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Inhalt 01/2012

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2012 erschien am 17. April 2012.


In dieser Ausgabe:
Vorbehaltflächen und Dunkelstromschiffe, Arthur Schnitzlers „Der Schleier der Pierrette“, die Wärme möglicher Briefe, die etymologische Abstammung des Wortes „fiets“, die Verfallsgeschichte der Systeme, der Central Park zur Mittagszeit, harter Gummi und lostuckernde Boote, ein Leipziger Buchmesse-Rückblick, Überwundenes und Übermaltes, Alabasterdöschen und Hefeteig, eine Herde von Schafen, ein Dramolett der Traum-Haus-Frauen, funktionierendes Leben, Rohms Blutbild, ein Vorstellungstermin in einem alten Wuppertaler Gewerbegebiet, eine Klangfuge ohne bestimmbare Folge, errötende Mädchen, Ausnüchterungszellen, schwingende Texte uvm.

INHALT:

Wolfram Malte Fues in Karlsruhe

Gestern Abend las Wolfram Malte Fues in der Karlsruher Galerie Knecht und Burster anläßlich der ART Karlsruhe. Die Karlsruher Künstlerin Franziska Schemel hat Fues‘ aktuellen Gedichtband „dual digital“ illustriert, die Orginale waren in der Galerie zu sehen. Hier meine Einführung zur Lesung des Kollegen. Im Anschluss gab es eine lebhafte und interessante Diskussion:

„Liebe Franziska Schemel, lieber Wolfram Malte Fues, lieber Alfred Knecht, verehrte Damen und Herren.

Wir befinden uns heute Abend in einer Galerie. Es bietet sich also an, über Bilder zu sprechen. Ich erinnere mich lebhaft an eine Episode aus meinem früheren Berufsleben als ich Besucherbefragungen in Museen machte. Wir machten Interviews in einem der wichtigsten Kunstmuseen der Welt, das sich hier in Karlsruhe befindet, mit drei Buchstaben abgekürzt wird und heute immer noch regelmäßig zum Gespött von Museumsdidakten wird. Ein gestandener Kunsthistoriker, Professor aus Gießen, verweilte lange vor einem Medienkunstwerk und wurde von uns gefragt, was denn wohl das Kunstwerk bedeute, wie er es denn verstehe. Er konnte aus dem Stegreif keinen sinnvollen Satz über das Kunstwerk äußern.
Viele Vertreter der jüngsten Generation zeitgenössischer Lyriker wollen überhaupt nicht verstanden werden. Gedichte hätten überhaupt keine Bedeutung, es gäbe keinerlei, aber absolut überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, was freilich eine alte Erkenntnis ist. Vergessen Sie also Interpretationen, vergessen Sie Bedeutungen, wenn sie die Bilder von Franziska Schemel sehen, wenn sie gleich die Gedichte von Wolfram Malte Fues hören werden.

