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„Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft“ (Essay)

Ist Witold Gombrowicz’ Tagebuch so etwas wie die Urform des literarischen Weblogs? Diese Frage stelle ich mir, seitdem ich angefangen habe, die gesammelten Tagebucheinträge zu lesen. An einer Stelle schreibt er: „Ich schreibe dieses Tagebuch nicht gern. Seine unredliche Aufrichtigkeit quält mich. Für wen schreibe ich? Wenn für mich, weshalb wird das gedruckt? Und wenn für den Leser, weshalb tue ich so, als spräche ich mit mir selbst? Sprichst du so zu dir, daß es die anderen hören?“ (S.59. Alle Zitate aus: Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. Fischer Taschenbuch 2004 bzw. Carl Hanser Verlag 1988) Wer ist dieser Herr Witold, dieser Gombrowicz? (Ich möchte, übrigens, um Nachsicht bitten dafür, daß ich mich mal wieder nicht mit der aktuellen Literaturproduktion beschäftige; ich weiß, da heißt es wieder, der Schlinkert mit seiner seltsamen Neigung zu Gutabgehangenem, zu all diesem alten Zeugs … doch wer mich kennt, der weiß, daß ich mich ausschließlich mit aktuellem Gedankengut beschäftige, ob es nun diese Sekunde veröffentlicht wird oder von Hesiod stammt.) Also: Gombrowicz, Witold, polnischer Schriftsteller, großer Erfolg in Polen 1938 mit seinem ersten Roman ‚Ferdydurke’, einem wunderbar absurd-komischen Roman mit hintergründigem Ernst, der imgrunde auch einen Diskussionsbeitrag zu der Frage darstellt, wie es um den Diskurs zwischen den altständigen und den modernen Polen bestellt ist. Im Jahr 1939 wird Gombrowicz in Buenos Aires vom Ausbruch des Weltkrieges überrascht und bleibt bis 1963 in Argentinien. Dort kleiner Bankangesteller zwecks Lebensunterhaltssicherung, ist er aber vor allem Schriftsteller und – quasi öffentlicher – Tagebuchschreiber, denn von 1953 bis 1969 werden seine jeweils nur mit dem Wochentag datierten Eintragungen in der in Paris erscheinenden polnischen Exil-Zeitschrift Kultura veröffentlicht. (Siehe dazu: Editorische Notiz. a.a.O. S.993.) Es ist also zunächst eine nur kleine Öffentlichkeit, bis dann 1957, 1962 und 1967 polnische Buchausgaben erscheinen.

Was nun macht Witold Gombrowicz so aktuell? Im Klappentext der Taschenbuchausgabe heißt es, Gombrowicz’ Überlegungen zu Themen wie Marxismus, Katholizismus oder Homosexualität seien unerwartet und wiesen auf verblüffende Zusammenhänge, sie seien aufschlußreiche Pamphlete gegen jedwede Lüge und Ideologie – so weit, so gut. Was mich nun unter anderem besonders interessiert sind aber die Fragen, die ich mir als „literarischer Blogger“ stelle (was für ein ekliger Begriff dieses „Blogger“ doch eigentlich ist, fast kommt es einem hoch!), denn wenn das literarische Weblog Literatur ist, die sich vermittels neuer technischer Möglichkeiten direkt und unvermittelt aktuell an Leser:innen wendet, dann scheinen mir diese Tagebuchbeiträge, zumindest in ihrer so schnell als möglich gedruckten Form, als eine Ur- oder Vorform des literarischen Weblogs. Der Vergleich mit Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel. Anderswelt drängt sich dabei geradezu auf, und das nicht nur, weil Die Dschungel ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag darstellt zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur (möge die Literaturgöttin dafür Sorge tragen, diese Beiträge der Nach-Welt zu erhalten!), sondern vor allem, weil beide Schriftsteller eine kompromißlose Haltung zu allem was Literatur ist und sein kann offen (aus)leben, weil beide sich mit einer hohen Risikobereitschaft an ein oder ihr Publikum wenden, ohne Liebedienerei und falsche Bescheidenheit. Deckungsgleich sind die Ansätze deswegen natürlich nicht, schon allein dadurch bedingt, daß ein Alban Nikolai Herbst dem tagebuchartigen Eintrag meist unmittelbar Weiteres folgen läßt, nämlich als direkte Reaktion auf Leser:innen-Kommentare. Diese Unmittelbarkeit ist sicher das eigentlich Neue und erweitert das Genre des Tagebuchartigen.

