man mag und wasn man nicht mag, was man schlachtet oder besser heile lässt, was man küsst oder fortstößt, was man sich einverleibt oder was man auskotzt.

Wer sagt, was er will, kriegt, was er braucht, meint die Gräfin, als ich abends nach Hause komme und von meinem Tag erzähle. Zum Abendessen gibt es überbackenes Fenchelgemüse.

Bitterstoffe, sag ich.

schreibmaschinen poesie


„anachronism“ schreibmaschinen poesie von anatol knotek

„anachronism“, 32 seiten (16 poesien), handgebunden, DIN A6;
normalerweise ist ein buch nur eine kopie – hier ist allerdings jedes ein einzelstück.
jede seite ist mit meiner schreibmaschine geschrieben, also weder ausgedruckt noch kopiert. von insgesamt ca. 50 meiner arbeiten wählte ich für jedes heft 16 aus, sodass in keinem die gleichen vorkommen.

 

„anachronism“ (über wunden) von anatol knotek

 

„anachronism“ (treffen-trennen) von anatol knotek

 

Tage, wo Blut kam

Ich vertrug die Trinkerei nicht mehr. Es gab Tage, da riss ich beim Aufwachen erschrocken die Augen auf, erschrocken, dass ich noch lebte, detonierter Bauch, die Zellen zerrüttet, solche Tage. Tage, wo Blut kam. Tage, wo ich mich abends lächerlich machte am Tresen. Dieselben Tage, die morgens mit dem Geräusch der Wassertropfen begannen, Wassertropfen, die in der Küche aus dem lecken Wasserhahn fielen und peu a peu eine Kerbe in den Spülstein trieben, im Takt hastiger Herzschläge.

Solche Tage.

*

Mittags im Karstadt-Schnellrestaurant. Ich verdrückte mein Zigeunerhack mit Pommes und Salat, dazu ein Glas Cola, weil kein Bier mehr runterging. Ich war fünfundzwanzig. Ich hatte immer gut ausgesehen, ich war ein gutaussehender Typ gewesen, ich hatte immer Frauen um mich gehabt, jetzt war ich grau, ich war erledigt. Ich sah Scheiße aus, ich fühlte mich Scheiße, ich war Scheiße. Nichts stimmte mehr.

Ich glotzte den Serviermädel hinterher, die ihre Geschirrwagen durch die Gänge schoben, ich glotzte dicken Frauen in den Ausschnitt. Eine Frau löffelte Linsensuppe am Nebentisch. Ein überlanges Bockwürstchen ragte zu beiden Seiten über den Rand des Tellers. Alles an der Frau war korpulent und traurig und zu viel. Als Soundtrack liess die Geschäftsführung von Karstadt über Lautsprecher Nummern ausrufen, Personalnummern, pausenlos, wie auf dem nationalen Nummerntag.

“366, bitte!”, 408, bitte!”, “

Die 369, bitte!”,

“Die 500, bitte!”

Andere Frauen führten Selbstgespräche, mit zittrigem Blick, bis sie mich beim Zugucken und Mitschreiben ertappten und anfingen aufzuhören mit sich selber zu reden. Was schreibst der Kerl da? Schreibt der über mich? Na klar schreibe ich über euch, ich schreibe, wie ihr das Maggi in eure Suppen pumpt, ich schreibe über eure Suppe, in der Geschmacksverstärker und Gluten um die Herrschaft raufen wie trotzige kleine Kinder, ich schreib das alles auf, damit ich was zu tun habe und mir nicht noch mehr auf den Wecker falle als sowieso schon.

Ich notierte Fetzen aus der Wirklichkeit anderer Leute, mich dagegen vernachlässigte ich. Vielleicht sollte ich mehr über mich schreiben, schrieb ich. Vielleicht sollte ich ficken fahren. Morgen ist Heiligabend.

Da kam immer der Heiland.

*

Lena war mir durch die Lappen gegangen. Sie hatte Schluss gemacht, war mit einem Bundeswehrsoldaten durchgebrannt. Sie hatte Mut bewiesen nach sechs gemeinsamen Jahren und den Schlußstrich gezogen. Mir blieb das ungute Gefühl allein zu sein in der Welt, unter all diese Leuten.

Ich sollte ficken fahren.

*

re. karlos

*

Als die S-Bahn in den Düsseldorfer Hauptbahnhof einlief und ich auf den Bahnsteig trat, war ich plötzlich unschlüssig, ob ich überhaupt Lust auf Sex hatte. Ob der Ankauf einer Frau helfen könnte, Einsamkeit zu lindern. Oder, wie Karlos gesagt hätte, ob ich das wirklich wollte: DRANPACKEN! ICH WILL AUCH MAL DRANPACKEN! Mit Zahlschein.

Andererseits war ich ja nun schon mal in Düsseldorf. Und wo ich nun schon mal in Düsseldorf war, beschloss ich Richtung Nordstrasse einzuschlagen. Zum Sexshop. Mit den kleinen Schneehaufen vorm Eingang, die mich an Pürree erinnerten, schmutziges, mit Rollsplitt verbackenes Pürree, und dass der Winter erst noch losging.

Im Laden drängelten sich einige Männer vor Schaukästen mit Fetischwäsche und Spezialwerkzeug, unbeholfen standen sie da, kleine Jungs an der Fleischtheke.

“Ich hätte gern.. ähm.. von dem.. da..”

“Von dem hier, kleiner Mann?”

“Genau, ja! Von dem.. da!”

“Das ist Gehacktes, mein Junge..”

“Gehacktes? ?! Oh.. ähm. Ein.. Pfund Gehack.. tes.”

“Ein Pfund, wird gemacht. Für die Mutti, hm? So. Und sonst noch einen Wunsch?”

“N- nein.. danke! Auf Wiedersehen!”

Ich nahm die erstbeste in einer langen Reihe von Video-Kabinen. Der Kabuff war eng wie ein Passfotoautomat und stank wie ein Dixie-Klo, trotz cws air control. In so einem Spind hatten wir mal ein Nümmerchen schieben wollen, Lena und ich, doch kaum war die Tür zugesperrt, pochte es.

“He! Ihr beiden Fickstelzen kommt schön raus hier – aber dalli!”

Auf der Sitzbank lag eine zerrupfte Rolle Kleenex, ich kickte sie mit dem Fuß runter, bloß nicht berühren. Die Wichsgriffelrolle. Hau bloß ab. Ich warf fünf Mark in den Schlitz. Der Video-Bildschirm zeigte 64 Programme, per Knopfdruck abrufbar, zur richtigen Zeit, wie ein Aufkleber suggerierte. Motto: Spürt der Masturbator, dass es ihm gleich kommt, muss er den Button nur bearbeiten bis es in einem der 64 Pornokanäle einem Akteur auch gerade kommt, zur dekorativen Ejukalala.

