Archiv der Kategorie: Ausgabe 03/2009

frosch (für martin)

nachts im wald einen frosch getroffen. ihn nicht als das erkannt, was er war, alldieweil er völlig bewegungslos auf dem weg vor mir saß. in der dunkelheit angenommen, er sei ein mittelgroßes platanenblatt, obwohl, was mir später erst einfiel, nur buchen, birken und kiefern dort wachsen. gemächlich weitergegangen. mich dann zu tode erschreckt, als er, nur bruchteile von sekunden bevor mein stiefel ihn zerquetscht hätte, in größter eleganz und gelassenheit schräg an mir vorbeihüpfte und im noch dunkleren unterholz verschwand. wirklichkeiten, zwei: mühelos ineinandergeschmiegt.

Inhalt 03/2009

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2009 erschien am 15. Oktober 2009.


In dieser Ausgabe:
Geräusche und Lautschriften, Siebzigerjahretapeten und Wirtschaftswunder, Pablo Neruda und Clarice Lispector, Opferlämmer und Pusteblumen, Heiner Müller und die Ordnung als Ornament, die Kunst der Windturbine, ein Kaleidoskop wirrer Gedanken, Seehunde und Spiegeleier, Erving Goffman, Franz Berger und Sigmund Freud, Novalis und Hexameter, Zunge, Hals und Mund, Fichten, Buchen, Eiben, Birken und Kiefern uvm.

INHALT:

gib mir dein wort (u.a.)

1 gib mir dein wort …

gib mir dein wort
es zu brechen

brotblicke
wo’s nicht zu
halten war

auf den
zersprochenen
teller

2 da wo endet …

da wo endet
vogelspur
gesungen
für und für
im schritt
im tritt
und wo
dein schrei
da wohnet dann

die zung’
zung’ dir
aus hals
und mund

& herzenfern

3 firn denn und …

firn denn und
den daunen
umgetraut

kiss me kate
daus all die
unbehaust

wespen ge-
harmt er trau-
ert am arm

rot stecket
tief das aug’
in dem fleck

sonne das
fenster und
da auch hin-

aus

Gedicht des Tages – Werner Dürrson

Viele seiner Gedichte waren federleicht, dabei beherrschte er den Kanon der Formen wie kaum ein zweiter Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2006, an Ostern, entstand ein solches federleichtes Gedicht, und ich freue mich sehr, dass mir die Erben dieses zur Erstveröffentlichung überlassen haben. Werner Dürrson würde morgen, am 12. September, seinen 77. Geburtstag feiern. Er starb im vergangenen Jahr am 17. April. Vielen Dank, liebe Angelika Eichhorn.

Unter Bäumen

Tröstlich die Fichten.
In ihrem Lidschatten zu
ichten, zu dichten

/

Anders die Buchen
blaudurchleuchteter Wald: wie
da Wörter suchen –

/

Im Park die Eiben
lassen mir Zeit, Verse um-
und umzuschreiben

/

Unter der Eiche
ein Gedankenblitz, den ich
fasse, dann streiche

/

Die echten Tannen
windverschwistert, schicken mich
schweigsam von dannen

/

Unter den Linden:
wie bei soviel Blätterschwall
noch Worte finden –

/

Am Fluß die Erlen
ließen zu guter Stunde
die Zeilen perlen

/

Holunder im Mai:
Zur Stunde des Strauchelns ein
Verszeilenwunder

/

Am Apfelbaum kaum,
auch am Birn-, am Kirschbaum nicht
gedeiht mein Gedicht

/

Schrieb A-Horn, B-Horn,
C-Horn, suchte nach Deinem,
triebs wieder von vorn

/

Daß ich die Weide
meide, wen wunderts, wenn ich
ohne sie leide –

/

Höre mich, Föhre:
Als harzige Kiefer reimt
sich`s tiefer, schiefer

/

Ach der Wacholder!
Stichhaltiges Wort macht das
Haiku nicht holder

/

Jaja, die Espe
alias Zwitterpappel,
mir fremd, die Lesbe

/

Frankreichs Platanen
wie´s im Herbst ihre Blätter
treiben, beschreiben

/

Sterbende Ulme,
wie fang ich dich auf mit wurm-
stichigen Silben –

/

Tut mir leid, lichte
Birke, wenn ich für dich kein
Dunkel bewirke

/

Was soll mir, kühle
Akazie, sag, deine
Pseudo-Grazie

/

Am Bach, ihr Eschen
Wolframs. Vielblättrig auch ich.
Wortdreschen im Wind.