Vor- oder Urform also des literarischen Weblogs der Haltung zum Schreiben, zum Künstlersein wegen und vor allem auch aufgrund der so gelebten und gestalteten Beziehung zu den Leser:innen!? Doch birgt diese Art, sich an ein Publikum zu wenden, naturgemäß auch allerlei Gefahr in sich – die nämlich, sich trotz aller Offenheit selbst in die Tasche zu lügen. Gombrowicz schreibt: „Die Falschheit, die schon in der Anlage meines Tagebuchs steckt, macht mich befangen, und ich entschuldige mich, ach, Verzeihung … (aber vielleicht sind die letzten Worte überflüssig, sind sie schon affektiert?)“ (S.60.) Dies schrieb er 1953, und man sollte bedenken, daß er als Exilant in einer dauerhaft mißlichen Lage war, schon allein deshalb, weil er sich seine Leser unter seinen (fernen) Landsleuten zu suchen hatte und sein Heimatland zugleich noch unter der Knute des Stalinismus wußte  – wenngleich, auch das scheint mir bedenkenswert, er immerhin als Fremder in einem Land auch durchaus kleine Freiheiten hatte, die ein einheimischer Künstler, der sich als Künstler im eigenen Land fremd fühlt, was nicht selten der Fall ist, niemals haben kann. Was aber trieb nun unseren Autor zu dieser öffentlichen Form des Schreibens, zum reflektierend-nachdenklich-erzählenden Tagebuch? Das zuletzt Zitierte weiterführend schreibt Gombrowicz: „Dennoch ist mir klar, daß man auf allen Ebenen des Schreibens man selber sein muß, d.h. ich muß mich nicht nur in einem Gedicht oder Drama ausdrücken können, sondern auch in gewöhnlicher Prosa – in einem Artikel, oder im Tagebuch – und der Höhenflug der Kunst muß seine Entsprechung in der Sphäre des gewöhnlichen Lebens finden, so wie der Schatten des Kondors sich über die Erde breitet. Mehr noch, dieser Übergang aus einem in fernste, fast untergründige Tiefe entrückten Gebiet in die Alltagswelt ist für mich eine Angelegenheit von ungeheurer Bedeutung. Ich will ein Ballon sein, aber an der Leine, eine Antenne, aber geerdet, ich will fähig sein, mich in die gewöhnliche Sprache zu übersetzen.“ (S.60.)

Vereinfacht gesagt ringt Gombrowicz in seinem Schreiben insgesamt darum, als Künstler Mensch und als Mensch Künstler zu sein – daß dies nicht im Verborgenen und nicht in aller Bescheidenheit vor sich gehen kann, liegt in der Natur der Sache. Anmaßung ist hier das Stichwort, und wer Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel in den Jahren aufmerksam verfolgte, der weiß, wie oft Kommentatoren Herbst angriffen wegen seiner vermeintlichen Eitelkeit, seiner vermeintlichen Großtuerei. Auch Gombrowicz muß diesem kleingeistigen, imgrunde unterwürfigen Denken ausgesetzt gewesen sein, denn er bezieht klar Stellung zur Seinsweise des Künstlers (und weist zugleich seinem Tagebuchschreiben, indem er es nicht für sich behält, den Sinn und Platz innerhalb seines Gesamtwerkes zu). Er schreibt: „Ich weiß und habe es wiederholt gesagt, daß jeder Künstler anmaßend sein muß (weil er sich einen Denkmalssockel anmaßt), daß aber das Verhehlen dieser Anmaßung ein Stilfehler ist, Beweis für eine schlechte »innere Lösung«. Offenheit. Mit offenen Karten muß man spielen. Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft.“ (S.61.) Dschungel-Leser wissen, daß Alban Nikolai Herbst dieselbe Überzeugung lebt, die er in seinem Weblog den Lesern folgerichtig nicht vorenthält. An einer Stelle schreibt Herbst: „Künstler jedenfalls, wenn sie das sind und also etwas zu sagen haben, kämpfen mit offenem Visier. Ausnahmslos. Schon, um ihre ästhetische Position zu bestärken, was wiederum ihr Werk stärkt und durchsetzt.“ (Interessant hier die doppelte Bedeutung von Durchsetzen: einmal im Sinne von Durchdringen, das andere Mal im Sinne von Erfolg auf dem Literaturmarkt.)