Nun werd mal nicht albern. Sex ist eine ernste Sache. Besonders wenn man allein ist mit seinen Fingern.

Ich hatte eine Knastszene drin. PROGRAM 23. Wärter rammelte blonde Inhaftierte, zweiter Wärter kam hinzu, sich selbst rammelnd, wortlos. Ich hörte nur den Sound aus der Nachbarskabine.

“..endlich kümmert ihr euch um mein Fötzchen.. hab ich auch was davon..”

“blas ihn mir wieder hoch..”

“und jetzt.. zwei Schwänze.. ooh Mann..”

“das hat es ja nicht mal.. in Paris gegeben..!”

(PARIS? War es in Paris denn nicht genauso?!)

“..super.. jaaa.. spritz alles raus.. gleich.. jaa.. jeeetzt.. hast du es geschafft..”

“He! Ich bin auch noch da..!”

Ich auch! Aber ich wollte gar nicht abspritzen. Ich wollte nur meine Konstitution prüfen. Pimmel-TÜV. Er stand so dreiviertel. Schlechtes Zeichen. Zuviel Restalkohol im Blut. Kommt es mir gleich im Puff zu schnell. Kann ich mir auch gleich einen kloppen lassen, kommt billiger. Fragt sich bloß, wo der Puff überhaupt ist.

Es war schon ein paar Jahre her, ich war besoffen und die Nutte war noch besoffener und wollte andauernd nur MEHR GELD, aber ich hatte kein MEHR GELD, also krallte sie sich meine weisse Lotsenmütze, als Trophäe, mir wars egal. Kann mich ansonsten nur daran erinnern, dass der Puff ein großer Kasten ist, wie eine Kaserne aussieht. Hinterm Bahndamm.

Und so lief ich durchs Bahnhofsviertel, die Hände in den Hosentaschen, Runde um Runde, auf der Suche nach dem Bahndamm. Schwachsinn alles, doch es trieb mich voran unter dichten schlammigen Wolken. Ich irrte umher, ohne Traute, jemanden nach dem Weg zu fragen. Einmal begegneten mir zwei Kerle, in ihrer Mitte ein Kasten Bier, die hätte ich fragen können, doch dann waren sie schon weg, bevor ich mich aufraffen konnte, sie anzusprechen.

Es ist fatal, aber jeder Einsame denkt, er fällt auf in seiner Einsamkeit. Dass es ihm mit riesigen Lettern ins Gesicht geschrieben steht: EINSAM. Darum versucht er die Einsamkeit mit Geschäftigkeit zu kaschieren, und als wäre es bloßer Zufall, dass er gerade alleine unterwegs ist, die große Ausnahme.

Je länger ich in der Bahnhofsgegend unterwegs war, desto bekannter kam mir das Viertel vor. Als hätte ich in der Nähe mit dem dicken Hansen mal Haschisch gekauft, Jahre zuvor.

Ja klar.

*

Der Dealer hauste in einer Sozialwohnung, und Parterre war ein Kiosk, das wusste ich noch, die verkauften Kölschbier in Düsseldorf.

Nachdem der lange hektische Kerl endlich geöffnet hatte, auf Klingelzeichen, verrammelte er die Etagentür gleich wieder, mit schweren Ketten und Sicherheitsschlössern. Und das bei meiner Bullenparanoia. Die Bude selbst war nicht mehr als ein Schlauch, die Teppiche voller Brandlöcher. Das Licht kroch gelb und spärlich aus Deckenschalen, und aus mannshohen Boxen wummerte Rodigan’s Rockers, die wöchentliche Reggae-Show auf BFBS, dem britischen Soldatensender im Rheinland.

“Der Arsch hat soviel Material im Haus, das können wir in einem Jahr nicht wegrauchen”, hatte der dicke Hansen auf der Hinfahrt geprotzt, doch nun hiess es plötzlich, Jungs, ihr müsst euch etwas gedulden, der Brösel muss noch gepresst werden. Dauert nochn klein Moment.

“Aber keine Angst, geht schnell.”

Der Dealer hustete und bot uns Rauchproben an. Zur Auswahl standen Türke und Roter Libanese sowie holländisches Powergras. Ich wäre am liebsten auf der Stelle abgehauen, doch das Geld war Hansens Geld und wir waren mit seinem Wagen da und er hatte wie immer die Ruhe weg. Er saß da und wippte mit dem Wagenschlüsel zum Reggae – ein Reggae nach dem anderen, eine endlose Parade von Reggaesongs, stets im gleichen verfluchten Rhythmus, einen vor, zwei zurück. Jah Man.

Ich teilte mir einen Bong mit dem dicken Hansen. Das Wasser blubberte in der Flasche, als der Dealer plötzlich aufstand und nervös hin und her tigerte. Abrupt blieb er stehen und spähte aus dem Fenster, als erwartete er jeden Moment das Sondereinsatzkommando, und dann geschah es. Der Bong sprengte meine Nerven, liess das Haschisch implodieren, ein böses Riss, Platzangst. Weitere, heftige Implosionen.

Der Typ hat doch nicht umsonst so ne Action gemacht mit seiner scheiss Wohnungstür, dachte ES in mir. Kippte. ES kippte. In mir. Dieses schiefe Gefühl, dass etwas gerissen war in mir, irreparabel, nicht rückholbar, ausgeliefert und auf ewig schief: Die alte LSD-Angst, im falschen Moment am falschen Ort das falsche Zeug genommen zu haben, und nun war es zu spät, daran noch etwas zu ändern. Nun hiess es auf ewig damit klarzukommen…

Eigentlich dürftest du gar nichts mehr kiffen, hatte Lena mal gemeint. Wenn du noch Wert auf dich legst. Auf die Gesundheit deiner Seele.

Der dicke Hansen, den Autoschlüssel in der Hand, spielte damit wie mit einer Gebetskette, völlig unbeeindruckt von der Situation, in der ich gerade in mir ertrank, absoff, während der Dealer schon den nächsten Bong stopfte, zum Reggae mit den Füßen stampfend – diese gottverflucht monotone Marschierparade – ich muss mich abkühlen, muss mich runterholen, komm runter, Glumm, sag etwas, sag irgenetdwas, egal, irgendetwas..

belangloses..

der Dealer schien zu merken, dass mit mir etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte, er glotzte komisch rüber, irritiert..