/

Lärche, verballhornt
meinem Tirili lausche,
genannt Poesie

/

Nicht jeder Zeder
entlocke ich Daktylen
(eigentlich keiner)

/

Doch Roms Pinien-
hochmut ließ mich (vorüber-
gehend) verstummen

/

Unvergessen vor
Arles das Windharfenspiel van
Goghscher Zypressen

Website Werner Dürrson
Weiteres Gedicht des Tages – Werner Dürrson

Bamberger Elegien. Anmerkung zur „Fünften Fassung“.

Bamberger Elegien (112). Anmerkung zu den neuen Fassungen ab September 2009 („Fünfte Fassung“).

[Scelsi, Maknongan.]

Auf die Idee brachte mich Αναδυομένη, >>>> als ich ihr vorlas (15.05 Uhr im Link). „Das ist wie Prosa“, sagte sie, „aber es ist auch n i c h t wie Prosa, etwas irgendwie dazwischen ist es.“ In dem Moment wurde mir klar, daß ich die Zeilenbrüche wegnehmen und die Elegien wie Prosastücke durcharbeiten muß. Dann geschieht nämlich das, was ich mir eigentlich oft auch so vorgestellt hatte: der Hexameter bleibt als durchlaufender Grundbaß erhalten, aber drängt sich nicht mehr so vor, wie wenn man die Elegien in Zeilenbrüche setzt. Vielmehr schwingt der „Prosa“text hexametrisch. Ich merke zugleich, daß mich das Verfahren sehr sensibilisiert; wo ich vorher geneigt oder gezwungen war, der Regel halber Füllwörter einzufügen, nehme ich sie jetzt weg und mache die entstehenden Brüche vermittels anderer Einfügungen und Streichungen geschmeidig; aber nicht nur formal, auch expressiv und in der Wort- und Bildwahl werde ich heikler; heikel genug war ich zwar eh, aber indem ich es nun nicht mehr mit einem Korsett aus Fischgräten, sondern aus feinsten, sagen wir, Fiberglasstäben zu tun habe, kann ich „freier“ modulieren. Was das dann schließlich werden wird, formal, ist mir unklar, irgend etwas in Richtung Novalis, Hymnen an die Nacht, in Richtung Rimbeau, Un saison en enfer, in Richtung ich weiß nicht.
Ein Stichwort ist „Schlichtheit“; der Zeilenbruch erhöht die Verse, die Prosafassung nimmt die Erhöhung in ein scheinbar Sachliches zurück, das das Pathos viel besser trägt, spüre ich. Dennoch stelle ich mir jetzt vor, daß ich die Elegien, sollten sie unwahrscheinlicherweise doch einmal als Buch erscheinen („kein Mensch druckt dir das“, denke ich ständig), schmaler setzen lassen will als eine narrative Prosa, mit breitem linken Rand; so etwas steuert die Leseerwartung. Auch will ich nicht mehr „die erste Elegie“, „die zweite Elegie“ usw. über die einzelnen Texte schreiben, sondern sie einfach durchnummerieren, vielleicht sogar ohne neue Seitenumbrüche zum je nächsten Gedicht, sondern wie Romankapitel. Das wird das Buch schmaler machen, bzw. ein Format erlauben, daß man es sich in die Jackentasche stecken kann – so, wie >>>> Cellini sich das in der noch frühen Entwicklungsphasen dieser Gedichte vorgestellt und gewünscht hat, was wiederum beim langzeiligen Hexameter buchtechnisch nicht darstellbar gewesen wäre.
Seltsam übrigens. Als ich die Elegien begann, waren sie als Fingerübung für den noch zu schreibenden Epilog von >>>> Anderswelt III gedacht, der im Hexameter stehen soll, aber ohne daß man das am Zeilenbruch sieht, also als Prosa. Jetzt komme ich mit den Elegien genau dort an, wo ich mit Anderswelt „landen“ wollte. Die Lösung hab ich also alle Zeit schon in mir rumgeschleppt und den ganzen Wald vor Bäumen nicht gesehen. Das ist nicht ohne Komik, vor allem, wenn man bedenkt, daß so gut wie alle meine Gedichte seit Juli 2006 von den Elegien ihren Ausgang nahmen und dann offenbar rückwirkend die Elegien beeinflußten.