Das zugleich intime und zur Einsichtnahme gedachte Tagebuch ist ja bekanntermaßen keine Erfindung unserer Tage, das sei noch kurz angemerkt, sondern ist hierzulande seit gut dreihundert Jahren Bestandteil der literarischen Welt. Oft wurden Tagebücher zu Memoiren, eigenen Lebensbeschreibungen bzw. Autobiographien oder auch Romanen verarbeitet, man denke nur an die Memoiren der Glückel von Hameln (Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, veröffentlicht 1910), Ulrich Bräker, Salomon Maimon, Adam Bernd, Heinrich Pestalozzi, Johann Heinrich Jung-Stilling, Karl Philipp Moritz und viele andere, wobei die gezeigte Offenheit oftmals einen stark aufklärerischen Impetus hat (Adam Bernd, Pestalozzi, Jung-Stilling), durchaus aber auch schon den Protagonisten zugleich als Künstler heraushebt (Bräker, Moritz), der als solcher das eigene Leben schreibend auf eine Art offenbart, die auf eben diese künstlerische Art hinaus in die Welt muß. Die Möglichkeit, als Schriftsteller Tagebucheinträge (so wie Gombrowicz) fast unmittelbar in einer Zeitschrift, beziehungsweise sie heutigentags tatsächlich unmittelbar auf einer eigenen Website unter Klarnamen zu veröffentlichen, ist somit nichts weiter als eine Erweiterung der Möglichkeit, in aller Offenheit und auf zugleich höchstem Niveau als Künstler zu sein und zu wirken und (s)ein Werk zu schaffen.

Bei Leonard Lopate

Bernd Zabel, Brian Zumhagen, Benjamin Stein im Gespräch auf dem arte-Stand
Bernd Zabel, Brian Zumhagen, Benjamin Stein im Gespräch auf dem arte-Stand

••• Vorgestern gab es auf Einladung des Goethe-Institutes auf der Leipziger Buchmesse ein Wiedersehen mit Brian Zumhagen. Am arte-Stand sprachen wir, moderiert von Bernd Zabel, 40 Minuten über »The Canvas«, die US-Ausgabe der »Leinwand«, das Zustandekommen der Übersetzung und Übersetzungsfragen. Wie übersetzt man ein deutsche Wortspiel Wechslers, der ein aus dem Polnischen übersetztes Gedicht zitiert?

Wie auf Stichwort erreichte uns dann gestern die Nachricht, das der New Yorker Sender WNYC nun doch noch das Interview gesendet hat, das Brian und ich im Oktober in New York gegeben haben. Wir hatten schon nicht mehr damit gerechnet, dass es noch kommen würde. Leonard Lopate und seine Show sind für New Yorker Radio-Hörer so etwas wie eine Institution. Dass der Beitrag nun doch noch gelaufen ist, hat uns sehr gefreut. Man kann ihn online nachhören, unter anderem »» hier.

Interview mit Brian Zumhagen und Benjamin Stein
in »The Leonard Lopate Show« vom 14.03.2013

Kurztitel & Kontexte bis 2012-10-21

Katastrophenwarnungen

••• Manchmal bekommt man Anfragen, die einen vor ein echtes Problem stellen. Da wurde ich gebeten, einen Beitrag für eine Festschrift zu schreiben. Eine literarische Geschichte, zehn Seiten, und sie sollte natürlich etwas mit dem Jubilar zu tun haben. So weit, so gut. Erschwerend komme aber hinzu, dass die Geschichte so geschrieben sein müsse, dass ich sie in einer 10-Minuten-Fassung auf der literarisch-musikalischen Geburtstagsfeier vortragen könne.

Ich hätte gern abgelehnt. Der Jubilar aber ist Hans Dieter Beck, jahrzehntelanger Chef des juristischen Zweigs des Beck-Verlages, Bruder meines Verlegers Wolfgang Beck und »Obertukan«, Präsident des Tukan-Kreises, von dem ich 2010 für »Die Leinwand« den Tukan-Preis verliehen bekommen habe. Hans Dieter Beck wird runde 80, was man keine Sekunde glaubt, wenn man ihn live erlebt.

Da konnte ich nun unmöglich absagen. Mir war auch gleich klar, wovon meine Geschichte für die Festschrift handeln müsste: von Katastrophenwarnungen. Hier ist die Kurzfassung.

Tukan-Kreis im Hause Beck anlässlich des 80. Geburtstags von »Obertukan« Hans Dieter Beck
Tukan-Kreis im Hause Beck anlässlich des 80. Geburtstags von Hans Dieter Beck. Gesprochen haben übrigens Oberbürgermeister Christian Ude und die Autoren Asta Scheib, Georg M. Oswald, Albert von Schirnding sowie meine Wenigkeit.

Lieber Hans Dieter Beck, liebe Tukane und Tukan-Freunde,

ich möchte Ihnen heute etwas über Katastrophenwarnungen erzählen.