“Kennst du auch Soul Train..?” fragte ich endlich, er verstand nicht, ich wurde lauter, mit ausrutschender Stimme, “..Soul Train.. auf BFBS.. immer mittwochs.. ob du das kennst”, doch er starrte nur in seinen Bong und meinte desinteressiert, “Soul? Nee, Soul find ich nicht gut, ich kann nicht immer alles gut finden.”

Ich kann nicht immer alles gut finden. Da lagen die 80er Jahre vor mr, gebündelt und geschnürt und in einem einzigen Satz: Ich kann nicht immer alles gut finden.

Ja klar! dachte ich.

Ich kann jetzt auch nicht gut finden, dass ich hier so blöd durchs Bahnhofsviertel stiefle, aber ich stiefle nun mal blöd durchs Bahnhofsviertel, auf der Suche nach dem Bahndamm, nach einem Puff, nach einer korrupten Möse, aber so ist das nun mal, also reiss dich zusammen und frag endlich irgendeinen Typ in deinem Alter, der dir entgegen kommt, wo der verdammte Bahndamm ist.

“Da vorn durch den Tunnel, die erste rechts und immer geradeaus.”

*

Hinterm Bahndamm. Ich erkannte es auf Anhieb wieder. Vorm Eingang zum Kontakthof drückte sich eine Gruppe türkischer Männer rum, lamentierend, Kerne spuckend. Ich trat in den Hof. Zwei Nutten lehnten an der Backsteinmauer.

“Kommste mit?”

Ich grinste.

“Da grinst der nur.”

Ich streifte die unterste Fensterreihe ab. Die meisten Vorhänge waren zugezogen. Auf den Scheiben pappten Zimmernummern, manchmal ein Name. Gabi. YVONNE 65. In der Hofmitte, an den Münzgeldautomaten, scharten sich die Freier, die sich den ganzen Tag den Schwanz in den Bauch standen, mit dem Ziel, für kleines Geld in die Kloake eines Weibchens vorzudringen.

Dann stand sie neben mir.

“Magst du dich verwöhnen lassen..?”

Lederstiefel, dunkles Haar, freundliche Augen.

“Weiß nicht”, mehr kriegte ich nicht raus.

“Komm.”

Sie hakte sich bei mir unter. Mit dem Lift drei Etagen hoch, Zimmer 55.

“Bist du das erste Mal hier?” fragte sie, als ich im Kabuff stand, die Hände in den Hosentaschen.

“Was.. nein.”

“Wieso guckst du dich dann so um?”

Gute Frage. Ein Bett mit roten und braunen Decken, zwei Stühle, ein Tisch, darauf eine Schale mit Präservativen und Bonbons.

“Nur so.”

“Und? Was ist Sache, du As? Schön bumsen und blasen?”

Ich stand da, verschwitzt. Die Fischangst meiner Hände.

“Nee. Lieber nur runterholen.”

“Och”, sagt sie enttäuscht und zieht sich nicht weiter aus. “Kost vierzig Mark. Warum nicht schön bumsen und blasen?”

Ich legte zwei Zwanziger hin, auf den Tisch. Sie stopfte die Scheine in eine Blechdose, zu den anderen Scheinen von anderen Männern.

“Na schön. Dann mach dir es mal bequem.”

Ich setzte mich auf den Bettrand.

“Schwanz waschen?” fragte sie noch.

“Nee.. Nachher.”

Ich liess die Jeans runter, sie setzte sich dazu, den Pullover knapp über die Titten hochgeschoben. Kalte Titten, wie gewachsene Titten.

“Wirklich nur wichsen hallelujah? Nicht schön bumsen und blasen?!”

Das lockerte mich ein bißchen.

“Nee, nur.. wichsen hallelujah.”

Ich legte mich auf den Rücken, mit aufgestützten Ellbogen. Sie nahm ein Kleenextuch und breitete es in Spritzrichtung über meinen Bauch aus. Wie ein kleines Auffangtuch lag es auf mir, eins von der Feuerwehr.

“Magst du geile Bilder sehen?”

Ich mochte nicht.

“Präser?”

“Nee.”

Dann machte sie es. Ich guckte ihr zu. Sie guckte sich zu. Sie machte es gut. Gekonnt. Ich schraubte kurz an ihren Titten rum, doch es blieben Fotos, da liess ich es wieder sein.

“Spritz in die Luft!” rief sie, als ich kam.

Sie lächelte.

“Ging schnell, ne..?”, sagte ich, halb fragend.

“Naja. Bei manchen Typen muss ich das Ding nur berühren, schon explodieren sie.”

Sie ging zum Waschbecken.

“Komm, schön Schwanz waschen.”

“Nee. Lass mal.”

“Na, musst du wissen. Jetzt hast du schön leer gespritzt und du weißt, dass ich gut bin. Kommst du später noch mal wieder, schön bumsen und blasen.”

“Mh”, sagte ich, und nahm schön die Treppe.

Im Kontakthof schnitzte ich mir was markantes um den Mund rum, ich mein, wer weiß, vielleicht hat ja einer von den Pennern mitgekriegt, wie ich mit der Kleinen aufs Zimmer verschwunden bin, und jetzt, keine zehn Minuten später, bin ich schon wieder zurück. “Schnellspritzer”, höre ich sie mich verhöhnen, “dreimal hoch, dreimal runter, ha ha ha!” Also schnitzte ich mir was markantes um den Mund rum, so als wollte ich sagen: Ich hab mit der Kleinen nur ein Geschäft abgewickelt, oder ich hab sie auf die Schnelle erdrosselt.

So lügte ich mich bis zum Ausgang, wo die Türken standen und lamentierten, lebhafter mittlerweile, Pistazienschalen spuckend. Natürlich hatte niemand was mitgekriegt von meinem Puffbesuch oder meiner markanten Schnitzarbeit, geschweige denn mich ausgelacht, Männer im Puff interessieren sich für alles mögliche, nur nicht für andere Männer.

Ich wollte jetzt auch nur noch raus aus dem Bahnhofsviertel.

*

Straßenbahn Richtung Altstadt. Tags drauf war Heiligabend, die Leute hatten es eilig. Schoben sich in Kolonnen durch die Fußgängerzone. Vorm Kaufhaus Horten stand ein dicker Junge mit Brille und Sheriffstern, zu seinen Füßen eine Zigarrenkiste mit Münzen, er trällerte Adventslieder fünf Minuten vorm Stimmbruch.

Ich stoppte an einer Bratwurststube.

“Drei Reibekuchen.”

Das einzig Wahre nach einem nietigen Bordellbesuch.

“Mit Apfelmus?”

Was dachte der denn. Der Koch, er trug ein weiße Kochmütze, reichte mir den Pappteller über den Tresen und erkundigte sich bei dem Touristen neben mir, “May I help you?”