>>>> BE 113
BE 111 <<<<

radio bemba

Oh, es wäre gut, sich an einem Meer niederzulassen, gleich neben den Kindergärten der lilafarbenen Seehunde. Am besten wäre eine Küste mit einem brandgefährlichen vorgelagerten Riff, das nur die wetterversehrtesten Kapitäne überwinden könnten. Und wer tatsächlich in der Bucht dann ankern würde, lebendig und unter verwundertem Gelächter, wäre selten, wenn nicht einzig, und meinte es wirklich dunkelbierernst. Im Rücken hätte man baumverstandene Wälder mit Bartflechten, Felsen mit Guano vollgeschissen, und vielleicht (aber das wäre die Deluxe-Version!) ein zahmes Aktivvulkänchen, auf dem man Spiegeleier braten könnte. Es wäre ein behördenloser Ort. Man dürfte flugunfähige Reptilien jagen und die Latrine grün streichen, ohne eine Bewilligung einholen zu müssen. Überhaupt wäre man von allem reregistriert, ein christliches Begräbnis alles andere als garantiert (ohnehin ein Affront, das! – nicht das Begräbnis an sich, sondern die Garantie desselben). Vielleicht würden schon noch irgendwo andere Menschen wohnen, man wüsste es jedoch nicht so genau (sie wären sehr artuntypisch, ganz entsetzlich eigenartig). Aus dem Funkgerät- manchmal, bestenfalls – würde radio bemba bröseln, damit es nicht so still wäre beim Abendfleisch. Es gäbe eine ständige diffuse Bedrohung aus dem unbeforschten Hinterland, ohne dass man je etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte, ausser dieser tumorösen Beklemmung eben, die einen wach hielte, ohne den Schlaf zu rauben. Man hätte ja eine Wachtrute mit wucherndem Halsplempel aufgestellt. Und der überträchtige Nebel! Man müsste sich ein klein bisschen am Riemen reissen, um dem Tagwerk mutig nachzugehn. Die Drübenwesen würden auferstehen, wegen der Emailleschüssel Affirmation, die man jeden Abend neben der Schwelle für sie hinstellte; jeden Morgen fände man sie blankgeleckt! Und das da capo: die zerdepperten Geisterschiffe am Riff. Das Wracktauchen wäre aber dann doch einen Zacken zu gefährlich; das würde zuverlässig für das Quentchen Melancholie sorgen, das man benötigt, um weiterzuatmen allezeit; so lange Zeit halt, wie einem zugeteilt.

in erwartung

meer

es ist ganz still, das meer, der wind und alle tiere und menschen scheinen den atem anzuhalten, alle sind in erwartung, der kunst werde in den nächsten tagen die insel besuchen. da wir volanterinnen noch nie von der kunst gehört haben, gibt es die verschiedensten vorstellungen, was der kunst für ein wesen sein könnte. ist er etwa eines, das die fische zurück zur insel bringt, oder hat es die perfekte windturbine entwickelt? einige vermuten, es sei ein begnadeter koch und jemand sagte, vermutlich sei es ein eremit. das einzige was klar zu sein scheint: dass der kunst eine sprache spricht, die auf der isla volante nimand spricht und versteht.

dich loben dich lieben

für lilly

dich loben über wiesen grünen klees
will ich dich, doch noch mehr auf diesen lieben.
mit dir im weichen moos des sommerschnees
der pusteblumen, die du hauchst, ach, liegen.

mich tief mit dir in duft’ge erde graben,
und schau’n zugleich nach oben, himmelwärts,
wo uns die nächte helle lichter gaben,
und ich dir schenk‘ die sterne und den schmerz.

wir schweigen, lassen uns’re blicke sprechen
auch dies gedicht, ein flüsterlob der liebe,
bevor wir uns einander doch erfrechen,

den tau der lieb‘ in unser gras zu gießen –
als opferlämmer solcher lieb‘ die diebe,
die götter lächelnd ungestraft beließen.

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Die verbrannte Hand

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Clarice Lispector
Clarice Lispector (1920-1977)

Clarice Lispector, grande dame der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts, muss ein schwieriger Charakter gewesen sein. Keine ihrer Freundschaften hielt lange, niemand hielt es auf Dauer in ihrer Nähe aus. Sie galt als unberechenbar, und mit der Wahrheit nahm sie es nicht sehr genau. Mal erzählte sie eine Geschichte so, dann wieder anders. Und wenn man glaubte, den Schleier endlich gelüftet und eine ihrer Unwahrheiten zweifelsfrei entlarvt zu haben, sah man sich nur von einer weiteren Finte hinters Licht geführt. Zudem interessierte sie sich sehr fürs Okkulte und umgab sich Zeit ihres Lebens mit Kartenlegern und Wahrsagern, weshalb sie auch gelegentlich »die Große Hexe der brasilianischen Literatur« genannt wurde. Eines Nachts hatte sie sich mit einer brennenden Zigarette ins Bett gelegt und war kurz darauf in einer Feuerhölle erwacht. Sie konnte sich retten, zog sich aber schwere Verbrennungen an ihrer Hand zu, die sie fortan wie eine schwarze Klaue vor sich hertrug.