Die meisten Katastrophen, die uns im Leben ereilen, brechen ja ohne Vorwarnung über uns herein. Mein eigenes Leben, grad halb so lang wie das unseres Gastgebers Hans Dieter Beck, ist da keine Ausnahme. Nachdrücklich vor einer Katastrophe gewarnt worden bin ich aber auch schon, mindestens dreimal in meinem Leben, und alle drei Male hatte es etwas mit der Literatur und mit »den Süddeutschen« zu tun, einmal sogar mit beidem zugleich. Von diesen drei Warnungen will ich Ihnen erzählen, und als hinterhältiger Erzähler enthülle ich natürlich nicht vorab, wie alles ausgegangen ist und ob und welche Rolle Hans Dieter Beck in diesen Geschichten gespielt haben könnte.

Die erste nachdrückliche Warnung vor einer Katastrophe, die ich zu hören bekommen habe, geht auf das Konto meiner Mutter. Und weil meine Mutter sich gern blumig ausdrückt, hat sie nicht einfach nur gesagt: Sieh dich vor! Nein, sie bemühte einen Vers von Bert Brecht, und das hörte sich dann so an: »Meine Herren, meine Mutter, die prägte / auf mich einst ein schlimmes Wort. / Ich würde mal enden im Schauhaus / oder an einem noch schlimmeren Ort.«

Ich war damals zwölf. Eines der unzähligen Gedichte, die ich tagtäglich schrieb, war in einer Zeitung veröffentlicht worden. Darüber war ich natürlich so stolz, wie man nur sein kann. Und ich wähnte mich am Ziel. Ich hatte nämlich schon länger den Plan gefasst, Dichter zu werden. Diese erste Veröffentlichung gab mir nun das Gefühl, es könne nichts mehr schiefgehen.

In dem Gedicht ging es übrigens um Ikarus. Dass er abgestürzt war, stand nur zwischen den Zeilen. Diese Verse hatten sehr viel mit mir selbst und dem Anlass meines Schreibens überhaupt zu tun. Die Sonnen, denen ich mich gern genähert hätte, trugen Namen wie Anja und Claudia. Mir fehlte aber der Mut, sie anzusprechen. Die meisten empfindsameren Mädchen, hatte ich gehört, mögen Gedichte und Geschichten. Verraten Sie es niemandem: Das ist der Grund, weswegen ich angefangen habe zu schreiben. Und deswegen kam kein anderer »Beruf« für mich in Frage als der des Dichters und Geschichtenerzählers. Ich wollte die Frauen beeindrucken, damit sie mich mit Bewunderung ansehen und mit Zuneigung belohnen, was für mein damaliges Empfinden irgendwie zusammenhängen musste. Dass die weitaus meisten Katastrophen, in die ich später ohne Vorwarnung geschlittert bin, etwas mit Frauen zu tun hatten, wird nach diesem Geständnis niemanden wundern.

Meine Mutter kümmerte das alles nicht. Sie platzte in diesen hochgestimmten Moment mit dem Wort »Schauhaus« und versuchte so, mir klarzumachen, dass Geschichten zu erzählen und Verse zu machen, nun wirklich kein Beruf sei. Ich fand das damals sehr unzärtlich, um nicht zu sagen herzlos.

Das war die erste Katastrophenwarnung in meinem Leben, an die ich mich deutlich erinnere.

Die zweite Warnung vor einer Katastrophe richtete ein Freund an mich. Das war 13 Jahre später, 1995, in Berlin. Ich hatte natürlich nichts auf die Warnung meiner Mutter gegeben. Dass ich mit zwölf keineswegs bereits ein gemachter Mann gewesen war, hatte ich zwischenzeitlich begriffen. Im Schauhaus bin ich zwar nicht gelandet, aber die Wohnung, die ich mir gerade so leisten konnte, hatte in etwa das Flair eines Schauhauses: einrichtungslos, eng, kalt und ungemütlich und eigentlich nur tot zu ertragen. Immerhin sollte bald mein erster Roman erscheinen; und das, hoffte ich, würde das Blatt wenden.

Vorerst aber war das Geld aus, und ich meine, es war vollständig aus. Also hatte ich mich dazu überwunden, journalistisch zu schreiben. Das war zwar ein Verrat an der Dichtung, aber es brachte Geld. Allerdings bedeutete es auch, dass ich nach München umziehen musste, unter den »Weißwurschtäquator«, wie man in Berlin sagt. Das gefiel mir gar nicht. Ich dachte aber: Auch das geht vorbei.