“Yes, Sir. We want wurst.”

Der Koch nickte in Richtung Schwenkgrill, auf dem Thüringer Bratwürstchen kokelten.

“A long one?”

Der Tourist schaute sich unsicher um, sucht seine Frau, die in einiger Entfernung das Gepäck hütete.

“Mh, from Heidelberg, this wurst?”

“Heidelberg?” Der Koch nickte. “Yes. Heidelberg.”

Ich reihte mich ein in den Strom der Passanten. Verhätschelte Gesichter, andere aus der Asservatenkammer. Von der Helligkeit der Schaufenster angezogen, blieb ich vor einem Frisörsalon stehen, guckte mir schön die Auslage an, den neuen Look, Dreadlocks.

Ich könnte mir auch noch mal die Haare schneiden lassen. Immer nur Locken, dicke unordentliche Dinger, seit Ewigkeiten. Komm mir überhaupt so siffig vor. Keine Alte guckt mich mehr mit dem Arsch an. Also, los jetzt. Rein da.

“Womit kann ich dienen?”

Na ja, Haare schneiden. Ob ich einen Termin habe? Ich habe nicht sehr oft Termine. Nein. Der Geschäftsführer mustert mich geringschätzig und überfliegt eine offen liegende Kladde.

“Siebzehn Uhr hätte ich etwas frei.”

“Jetzt gleich geht’s nicht?!”

“Nein, leider. Sie sehen ja, alles besetzt. Tut mir leid.”

Ich sah da gar nichts, fand aber, dass er im Schritt stank und probierte es in zwei, drei anderen Salons, bei Gina schließlich hatte ich Glück. Kleiner Palast. Gina persönlich half mir aus der Jacke und bot mir einen Platz an, an einem Bistro-Tischchen.

“Möchtest du Kaffee?”

Sie servierte ihn postwendend und lauwarm. Ich schnappte mir eine Illustrierte, ein Stadtmagazin, wo Leute für eine Szene schrieben, die längst verreckt war an ihren eigenen Leuten, aber was redete ich hier überhaupt? Wen juckte das? Gina half mir da raus. Persönlich.

“Kommst du mit?”

Vor einer Galerie von zwanzig Spiegeln versank ich in einem ledernen Drehstuhl, Gina griff mir ins Haar.

“Steht dir doch viel besser so, kommen deine Augen mehr zur Geltung.”

Augen? Die ist gut. Trübe Glubscher. Blutunterlaufenes Material. Ich bin unrasiert und blass. Es juckt. Junge, bin ich lädiert. Seh ich scheisse aus. Bin ich froh, wenn der Mist runter ist.

“Stehst du mal auf?”

Sie band mir einen Kittel um.

“Noch einen Kaffee?”

Ich setzte mich und schaute mir ein bißchen die Stylisten an, wie sie um die Kundschaft herumwieselten und dabei Konservation machten, mit flatternden Augenlidern.

“Kommst du mal mit?”

Ich war hier nur am Mitkommen. Diesmal nicht mit Gina, sondern mit einer Rothaarigen. Lobsterrot. Es ging eine Etage höher, zum Haarewaschen.

“Such dir ein Waschbecken aus.”

Ich nahm das erstbeste. Behutsam drückte sie meinen Kopf in die Nackenschale, Wasser brauste durch mein Haar.

“Temperatur angenehm?”

Es gluckerte leise im Abfluss. Sie legte Shampoo auf und massierte meine Kopfhaut. Ich schloss die Augen und entspannet, fast schien es, als machte sie es zärtlicher als nötig, aber vielleicht war es auch der Hygiene wegen, egal, heute bin ich für alles am löhnen, für die Hure, für die Frisöse, für alle zarten Finger.

“So”, sagte die Rote, rubbelte mein Haar trocken, “fertig.”

Ich wendelte die Treppe runter, wieder auf meinen Drehstuhl.

“Magst du noch einen Kaffee?”

Will die mich verscheißern? Sie reichte mir das Stadtmagazin, das ich wortlos weglegte, und dann fing sie an. Zu reden. Sie redete und schnitt und redett und schnitt, bis ich mich irgendwann genötigt sah, auch mal was zu sagen, bloß – was? Ihr französisches Aussehen verleitete mich schliesslich zu der originellen Frage, ob sie Französin sei.

Sie lachte. “Nein. Italienerin.”

Gott sei Dank.

“Aber meine Mutter stammt aus Frankreich.”

Scheiße.

Sie trug ein schwarzes Leibchen, das viel Bauch herzeigte, und während sie mit scharfem Schnitt in meine Parade fuhr, versuchte ich einen Blick von ihrem Busen zu erhaschen, aber der war gut und feste eingepackt. Schließlich war es soweit. Der Struwwel war entpetert, und Gina rasierte schon meinen Nacken aus. Sie präsentierte mir ihr Werk. Ich war hart an der Grenze zum Hautkopf. Doch, sehr diszipliniert. Gina föhnte, Gina gelte.

“Pass nur auf. Gleich auf der Strasse guckt sich jedes Mädel nach dir um.”

“Ich nehme dich beim Wort”, sagte ich, und zahlte vierzig Mark.

“Hier”, Gina reichte mir ihre Visitenkarte, “falls du mich weiterempfehlen möchtest.”

Draußen hatte ich dann die Kälte am Hals, sehr ungewohnt, dieser ungehinderte freie Zugang zur Kälte. Ich taxierte einige schöne Düsseldorferinnen, he, alle mal herschauen, der Onkel war beim Frisör, doch die Resonanz war dürftig. Was möglicherweise auch an meinem Outfit lag. Also – keine halbe Sachen. Eine neue ganze muss her. Sache. Hose. Stangenware. Warenhaus. Hier gab es die neuen ganzen Sachen. Hosen. Herrenmieder. Stangenware.

Aus Jux probierte ich eine Bundfaltenhose, die passte sogar, war mir aber doch zu affig. Was mir gefiel, waren schwarze verwaschene Jeans in Karottenform. Ich nahm ein paar mit in die Umkleidekabine, die roch nach grober Leberwurst. Oder waren das meine Schweißfüsse? Eine Hose war mir zu weit, schlabberte an der Taille, die nächste Karotte war zu kurz, eine weitere zu eng. Ich kam einfach nicht zurecht mit den amerikanischen Größen. Gab entnervt auf. Stolperte durch die einbrechende Dunkelheit, die vorweihnachtliche Meute. Keine Sau nahm Notiz von mir.

Ich versuchte es im Kaufhof. Ging zielstrebig auf den Verkäufer zu, ein Asiate mit langem roten Lederschlips.

“Meine Bundweite”, sagte ich, “brauch ich.”