„Man muss es bei Erhellungsgesten belassen“, schrieb ein Kritiker über Fues‘ Gedichte, und: „ihre Rätselhaftigkeit ist nicht die der notorischen hermetischen Knacknuss, vielleicht aber, wo ein archimedisch verbindliches Geheimnis der Welt nicht mehr auszumachen ist, die des Nussknackers.“
Ich empfehle, die Nuss erst gar nicht knacken zu wollen, sondern von Außen an ihr zu schnuppern, ihre Schale zu erspüren, sie zu schütteln. Sie werden die Nuss nicht knacken, ihren Inhalt nicht schmecken und auch nicht hinunterschlucken und verdauen, Sie werden aber überdeutlich spüren und fühlen, dass Sie es mit einer Nuss zu tun haben.
Nehmen wir das Gedicht „Dieser nur vor-/ fallende Schnee“ aus dem neuen Band von Wolfram Malte Fues. Wir lesen oder hören Vokabeln wie „zweihellig“ und „Herbststraßenkehrricht“ oder aber Satzfragmente wie „taut/ schmutzlos zurück in die Luft“, hören „über die Freuden der Schollen-Verschiebung/ Botenstoff, Stoffwechsel, Speichel-Flüsse/ diese Art Schnee/ nimmt Halbwertzeichen in Zähnung.“
Am Ende des Gedichts spüren Sie ihn überdeutlich in ihrem Kopf, den Schnee, ohne die gefrorene Substanz vor sich zu haben. Sie haben aber noch viel mehr gelesen und gehört, so vieles Neues ist angeklungen, vorbeigehuscht, Wörter, die Sie verstanden haben und Wörter, die Sie nicht verstanden haben. „Verstanden“ in Anführungszeichen.“
Ich möchte Ihnen einen kurzen Abschnitt aus einem Aufsatz von Wolfram Malte Fues zitieren, der in diesem Zusammenhang seine Poetologie erläutert, ein Text-Stück, das offenbart, wie Fues seine Gedichte als zeitgenössische Texte verortet. Es sind Fragen, die der Autor stellt.
„Wenn es auf dem Markt für Sinngebungs-Ware keinem Angebot mehr gelingt, Konkurrenz-Produkte zu vertreiben oder auch nur zu verknappen, so daß, was es auch bietet, andere mitbieten, sich, unter- oder überbietend an und mit ihm zu messen? Wenn der neuen Erhältlichkeit der New Economy die neue Disponierbarkeit eines New Discourse entspricht, in dem die aus der Erinnerung aufleuchtende Bedeutung den gesamten Handelsplatz Sinnvermittlung stroboskopisch illuminiert und es keine Stimme gibt, die nicht andere Stimmen auf den Plan riefe?“

Wolfram Malte Fues wurde 1944 geboren. Er lehrt als Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Universität Basel, hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen vorgelegt und mit „dual digital“ seinen vierten Gedichtband.
Immer deutlicher wird im Verlauf der vier Bände die eigenständige Stimme von Wolfram Malte Fues, seine vielen Neo-Logismen und montierten oder sinnverschobenen Begriffe wie „Zündschaltuhr“, „Vorbehaltfläche“, „Dunkelstromschiff“, „Hochquappenjagd“, die hier unbedingt erwähnt werden müssen. Der Verfasser des Nachwortes von „dual digital“, Ulrich Johannes Beil, fragt zurecht: „Wo träfe man den ‚Dracula‘, der sich bereit erklärte, dem ‚Christkind / die Wimpern‘ zu ’stutzen‘?“
Lassen Sie mich zuletzt noch einen Kritiker zitieren, nämlich Jürgen Engler, der nicht nur auf die „Poetik des Hör- bzw. Schreibfehlers“ aus der surrealistischen écriture automatique hinweist und der damit verbundenen Ironie sowie dem Humor in Fues‘ Texten. Engler schreibt weiter: „Gedichte sind Versuchsabläufe und Protokollstrecken“, ein Gedicht sei ein „Chip mit hoher Informationsdichte.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Wolfram Malte Fues wird nun einige seiner Gedichte lesen, dann werde ich mit ihm über die Texte sprechen, bevor er in einem zweiten Leseblock weitere Gedichte liest. Autor und Moderator legen großen Wert darauf, nicht ganz allein miteinander plaudern zu müssen, wir würden vielmehr auch gerne wissen, was Sie wissen möchten.

Zunächst lassen Sie sich aber hineinziehen in den „Strudel und Wirbel in den Texten, die mehr durch Gedankensprünge als durch Gedankengänge, mehr durch Bildsprünge als durch Bildfolgen charakterisiert sind.“ (Jürgen Engler)

ein Herz ist noch übrig vom Tag

findet da ein Kribbeln statt zwischen uns,
sag, sind wir Passanten
oder sprechen wir uns einen Schritt
nach vorn?
zwischen uns ist Wetter, schlohweiß
legt es sich über die Wärme
deiner möglichen Briefe.

Fußspuren einer Fotografie: dein Sepiablick,
deine ungekämmten Augen, grobkörniger Gruß
und Morgen: ein stumpfes Gefühl.

sag, sind wir Passanten?
deine Sternzeichen nehmen sich verdammt vage aus
und dein Lachen klingt irgendwie
ökumenisch.
einen Anfang vorausgesetzt –
wann werden wir Archivgeräusch sein?

Bilddank an sofarfromnowon.