Besagter warnender Freund stammte aus Stuttgart. Er hatte da ein Bekleidungsgeschäft besessen und war schnelle Autos gefahren, bis er nach kurzer Zeit als Geschäftsmann die Hand heben musste. Schuld, sagte er, seien »die Süddeutschen« gewesen, ein ganz übler und hinterhältiger Menschenschlag, kaltherzig und knallhart. Da solle ich mich mal schön vorsehen, dass es mir nicht schlimm erginge und sie mich auch zur Strecke brächten.

Also ganz ehrlich: Ich dachte, der spinnt, ich habe ihm kein Wort geglaubt und bin nach München gezogen.

Es gab dann schon Katastrophen. In denen spielte aber ein schmerzlich schönes tschechisches Mädchen die Hauptrolle, und man konnte nun wirklich nicht »die Süddeutschen« dafür verantwortlich machen, dass ich den Begleiterscheinungen ihres Temperamentes nicht gewachsen war.

An der Warnung des Stuttgarter Freundes war nichts dran. Hier im Süden ist für mich doch alles noch irgendwie gut geworden. Das fand sogar meine Mutter. Ich hatte schon einige Zeit nichts Literarisches mehr geschrieben, stattdessen aber einen Beruf, der mich ernährte. Ich merkte eines Tages, dass geschehen war, was ich immer gehofft hatte: Ich wurde von einer sehr bemerkenswerten Frau sehr geliebt; und da gab ich das Dichten auf, habe geheiratet und zwei wunderbare Kinder gezeugt.

Ende der Geschichte? Warten Sie ab! Es war noch nicht von Hans Dieter Beck die Rede.

Im Jahr 2006 habe ich doch wieder begonnen zu schreiben, erst ein literarisches Weblog, dann einige wenige Gedichte, und schließlich begann ich mit der Arbeit an einem Roman. Dieser Roman, »Die Leinwand« nämlich, wurde wohlwollend aufgenommen. Er hat sich sogar ganz ordentlich verkauft, und schließlich bekam ich die Nachricht, dass ich einen Preis dafür erhalten sollte, den Tukan-Preis der Stadt München.

Da spätestens war es dann an der Zeit für die dritte Katastrophenwarnung. Dieser Tukan-Preis, berichtete mir eine zuverlässige Quelle, sei der einzige Preis, bei dem man als Ausgezeichneter nicht sicher sein könne, bei der Verleihung nicht eher gezauselt als gelobt zu werden. Die Begrüßungsrede nämlich würde vom »Obertukan« gehalten: Hans Dieter Beck. Man gab mir dann noch das eine oder andere illustrierende Beispiel. Ich dachte: Oh, das ist jetzt die dritte Katastrophenwarnung, die Du bekommst; es geht um Literatur, und dieser Beck (den ich noch nicht kannte) ist ein Süddeutscher!

Mit einem Mal hatte ich Angst, und wenige Tage später hatte ich zur Angst dazu auch noch eine Einladung zu Kaffee und Torte bei Hans Dieter Beck. Er wolle mich mal kennenlernen, weil er doch der »Obertukan« sei und diese lästige Rede halten müsse. Als ich dann schließlich mit ordentlich Fracksausen beim ihm im Verlagshause Beck vor der Torte saß, hat er genau das wiederholt, aber mit dem Zusatz, und ich darf da zitieren: »Sie sind ja schon eine ziemlich eigenartige Figur. Sie müssen mir da mal ein paar Fragen beantworten.« Das mit dieser Wenderei bei dem Roman, das sei doch schon ein Schnickschnack, oder? Dann gab er ohne jede Hemmung zu, dass er das Buch noch nicht ganz gelesen habe. Es sei so viel zu tun in einem so großen Verlag, und er habe es auch gar nicht so mit der Literatur! Und so ging das noch ein wenig weiter.

Ich war aber schlagartig absolut entspannt, denn mir war klar: Die Katastrophe kann nicht nur eventuell eintreten; sie ist schon da. Ich bin samt Buch längst beerdigt. Da ist nichts mehr zu machen.

Entspannend an dieser Nahtoderfahrung war der Umstand, dass ich auch keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte. Ich konnte seine Fragen kess parieren, ja sogar Scherze machen und neckende Gegenfragen stellen. Und – was soll ich sagen: Wir unterhielten uns mit einem Mal blendend. Ich entdeckte ein Lächeln. Ich wurde Zeuge des Charmes, der da unter einer etwas rauhen Schale nur darauf wartete, sich zeigen zu dürfen. Es wurde auch sehr schnell klar, dass dieser Mann durchaus einen Sackvoll Ahnung von Büchern hat, sogar wenn es welche »vom Rande« sind, also: belletristische.