Er verstand nicht, ich wiederholte, er verstand und holte ein Zentimeterband.

“Was suchen Sie denn?”

“Schwarze Jeans in Karottenform”, erklärte ich bündig, er nickte und verschwand und schleppte wenig später einen Haufen Hosen an, nur die nicht, die ich meinte. Ein deutscher Oberverkäufer stiess hinzu.

“Kann ICH Ihnen weiterhelfen..?”

Er bedeutete dem Chinesen, sich vom Acker zu machen.

“Mein Kollege ist ganz neu hier”, sagte er entschuldigend, und ich trug dem Glattarsch auf, mir eine Karotte zu besorgen. Er brachte drei Stück in verschiedenen Größen, ich machte Leberwurst aus der Kabine, die Jeans passten alle drei, mehr oder weniger, ich entschied mich für die engere und behielt sie gleich an.

Mittlerweile war es dunkel geworden, dennoch versuchte ich das weibliche Düsseldorf zu provozieren, mit flackerndem Blick. An der Straßenbahnhaltestelle Richtung Hauptbahnhof gelang tatsächlich ein Flirt mit einer hinreißenden Dunkelhaarigen, bis sie einstieg und abrauschte, ohne sich noch mal umzudrehen, blöde Kuh.

Schnellbahn zurück nach Solingen. Ich starrte nur noch aus dem Fenster. Dingsda e pericoloso. Bitte nicht hinauslehnen. Ja genau. Mir doch egal. Fall ich eben raus. Bin ich eben tot. Aber tot mit Kurzhaar. Mein Gegenüber, ein Türke, machte mich per Handzeichen auf das Kärtchen aufmerksam, das mir aus der Jackentasche gerutscht war. Ich hob es auf. Endstation. Noch vom Bahnsteig aus rief ich die Nummer an und fragte, was sie mir denn da versprochen habe, so leichthin.

“Wie..? Wer.. spricht denn da?”

“Na, der Kerl, dem du eben die Locken geschnitten hast.”

“Ah.. ja.. und was hab ich dir versprochen?”

“Na, dass sich jedes Mädel nach mir umdreht. Das haut nicht hin. Lüge!”

Gina gackerte.

“Du darfst nicht aufgeben.”

“Ja”, sagte ich, und legte auf.

Kurztitel & Kontexte bis 2012-12-16

Hackergrüße aus Malaysia

Hacker-Konsole für Passwort-Klau
Hacker-Konsole »Shell.CA.2«, mit der so ziemlich alles im angegriffenen System machbar ist

••• Aus Fehlern lernt man, heißt es. Nun, es müssen nicht unbedingt die eigenen sein. Ich habe Fehler gemacht und lade euch ein, den Erkenntnisgewinn mit mir zu teilen, bevor es euch selbst trifft.

Vor einigen Wochen wurde der Server, auf dem neben dem Turmsegler noch diverse andere Websites befreundeter Künstler beheimatet sind, von islamistischen Hackern aus Malaysia angegriffen. Anlass war den muslimischen »Freunden« der Beginn des Fastenmonats Ramadan. Dass auch mir der Appetit vergangen ist, als ich morgens per SMS die Meldung bekam »Meine Website wurde gehackt!« — kann man sich denken. Noch mehr vergällt war er mir, als ich das Ergebnis sah: Antisemitische Hass-Banner auf den Homepages der betroffenen Sites.

Obwohl ich sofort einschreiten und vom Handy aus den Server vom Netz nehmen konnte, war der Schaden bereits beträchtlich. Es hat eineinhalb Tage gedauert, die Sicherheitslücke zu identifizieren und zu schließen, den Schaden zu beseitigen und das System durchgängig mit neuen Account-Passwörtern zu versehen.

Nun ist es einerseits peinlich, wenn man einräumen muss, den Hackern eine Tür offen gelassen zu haben, durch die sie eintreten konnten, um solchen Schaden anzurichten. Andererseits denke ich mir, nachdem ich nach nun mehr als vier Wochen wieder sicherem Betrieb, den Schrecken überwunden habe, dass es ein lehrreiches Beispiel für andere Site-Betreiber sein kann, wenn ich an dieser Stelle einmal erzähle, wie die Hacker eingedrungen sind, welche Tools sie verwendet haben und was alles sie damit sonst noch hätten anstellen können.

Die meisten Websites auf meinem Server verwenden das Content Management System (CMS) WordPress. Es ist auf Millionen Installationen weltweit erprobt, wird regelmäßig aktualisiert und gegen mögliche neue Angriffsvarianten gehärtet. Das schützt den Anwender jedoch nur bedingt. WordPress erfreut sich unter anderen deshalb so großer Beliebtheit, weil es durch Plugins für jeden denkbaren und undenkbaren Einsatzzweck erweitert werden kann. Ich selbst habe Plugins für WordPress geschrieben, MintPopularPostsWP und RearviewMirrorWP beispielsweise für die »Rückspiegel«-Funktion wie hier im Blog. Gelegentlich verwenden die Entwickler solcher Plugins ihrerseits Komponenten von Drittanbietern — bspw. Flash-Komponenten für die Bereitstellung von Upload-Funktionen.

Ein solches WordPress-Plugin, im Einsatz auf zwei der betreuten Websites, war das Einfallstor. Das Plugin nutzte eine vom Entwickler nicht korrekt konfigurierte Flash-Upload-Komponente. Diese ermöglichte es nicht nur — wie vorgesehen — Bilder auf den Server zu laden, sondern auch ausführbaren Skript-Code und das auch noch für beliebige unangemeldete Benutzer. Ein Konfigurationsfehler meinerseits gestattete die Ausführung von Skript-Code aus Verzeichnissen, die das Plugin für Uploads nutzte.

Die Hacker haben einen Automaten verwendet, der stumpfsinnig WordPress-Websites weltweit nach dem fehlkonfigurierten Plugin absuchte. Der Automat sandte einfach an die typische URL einen Upload-Request. Ist das Plugin vorhanden, landet so eine Hacker-Konsole (»Spy.CA.2« und »Spy.Prance.A«) als PHP-Script auf dem Server. War der System-Admin gewissenhaft, ist der Angriff damit zu Ende, denn aus einem Upload-Verzeichnis sollte der Server nie Code ausführen dürfen. Sollte. Der Automat prüft das, indem direkt im Anschluss versucht wird, die Hacker-Konsole aufzurufen. Gelingt das, ist der Server kaum noch zu retten. Ein Mensch übernimmt dann über die Konsole den Server.