Belgisch-rheinische Sprachforschung

In Belgien scheinen alle beachtlichen, aufsehenerregenden Dinge wie nebenbei zu geschehen. Mitte der 90er, als sich kuriose (und meist schauerliche) Meldungen aus Belgien häuften, begannen wir, die entsprechenden Zeitungsausschnitte zu sammeln, die sich bald zu einem sehr speziellen Gruselordner fügten. So berichtete, mitten in der Klon-Debatte, die an Tieren wie dem Schaf Dolly sich entfachte und mit der Angst hantierte, daß bald auch Menschen geklont werden könnten, der Express davon, daß letzteres bereits geschehen sei, und zwar versehentlich in Belgien. Den Artikel schmückten Bilder zweier Lütticher Wissenschaftlerinnen, die freimütig über ihr Laborversehen plauderten. Die Geschichte fiel danach flugs unter den Tisch – ob in Belgien heute tatsächlich geklonte Jugendliche unterwegs sind: darüber läßt sich nur spekulieren. Ein anderer Bericht (ebenfalls aus dem Express) handelte von einer kleinen Gruppe enthusiastischer junger Belgier, welche sich die Love Parade zum Vorbild genommen hatten und auf der heftig beschallten Ladefläche eines (einzigen) LKWs tanzend durch Brüssel düsten, bis ihnen bei einer zufälligen Tunneldurchfahrt aufgrund der niedrigen Bauweise derselben die Köpfe abgetrennt wurden. Unser Interesse an Meldungen aus Belgien flachte um die Jahrtausendwende zugunsten rheinischer Vorkommnisse ab, welche sich jedoch gelegentlich nicht ganz voneinander trennen lassen. Im Folgenden geben wir einen Bericht des belgischen Publikationsorgans de redactie vom 21. Februar 2012 wider, der sich mit einem der letzten Rätsel der niederländischen Sprachwissenschaft befaßt hat – und wieder von einem Zufall gesteuert wurde. Es geht um die etymologische Abstammung des Wortes „fiets“ (dt: Fahrrad): „Gunnar de Boel, Professor für vergleichende Sprachwissenschaft an der Genter Universität, kippte mit einem deutschen Freund aus dem “südlichen Rheinland” zusammen Apfelwein. Im Gespräch nannten sie das Getränk „Viez“ (ein uns bekannter saarländischer Begriff für den Most, Anm. rheinsein): „Vize-Wein“ sozusagen, befanden die Trinker, bzw: Weinersatz. De Boel stellte dabei die Verbindung zum niederländischen Wort „fiets“ her und vertiefte die Hypothese gemeinsam mit seinem Kollegen Luc de Grauwe: im Deutschen sei das neuartige (in seiner Urform, der Draisine, am Rhein erfundene, Anm. rheinsein) Fahrrad laut der bahnbrechenden Theorie seinerzeit „Vize-Pferd“ (also: „Zweiterklasse-Pferd“, „Ersatz-Pferd“) genannt und später mit „Viez“ abgekürzt worden, ganz so wie „Automobil“ später zu „Auto“ wurde. Das Wort müsse dann nach Belgien und in die Niederlande geschwappt sein. 1870 sei „fiets“ zum ersten Mal im Niederländischen aufgetaucht, seit 1886 aber stritten sich die Sprachkundigen über dessen Herkunft, ohne eine angemessene Theorie hervorgebracht zu haben – was nun endlich der Vergangenheit angehöre.“
(Wenn wir an dieser fantastischen Hypothese etwas zu bemängeln haben, dann allenfalls, daß der erhellenden Kraft des Apfelmosts in der Berichterstattung deutlich zu wenig Referenz erwiesen wird. Desweiteren hätten wir eine eigene Schnelletymologie in die Debatte zu werfen, eine Idee, die uns auf gleichsam belgische Weise während einer Trance zufiel: könnte sich aus dem weithin bekannten Urbegriff “Vize-Pferd” nicht direkt das Wort “Fahrrad” entwickelt haben? Man achte nur auf den jeweils gemeinsamen An- (V gesprochen wie F) und Ablaut (d). Nein? Aber dann gewiß doch der Begriff Veloziped (Pääd: rheinisch für Pferd, Velozi enthält dieselben Buchstaben wie Vize). Und jetzt belegen Sie mal, wie Sie vor rheinsein auf diesen sensationellen sprachwissenschaftlichen Zusammenhang gekommen sind!)