Es war eine sehr erfrischende und inspirierende Stunde, die wir da plaudernd verbracht haben. Ich trank den Kaffee, er aß die Torte; und die Rede, die Hans Dieter Beck dann schließlich bei der Preisverleihung gehalten hat, kam mir geschmeidig und süß vor wie Tortencréme. Viel Lärm um nichts also! Sie können drauf wetten, dass ich auf Katastrophenwarnungen ab jetzt nichts mehr gebe.

Lieber Hans Dieter Beck, dass und wie sehr ich es schätze, Sie kennengelernt zu haben, werden Sie nun wissen. Unter Juden sagt man sich zum Geburtstag »Mazal tov« und »Bis 120«. Einige wandeln das ab und sagen stattdessen: »Bis 100 wie 20«. Wie auch immer man es dreht: Sie haben noch ein Drittel Ihres Weges vor sich. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie weiter wie heute mit der Kraft eines Zwanzigjährigen am Ball bleiben werden.

Herzlichen Glückwunsch!

Pinocchio in Leipzig


Pinocchio ist mir in Leipzig mehrfach begegnet

••• Ich bin noch eine Nacht länger in Leipzig geblieben als das Gros der Messebesucher und Literaturbetriebler, denn für mich geht es heute (und das hier schreibe ich im Zug) nach Hamm in Westfalen. Dort steht eine »Leinwand«-Lesung auf dem Programm. Der Veranstalter allerdings, den ich am Beck-Stand traf, hat mich auch um eine »Replay«-Kostprobe gebeten, wenn das Publikum nach dem »Leinwand«-Hauptprogramm noch in Stimmung sein sollte.

Es gab im Turmsegler keine Wortmeldungen von mir in den letzten Tagen. Über Facebook und Twitter konnte man sporadisch mitbekommen, wo ich mich rumtrieb und was sich ereignete. Hier Fotos oder gar einen zusammenhängenden Bericht einzustellen, dafür fehlte – ich gebe es offen zu – der Drive. In diesen Messetagen bin ich zwischen Turbo und Ohnmacht geschwankt. Zu viel persönlich Belastendes trug ich im Gepäck, also mehr emotionale als körperliche Erschöpfung. Ich habe mir, wenn auch die Nächte, wie auf einer solchen Messe üblich, ziemlich kurz gerieten, ein paar Stunden Extraschlaf untertags gegönnt, Spaziergänge durch die wunderbaren Frühlingstage in Leipzig, Sauna (brauchbar im Hotel), Thai-Massage (zu empfehlen und direkt neben dem Hotel). In diesen Tagen heißt es vor allem: ausschwitzen und Haltung bewahren, über die körperliche Wohltat und das Sich-selbst-Fühlen dem Emotionalen immerhin einen Boden bieten, auf dem es sich abstützen könnte…

Der Strahlkraft, die man doch braucht für solche Präsentationstage, ist eine solche Gemütslage nicht eben förderlich. Aber sind wir nicht Profis unterdessen? Da gelingt das lockere Lächeln eben doch, der charmante Smalltalk, der Vortrag, die geschmeidigen Antworten auf alle möglichen Sorten von Fragen. Und es wurde auch besser im Laufe der Tage. Dafür verantwortlich waren die angenehmen Wieder- und Neubegegnungen, intensive freundschaftliche Gespräche mit meinem Lektor, Dummheiten und Ernstschwätzen mit Kollegen. (Auch ein wenig lästern, psssst, wie reinigend!)

Die ersten Auftritte hatte ich gleich am ersten Abend. Zunächst das schon traditionelle Presse-Dinner von Beck, wo ich Tom Bullough kennenlernte, der bei Beck soeben in deutscher Übersetzung seinen Roman über den russischen Raketenerfinder Ziolkowski vorgelegt hat, ein außerordentlich sympathischer Bursche ist das und ein (ich habe unterdessen mit dem Lesen begonnen) witziges, aufregendes und sehr sprachmächtiges schmales Buch.

Den Abend verbrachte ich zwischen Frau Auffermann und Frau Löffler, eine Neubegegnung und ein Wiedertreffen. Wie unumwunden Frau Löffler kundtat, mit Dystopien nichts anfangen zu können, weil die doch in aller Regel sehr vorhersehbar und deswegen langweilig seien, das hat mir gefallen und gab uns Gelegenheit zu einem kurzweiligen Gespräch über dieses Genre.