In meinem Fall wurden zwei unterschiedliche Hacker-Konsolen verwendet. Die eine (s. folgendes Bild) dient zur Ausführung von beliebigen Shell-Befehlen unter dem OS-User, unter dem der Webserver läuft. (Gelegentlich, habe ich mir sagen lassen, ist das bei manchen Systemen auch mal der User root, der alles darf.) Aber auch, wenn man sich diese fatale Blöße nicht gegeben hat, ist es schlimm genug. Das »Turbopanel« unternimmt diverse Brute-Force-Attacken, um die Passwörter von OS- und Datenbank-Usern zu knacken.

Hacker-Konsole für Passwort-Klau
»Turbopanel«, Hacker-Konsole für Passwort-Klau

Darauf allerdings ist der Hacker, der die Konsole bedient, gar nicht angewiesen. Die »Super!«-Konsole aus dem Bild am Beginn dieses Artikels bietet dem Hacker nämlich Zugriff auf das Dateisystem des Web-Servers, soweit der OS-User, unter dem der Web-Server betrieben wird, dies lesen darf. In diesem Dateisystem finden sich nun auf alle Fälle die Konfigurationsdateien von WordPress, in denen u. a. die Datenbankverbindungen des CMS eingetragen sind. So kommt der Hacker in den Besitz von validen Datenbank-Benutzernamen samt Passwort. Einmal in der Datenbank, liegen dann auch die Accountnamen aller registrierten Benutzer offen, das CMS ohnehin, so dass die Websites im Handumdrehen mit Inhalten gefüllt werden können, die dem Hacker gefallen, dem enteigneten Admin der Website hingegen höchstwahrscheinlich nicht.

Ist man derart entkleidet, hat man einiges an Arbeit vor sich. Zunächst muss man die Sicherheitslücke überhaupt erst einmal finden und sie schließen. Dann ist festzustellen, wann genau der Einbruch erfolgt ist. Reparieren kann man vergessen. Will man sicher sein, keinen Schadcode und keine fremden Inhalte auf den Sites oder in der Datenbank zu haben, muss man ein Backup von Datenbank und Dateisystem einspielen, das vor dem Angriff erstellt worden ist.

Damit ist es aber nicht getan. Immerhin muss man davon ausgehen, dass die Hacker sich nun im Besitz der Account-Informationen von Weblog-Nutzern und Datenbankbenutzern befinden. Also müssen alle Passwörter für diese Accounts geändert werden.

Die meisten CMS ermöglichen es, dass ein einmal angemeldeter Benutzer künftig über einen Cookie erkannt wird und sich so nicht bei jedem Besuch neu anmelden muss. WordPress bietet dieses Feature ebenfalls an. Nach einem Hacker-Einbruch muss es deaktiviert oder aber auf anderem Weg sichergestellt werden, dass alle bisher generierten Cookies ihre Gültigkeit verlieren. Bei WordPress ist dies möglich, indem die Kryptographieschlüssel geändert werden. Andernfalls braucht sich der Hacker während der Attacke nur einmalig gültig angemeldet zu haben, um später bei weiteren »Besuchen« über den Cookie als valide angemeldeter Blog-Benutzer erscheinen zu können. Wirklich sicher ist die Änderung der Schlüssel jedoch nur, wenn man ausschließen kann, dass Benutzer-Passwörter zu den Blog-Accounts entwendet wurden. WordPress speichert alle Passwörter verschlüsselt. So soll es auch sein. Ob diese Verschlüsselung für einen wirklich ambitionierten Hacker ein echtes Problem darstellt, mag ich nicht beurteilen.

Ins Merkheft geschrieben: Was sollte man auf jeden Fall berücksichtigen, wenn man einen Server im Internet betreibt?

  1. Tägliche Backups vom Dateisystem und den Datenbanken müssen vorhanden sein.
  2. Tägliche Backups vom Dateisystem und den Datenbanken müssen vorhanden sein.
  3. Tägliche Backups vom Dateisystem und den Datenbanken müssen vorhanden sein.
  4. Alle Komponenten vom Betriebssystem über die Server-Software bis hin zu Plugins müssen auf aktuellem Stand gehalten werden, so dass Sicherheitslücken, die den Entwicklern bekannt geworden sind und von ihnen geschlossen wurden, auch auf dem eigenen System geschlossen werden.
  5. Server-Software (Web-, Mail-, Datenbank-Server etc.) müssen unter unterschiedlichen minderberechtigten OS-Usern laufen und keinesfalls unter dem User root.
  6. Ermöglichen Komponenten den Upload von Inhalten auf den Server, muss verhindert werden, dass es sich dabei um ausführbaren Code handelt oder bestehende Inhalte gleichen Dateinamens überschrieben werden können.
  7. Der Web-Server muss so konfiguriert werden, dass er in keinem Fall Code aus Verzeichnissen ausführt, die für Uploads freigegeben sind.
  8. Es empfiehlt sich der Einsatz einer Software, die das Dateisystem des Webservers überwacht und den Admin benachrichtigt, wenn sich im Dateisystem bislang unbekannte Inhalte finden, insbesondere Dateien mit ausführbarem Code.

Punkt 4, 6, 7 und 8 waren auf meinem Server nicht erfüllt. Das besagte Plugin war seit zwei Jahren nicht aktualisiert worden. Die Sicherheitslücke (Verstoß gegen Punkt 6) war dem Hersteller des Plugins bekannt und bereits seit 1 1/2 Jahren durch eine neuere Softwareversion geschlossen. Mein Web-Server erlaubte die Ausführung von Code aus Upload-Verzeichnissen, und ein Monitoring des Dateisystems gab es nicht.

Selbst schuld also. Erkenntnis durch Schmerz.

Es würde mich interessieren, welche Blog-Betreiber unter den Turmsegler-Lesern alle 8 Punkte beruhigt abhaken können. Eine Google-Recherche am Tag des Angriffs zeigte, dass tausende WordPress-Weblogs in aller Welt an diesem Tag auf die gleiche Weise von den gleichen Hackern übernommen worden sind. Google hatte die gefälschten Inhalte bereits indiziert. Und da Hacker auf spezifische Weise eitel sind, haben sie in den Hass-Seiten Fingerabdrücke hinterlassen, um ihren weltweiten »Erfolg« auch belegen zu können.

Jetzt sind hier die Schotten dicht, nun ja, nach aktuellem Kenntnisstand. Besucher aus Malaysia müssen ab sofort übrigens draußen bleiben. Sorry, aber wenn die entsprechenden Provider auf Meldungen über Hacker-Angriffe via IP-Adressen aus ihren Pools nicht einmal reagieren, geschweige denn Maßnahmen ergreifen, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als die Rote Karte zu ziehen.