Auch wenn es privat nicht so gut lief, beruflich blieb ihr kein Erfolg verwehrt. Ihre Romane wurden von der Kritik als literarische Sensationen gefeiert, und als Kolumnistin des »Jornal do Brasil« erfreute sie sich auch im Volk einer breiten Akzeptanz. Für ihre Kolumne pflegte sie große Namen der zeitgenössischen Kunst zu interviewen. Allen stellte sie dieselben Fragen. »Was ist Liebe?« fragte sie zum Beispiel. Oder: »Was ist das Wichtigste in deinem Leben?« Auf solch Plattheiten fiel nicht einmal Pablo Neruda eine originelle Antwort ein, selbst dann nicht, als Lispector explizit um Originalität bat. Vielleicht war es ihre Schönheit, die diese großen Dichter mundtot machte, vielleicht aber auch das Wissen darum, dass vor ihnen eine Frau stand, die ihnen in ihrem Metier in nichts nachstand. Sie sah aus wie Marlene Dietrich und schrieb wie Virginia Woolf.

Einer der wenigen, die sich von ihr nicht einschüchtern ließen, war der Dichter und Musiker Vinícius de Moraes. Hier ein Auszug des Interviews, das Clarice Lispector mit ihm führte:

Lispector: Vinícius, lass uns über Frauen sprechen, und über Poesie und Musik. Über Frauen, weil ich gehört habe, du seist ein großer Liebhaber. Über Poesie, weil du einer unserer großen Dichter bist. Und über Musik, weil du unser Hofsänger bist. Vinícius, hast du in deinem Leben schon jemanden wirklich geliebt? Ich habe eine der Frauen angerufen, mit der du verheiratet warst, und sie sagte mir, dass du alles liebst und dich allem mit allem hingibst: den Kindern, den Frauen, den Freundschaften. Da dachte ich, dass du die Liebe liebst.

Moraes: Dass ich die Liebe liebe, das ist wahr. Ich liebe diese Liebe, aber das heißt nicht, dass ich die Frauen, die ich hatte, nicht geliebt hätte.

Lispector: Ich glaube dir, Vinícius. Ich glaube dir wirklich. Obwohl ich auch glaube, dass wenn ein Mann und eine Frau sich in wirklicher Liebe begegnen – nun, zwei Menschen sind nicht für alle Ewigkeiten dieselben und so ist es möglich, dass dasselbe Paar immer wieder neue Lieben leben kann.

Moraes: Selbstverständlich. Aber ich glaube auch, dass jene Liebe, die für die Ewigkeit erschafft, die Liebe der Leidenschaft ist. Diese Liebe ist die einzige, die diese Dimension der Ewigkeit besitzt.

Lispector: Hast du schon auf diese Art geliebt?

Moraes: Ich habe nur auf diese Art geliebt.

Lispector: Beendest du eine Affäre, weil du einer anderen Frau begegnest oder weil du der ersten müde wirst?

Moraes: In meinem Leben war es so, als hätte mich die eine Frau in die Arme der nächsten gelegt.

Lispector: Reden wir über deine Musik.

Moraes: Ich rede von mir nicht als Musiker, sondern als Dichter. Ich mache keinen Unterschied zwischen der Dichtung in meinen Büchern und jener in meinen Liedern.

Lispector: Vinícius, hast du dich schon einmal einsam gefühlt?

Moraes: Ich glaube, dass ich ein einsamer Mann bin.

Lispector: Das würde erklären, weshalb du so sehr liebst, Vinícius. Jetzt bitte ich dich, ein bisschen nachzudenken und mir zu sagen, was für dich das Wichtigste ist auf dieser Welt, Vinícius.

Moraes: Für mich ist es die Frau, ganz ohne Zweifel.

Lispector: Willst du über deine Musik sprechen? Ich warte.

Clarice wartet. Vinícius schweigt, den Blick gesenkt. Endlich schaut er auf, blickt sie an und sagt: Ich empfinde so viel Zärtlichkeit für deine verbrannte Hand…