Jede Negation beginnt mit einer Bejahung der Zeit.

In uns tobt so vertraut die Angst, daß es uns gelang, den einst heiligen Wahn ins Fürchterliche, Kranke zu verschieben.

Verfallsgeschichte der Systeme: von Großgehegen zu Laufställen am Abgrund.

Das Helle zieht mich tiefer hinab.

Wie trunken, wie gierig malt uns das Lebendige die Wirklichkeit! Wie schematisch und routiniert skizziert der Realist das Leben.

Jede Negation beginnt mit einer Bejahung der Zeit.

Das Unmittelbare ist eine komplizierte fixe Idee.

central park : grammophon

16. Februar 2012

2

foxtrott : 0.15 – Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort groß zu ziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukeln. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich gerade eben noch in einem Cafe gehört hatte wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen Grammophon zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich werden könnte, sobald ich mich öffentlich kritisch fragend über Mohammed, den Propheten, äußern sollte. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Ich würde ihm vielleicht eine weitere jener Geschichten erzählen, die ich seit Wochen auf Fährschiffen suche, und vom Schnee, den ich als Kind fangen wollte. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich wenn der betende Mann sich erheben wird. – stop

:

ping

Inside Passage I

Kein Archiv für den Vogel.
Für den hellen Fleck auf dem Dunst,
seinen Kopf, den nickenden Wipfel,

als er abhob,
zwischen drei, vier Flügelschägen
das lostuckernde Boot vielleicht.

Gedächtnis verliert, Gegenwart wird
die Verbrennung und das gelöste Eisen
in dir, wenn die nackten Fächer der Hände

von einem anderen Motor an
seinen Herzton erinnert, sich auftun.
Aufgehoben in seiner Nussschale wie du

in deiner schlingernden
Erfindung, träumt das Gewebe,
dass du die Finger von der Reling löst.

Tagaus

Solang’ kein Licht brennt, steht der Tag nur am Himmel. Flieg, mein Drachen, aber zerr’ nicht, sonst lass‘ ich die Schnur los. Frühmorgens sind wir für uns, Liebster, traumvergoren, sind Fläche und Hügel, Damm und Graben. Was, wenn wir nichts lernten, sind wir dann mehr oder weniger? Wie viel Welt bist Du mir, mein Lieb, wenn mir die Augen verbunden, mit was greifst Du nach mir, wenn ich Schatten bin.
Morgens holt mich die Erde, die Schwester, die Luft. Morgens für einen Moment ist es, als wären wir nie getrennt und die Ahnen gurren auf dem First, unter dem ich hause. Auf, auf! Die Treppe hinunter weiß ich noch kaum, wie das funktioniert mit Lunge und Luft.
Wie es wohl wäre, drinnen zu bleiben, mein Bettchen, mein Faden, mein Drachen.
Wenn niemand meine Straße schrubbte mit rotierenden Bürsten und kein Bäcker seine Fladen auf’s Band klatschte, jetzt, gerade. Noch nicht! Bleib mir doch unbegreiflich, ich bitt’ Dich. Ah, warum bin ich Fleisch geworden, so schwer. War doch Licht. War doch überall, bevor mich ein Körper in Knoten band und bindet, als wär’ das Wahrheit, so ein Körper, so ein paar Rehaugen. (Mein Äuglein, so nennst Du mich.)
Wie schön Du bist, Leben, Alabasterdöschen, Hefeteig, Du gigantische Habseligkeit. We can be heroes, just for one day. Eine Buchseite, ein Kind, eine Verzweiflungstat. Binde mich, Welt. Lass mich nicht ziehen. Ruf’ nach mir, verlange, dass ich Weib sei, meine Hülle verlasse, verlang’ nach mir, lass’ mich nicht klein sein wie das, was Instrumente können: bin doch mehr als ein Punkt auf einer Karte, der Strich, den ich ziehe, das Wort, das ich wähle.
Ah, Papa, was flüsterst Du so.

Tagein.