Montag, 28. Mai 2012

Die Gedanken eines ganzen Tages aufzuschreiben, auch die Eindrücke, angefangen mit den optischen Sensationen einer moosbewachsenen Mauern, bis hin zu den Falten der Menschen, die mir auf den Straßen entgegen liefen; jede Gefühlsregung, von dem unkonkreten Dunst des erwachenden Ichs am Morgen, bis hin zu dem unwesentlichen Panikanfall am Seeufer, weil ein leichter aber unmittelbarer Schmerz vom Solarplexus aus die untersten Rippen entlang fuhr; jeden noch so kleinsten Gedanken – zum Beispiel den, dass Christoph Schlingensief bald vergessen sein wird, vergessener noch als die zahllosen Schriftsteller, deren vergilbte und angeschlagenen Bücher man in den Grabbelkisten der Flohmärkte finden kann (habe ich diesen Namen schon einmal gelesen? A.J. Cronin? Ach, ja, der stand bei meiner Mutter im Bücherregal, in den siebziger Jahren, und ich habe demletzt auch wieder seinen Namen gelesen, in der Bestsellerliste eines Spiegel-Heftes, das mir zusammen mit anderen von einer Nachbarin geschenkt wurde, weil sie wusste, dass ich diese Hefte gerne zur Recherche für meinen Roman nutze; sie hatte sie auf dem Speicher ihres verstorbenen Vaters gefunden, so sagte sie, aber die Hefte stanken alle nach dem Moder eines Kellers, und so lagere ich sie seither auf dem Balkon, blättere ab und an eines durch, staune über die Jugendbildnisse so manchen Schriftstellers, lese die Bestsellerliste und stelle fest, dass auch vor dreißig, vierzig Jahren vor allem Schund gekauft wurde, sitze auf dem Balkon, trinke ein Glas Wein, rauche eine Zigarette und denke nach, versuche das Denken zu beobachten, nehme mir vor, später am Schreibtisch diesen Gedanken noch einmal nachzuhängen, denke an all die Einzelheiten, die Sensationen des Tages, vergesse sie wieder, schlage das Heft zu), will also die Gedanken eines einzigen Tages aufschreiben, zum Beispiel, dass mir wieder der Tod durch den Kopf gegangen ist (nein, nicht dass ich an den Tod gedacht habe, sondern dass er mir durch den Kopf gegangen ist, mit seinen schweren Stiefeln, in dem Moment, als mich dieser fremde Schmerz anfiel, der vom Solarplexus aus… und die Panik, eine leichte Panik nur, die ich schon so genau kenne, wie einen alten Freund, ohne dass wir je Freunde geworden wären, die Panik und ich, die einfach nur mein strenger Begleiter ist), all diese Gedanken also fassen zu können, das wäre ein Kunstwerk, das wäre Leben.
 
Stattdessen hechele ich ihnen hinterher, ein dünner ausgetrockneter Hund, auf den Pfaden, auf den Fäden der Zeit, der Nornen. Ich spinne ja nur, und wickele doch nur die Gedanken des Momentes auf, der jetzt, ich weiß es ja schon, vorbei ist, und nur eine Spur, eine Fährte von Pan hinterlässt.
 
Dabei war der Tag sehr schon, wenn auch der Körper die meiste Zeit nicht fröhlich sein wollte, der Geist war es schon, als ich mit meiner Familie am Schlachtensee war, meinen Sohn beobachtete, der in einer kleinen, kühlen Bucht baden ging, mit seiner Schaufel Schlick aus dem Wasser schippte, dessen Schwimmflügel orangefarben leuchteten vor dem glitzernden Wasser des Sees, auf dem die Ruderboote entlang trieben, oder mit in die Wasseroberfläche einschneidenden Rudern voran getrieben wurden (die aufstiebenden Wassertropfen, die Sonne halb hinter den Wolken, das andere Ufer mit den winzigen Badegästen). Was dachte ich da? Ich habe es schon wieder vergessen, in Erinnerung bleibt mir immer nur das Bild, manchmal auch Geräusche, niemals aber was in meinem Kopf vor sich hin redete. Vielleicht dachte ich ja nichts, vielleicht war ich ja glücklich?
 
Später dann, kurz nach der Mittagszeit (und wo hört der Mittag auf, fängt der Nachmittag an? – Darüber dachte ich gestern nach, schaute auch im Internet nach, doch nicht einmal Wikipedea konnte mir präzise Auskunft geben), gegen 14 Uhr also gingen wir zum Bootshaus und liehen uns ein Ruderboot (No. 35 für 4 Personen, so stand es auf dem Bug). Und dann ruderte ich hinaus, ließ die Ruder in die Wasseroberfläche schnellen, betrachtete die stiebenden Wassertropfen, schaute die Beine meiner Frau an, die vor mir saß, neben sich das Kind, das die kleine Hand durchs Wasser gleiten ließ, wie ich es auch gemacht hatte, als ich ein Kind war, und als mein Vater gerudert hatte (ist es wirklich mein Vater gewesen? Ist das eine falsche Erinnerung? – Ich weiß, dass ich die Hand durchs Wasser gleiten, und ich nehme an, dass es mein Vater war, der die Wassertropfen aufstieben ließ, aber sicher bin ich mir nicht).
 
Ich fühlte mich leicht, kein Schmerz mehr, keine Beunruhigung, nur ein Gleiten durch das Wasser, vorbei an anderen Ruderbooten mit lachenden Menschen, ab und an die Köpfe einiger Schwimmer, die ein bisschen wie die Köpfe in dem Stahlstich von Doré aussahen; der Stich, der die Eisfläche der Hölle zeigt, mit den eingefrorenen Menschen, deren Köpfe über das Eisschild hinausragen. Die Hölle also, in meinen Gedanken, aber gezähmt durch Kunst, und hier draußen ist der See, das Boot, meine Familie, die Sonne. Kaum ein Gedanke. Ich zeige auf die Uferböschung, auf die kleine Bucht, in der jetzt andere Kinder baden, und sage:
 
„Schau mal, Tristan, da waren wir vorhin“. Und Tristan schaut zweifelnd und sagt: „Wo?“
 
Und ich strecke die Hand, den Zeigefinger zur Bucht hin und sage „Da. Dort sind wir gewesen.“
 
Und sage zu mir, denke mir, lasse es in mir denken: Dort sind wir gewesen, dort habe ich etwas gedacht, aber jetzt nicht mehr, jetzt bin ich hier und denke etwas anderes, aber auch das kann ich nicht mehr erinnern, denn jetzt sitze ich hier, an meinem Sekretär aus den sechziger Jahren (einen ähnlichen hatte ich schon einmal, in den Achtzigern, und auch an ihm habe ich gerne geschrieben), sitze hier und schreibe, denke schon wieder mich fort aus meinen Gedanken.
 