Vor dem Rauswurf musste ich diesmal das Dinner verlassen, denn kurz vor Mitternacht stand die erste Lesung an. In den Kasematten der Moritzbastei (was für eine Location!) sollte ich mit Thomas von Steinaecker lesen – late night show. Der Oberkeller war gesteckt voll, und ich schritt zum Experiment, das ich mir für diese späte Stunde vorgenommen hatte: Ich las von Seite 109 bis 123 die Passage, die das Thema des »Replays« einführt, eine Strecke voll explizitem Sex. So etwas habe ich noch nie gemacht. Ich wollte wissen, ob ich das unbeeindruckt lesen kann wie jede andere Stelle. Und ich wollte wissen, ob man es überhaupt machen kann, wie das Publikum darauf reagiert. Bloggerin eulenliebe war anwesend und beschreibt in ihrem Bericht vom Leseabend sehr genau die Anspannnung, das Füßescharren und Räuspern. Aufgrund der Beleuchtungssituation konnte ich keines der Gesichter der Zuhörer sehen. Das war schade. So teilte sich lediglich die angespannte Stille mit (es wurde schon sehr genau zugehört), aber auch das gelegentliche tss, tss; nur konnte ich es eben keinen Personen zuordnen. Im Anschluss las Thomas. Im Gespräch dann wurde er gefragt, warum er in seine Romane Fotos und Grafiken einbaue. Er erwiderte, dass er meine, dies würde dem Leser gegenüber die Glaubwürdigkeit steigern, denn sein Eindruck sei, dass der Mensch einem Bild noch immer eher zu glauben geneigt ist als einem Text. Ich dachte mit Blick auf meine Lesung zuvor: Wenn es um Sex geht, scheint es ein wenig anders gelagert. Im Film können wir expliziteste Erotik und harten Sex »hinnehmen«. In einem literarischen Text ausgesprochen scheint es hingegen eine Herausforderung zu sein. Sollte jemand hier lesen, der anwesend war, würde mich brennend interessieren, wie sich das alles im Publikum angefühlt hat. Fazit für mich: Ich kann sowas machen. In dieser Dosierung ist es für ein unvorbereitetes Lesungspublikum dann aber wohl doch too much.

Ein Highlight war die Lesung von Thomas Lang tags darauf im Leipziger Zoo. In seiner kürzlich erschienenen Erzählung »Jim« gibt ein junges Orang-Utan-Männchen eine der Hauptfiguren. Die Lesung fand aber nicht im Affenhaus, sondern im Zoo-Restaurant Kiwara-Lodge statt. Zuvor bekamen wir eine private Nachtführung durch einen Teil des Leipziger Zoos. Da fühlten wir uns wie Jungs auf der Nachtwanderung, das war grandios. Die Lesung dann war nicht weniger eine Freude. Ich habe unverschwiegen sehr andere poetologische Ansichten als Thomas Lang, aber wie schon weite Strecken von »Bodenlos« habe ich auch bei der Lesung aus »Jim« die poetische Tiefe, die unaufgeregte Genauigkeit in Beobachtung und Sprache genossen. Sehr sympathisch war auch die Moderation von Heike Geißler. Ihr abschließendes Zitat aus einem Kinderbuch geht mir nicht aus dem Kopf. Das ging in etwa so:

Der Löwe sagt zum Jäger: Warum jagst du mich? Du bist doch selbst ein Löwe! Der Jäger antwortet: Wie kommst du darauf? Ich bin ein Jäger. Aber, erwidert der Löwe: Da schaut doch ein Schwanz unter deinem Mantel hervor. Stimmt, gibt der Jäger zu: Ich bin tatsächlich ein Löwe. Das hatte ich ganz vergessen.

Mit dabei an diesem Abend war Hans Pleschinksi, den ich bislang noch nicht persönlich kannte. Nun schon. Ein beglückendes Kennenlernen. Der kleine Tross zog nach der Lesung geschlossen in Auerbachs Keller ein. Zuvor hatte ich – eindrücklich darauf hingewiesen – Fausts Fuß gerieben. Glück soll das bringen, wurde mir raunend versichert.


Mein Lektor Martin Hielscher vor dem Abstieg zu Auerbachs Keller

Da mag nun etwas dran sein. Am nächsten Morgen jedenfalls wurde ich von einer SMS geweckt: Schau mal in die FAZ! Das habe ich dann getan, im Foyer des Hotels, barfuß, tatsächlich wie emotional gesprochen. Die Rezension von Christian Metz hat mich sehr bewegt. Wie er das Buch durchfühlt und durchdrungen hat, das war an diesem Morgen Balsam für mich, und fortan hob sich die Stimmung. Am gleichen Tag folgte ein halbstündiges 3sat-Interview vom roten Sofa in der zentralen Glashalle der Messe und am Abend eine wieder sehr gelungene Lesung im Ariowitsch-Haus mit Martin Hielscher als Moderator.