Die Erinnerung ist das einzige was wir haben, das einzige was andauert. (Und natürlich habe ich auf dem See zuerst an die Bilder von Monet und Renoir gedacht, die sie malten im späten 19ten Jahrhundert, als sie, die Freunde, zusammen mit ihren Frauen – und vielleicht auch mit ihren Kindern – einen Ausflug machten, zu einem See; dort eine Bootsfahrt unternahmen, später sich und die Boote malten – ein glücklicher Tag. Heute sind die Bilder getrennt, hängen in verschiedenen Museen, waren aber wohl einmal in einer Ausstellung wieder Seite an Seite gehängt. – Und auch Renoir und Monet schon lange tot, aber immerhin nicht vergessen, wenn auch niemand mehr den Klang ihrer Stimmen beschreiben könnte, die Farbe ihrer Augen, die Wege und Pfade ihrer Gedanken).
 
Und leichten Heuschnupfen hatte ich auch. Und das Rumpeln der S-Bahn-Räder war zu hören. Und eine blau schimmernde Libelle schwebte über dem Wasser, ein winzig kleiner Polizeihubschrauber.

Monet
 
Renoir
 

 

Kurztitel & Kontexte bis 2012-05-13

Belgisch-rheinische Sprachforschung

In Belgien scheinen alle beachtlichen, aufsehenerregenden Dinge wie nebenbei zu geschehen. Mitte der 90er, als sich kuriose (und meist schauerliche) Meldungen aus Belgien häuften, begannen wir, die entsprechenden Zeitungsausschnitte zu sammeln, die sich bald zu einem sehr speziellen Gruselordner fügten. So berichtete, mitten in der Klon-Debatte, die an Tieren wie dem Schaf Dolly sich entfachte und mit der Angst hantierte, daß bald auch Menschen geklont werden könnten, der Express davon, daß letzteres bereits geschehen sei, und zwar versehentlich in Belgien. Den Artikel schmückten Bilder zweier Lütticher Wissenschaftlerinnen, die freimütig über ihr Laborversehen plauderten. Die Geschichte fiel danach flugs unter den Tisch – ob in Belgien heute tatsächlich geklonte Jugendliche unterwegs sind: darüber läßt sich nur spekulieren. Ein anderer Bericht (ebenfalls aus dem Express) handelte von einer kleinen Gruppe enthusiastischer junger Belgier, welche sich die Love Parade zum Vorbild genommen hatten und auf der heftig beschallten Ladefläche eines (einzigen) LKWs tanzend durch Brüssel düsten, bis ihnen bei einer zufälligen Tunneldurchfahrt aufgrund der niedrigen Bauweise derselben die Köpfe abgetrennt wurden. Unser Interesse an Meldungen aus Belgien flachte um die Jahrtausendwende zugunsten rheinischer Vorkommnisse ab, welche sich jedoch gelegentlich nicht ganz voneinander trennen lassen. Im Folgenden geben wir einen Bericht des belgischen Publikationsorgans de redactie vom 21. Februar 2012 wider, der sich mit einem der letzten Rätsel der niederländischen Sprachwissenschaft befaßt hat – und wieder von einem Zufall gesteuert wurde. Es geht um die etymologische Abstammung des Wortes „fiets“ (dt: Fahrrad): „Gunnar de Boel, Professor für vergleichende Sprachwissenschaft an der Genter Universität, kippte mit einem deutschen Freund aus dem “südlichen Rheinland” zusammen Apfelwein. Im Gespräch nannten sie das Getränk „Viez“ (ein uns bekannter saarländischer Begriff für den Most, Anm. rheinsein): „Vize-Wein“ sozusagen, befanden die Trinker, bzw: Weinersatz. De Boel stellte dabei die Verbindung zum niederländischen Wort „fiets“ her und vertiefte die Hypothese gemeinsam mit seinem Kollegen Luc de Grauwe: im Deutschen sei das neuartige (in seiner Urform, der Draisine, am Rhein erfundene, Anm. rheinsein) Fahrrad laut der bahnbrechenden Theorie seinerzeit „Vize-Pferd“ (also: „Zweiterklasse-Pferd“, „Ersatz-Pferd“) genannt und später mit „Viez“ abgekürzt worden, ganz so wie „Automobil“ später zu „Auto“ wurde. Das Wort müsse dann nach Belgien und in die Niederlande geschwappt sein. 1870 sei „fiets“ zum ersten Mal im Niederländischen aufgetaucht, seit 1886 aber stritten sich die Sprachkundigen über dessen Herkunft, ohne eine angemessene Theorie hervorgebracht zu haben – was nun endlich der Vergangenheit angehöre.“
(Wenn wir an dieser fantastischen Hypothese etwas zu bemängeln haben, dann allenfalls, daß der erhellenden Kraft des Apfelmosts in der Berichterstattung deutlich zu wenig Referenz erwiesen wird. Desweiteren hätten wir eine eigene Schnelletymologie in die Debatte zu werfen, eine Idee, die uns auf gleichsam belgische Weise während einer Trance zufiel: könnte sich aus dem weithin bekannten Urbegriff “Vize-Pferd” nicht direkt das Wort “Fahrrad” entwickelt haben? Man achte nur auf den jeweils gemeinsamen An- (V gesprochen wie F) und Ablaut (d). Nein? Aber dann gewiß doch der Begriff Veloziped (Pääd: rheinisch für Pferd, Velozi enthält dieselben Buchstaben wie Vize). Und jetzt belegen Sie mal, wie Sie vor rheinsein auf diesen sensationellen sprachwissenschaftlichen Zusammenhang gekommen sind!)

die gewitterziege (tierische komposita #1)

mit fest in den boden gestemmten beinen, steht sie vorm waldsaum auf der wiese. ihr fell ist weiß. ihre hörner sind spitz. zwischen ihnen tobt ein funken, ein feiner, heftiger funken, immer hin und her. die kleine gewitterziege vibriert konzentriert und wie aufgespannt. mit den vorderbeinen stampft sie ins gras, ein einziges mal, schlägt zweimal mit den hinterbeinen aus: weit über den spitzen der lärchen, der buchen fährt ein licht durch den himmel. dann noch eins und wieder eins, in zacken aus weiß. beiläufig sieht das tier zum zenit, wo es grollt und donnert. der wind fegt vom wald her über die wiese, dass der mickrige borstenbart krummsteht im sturm. endlich ein kurzes meckern. dann entspannt sich, beim ersten regentropfen, ihr leib, und sie trollt sich zur herde von schafen, unter denen sie, zu gewöhnlichen zeiten, beinahe unerkannt lebt.