Auch bekam ich mit, dass über »Replay« gesprochen wird. Das Wort geht von Mund zu Mund. Dass das Buch sich am Sonntag in den Top-100 der deutschen Belletristik bei Amazon wiederfand, gab mir dann endgültig Zuversicht: Das wird noch was mit diesem Buch. Es ist grad dabei, entdeckt zu werden.


Blick von »hinter der Bühne« auf den Messestand von C.H.Beck

Am Messesonntag hatte ich nur noch ein Radio-Interview zu geben. Dann schlenderte ich in Halle 5 zu den Verbrechern und den Kulturmaschinen. Ich traf ANH und Phyllis Kiehl, meinen Lieblingsverbrecher Sundermeier und und und. Smalltalk, unaufgeregte, angenehme Gespräche. Ich lauschte Jörg Sundermeier und ANH bei ihren Lesungen, ein schönes, warmherzig empfundenes Ausklingen der Messe. (Übrigens muss ich meinen Verbrecher in Schutz nehmen. Er hat ausdrücklich nicht die Kulturmaschinen den »linksradikalen Verlagen« zugeschlagen, wie ANH heute berichtet (und ich wohl missverständlich erzählt haben muss), sondern ich hatte ihn nach dem Weg zu den Kulturmaschinen gefragt und er hat geantwortet: Die sind gleich dahinten, bei den Linksradikalen. Und das stimmte dann ja auch. Ich habe den Stand jedenfalls gleich gefunden.

Warum ich Pinocchio fotografiert habe für diesen Beitrag? Das hat ausdrücklich nichts mit dem direkt vorangegangenen Absatz zu tun. Mitunter, das will ich doch festhalten, habe ich an diesen Messetagen gedacht, Pinocchio sollte das Maskottchen der Buchmesse sein. Denn bei all den beglückenden und kurzweiligen Begegnungen lässt sich doch eins nicht leugnen: So wie in der Literatur gelogen wird, tun es auch die Literaturschaffenden und -verwertenden und -verwesenden unter- und übereinander. Wenn uns allen da jeweils die Nase wüchse… Nicht auszudenken!

PS: Einen Gruß von hier an Michael Stavarič, den ich auf einer Party im Anschluss an die Lesung im Ariowitsch-Haus traf und mit dem ich leider nicht mehr geplaudert habe, wie ich gern hätte. Ich war überfordert in dem Moment. Aber das Gespräch würde ich gelegentlich gern nachholen.

The Chomskytree-Haiku

Eine Beschreibung von Hartmut Abendscheins Prezi-Projekt “The Chomskytree-Haiku” ist nahezu unmöglich: Man müsste, wollte man ihm gerecht werden, alles zugleich sagen, mit einem Satz die ganze Vielschichtigkeit aufzeigen und zugleich auf die darin enthaltenen (und gewollten) Widersprüche hinweisen. Hinter, oder besser, in dem “Chomskytree-Haiku” steckt eine gehörige Portion Theorie: Gleich zu Beginn der Präsentation werden die wichtigsten Begriffe eingeführt und sehr kurz erläutert, um die es dem Autor bei seinem Projekt geht: Allegorie, Baumparadigma vs. Rhizom, Raum/Zeit und poesis. Um nichts weniger also geht es, als um Welt, ihre Deutung und ihre poetische Verarbeitung. Dass das nicht gut gehen kann, macht ein Exposé deutlich, das ebenfalls im Projekt zu finden ist: Das “Chomskytree-Haiku” ist, so heisst es da, ein “polyvisuelles, polytextuelles, polystrukturelles und polytheoretisches Image”, ein “Beitrag einer posttheoretischen Theorie”, die sich (so der Untertitel) als “intermediale Allegorie poetischen Arbeitens” versteht. “Der Baum bzw. die Wurzel als Denkfigur und Organisationsprinzip wird mit seinem Theorieantagonisten, dem des Rhizoms (nach Deleuze/Guattari, als Figur der Kontingenz und
Allesmitallemverbundenheit) kontrastiert.” Der Autor weiss, was er dem Leser/Betrachter/Interpret da zumutet.
Doch anders als diese einleitenden Worte vermuten lassen, führt das Projekt den Interpreten nicht in eine theoretische Abstraktion bildhafter Vorgänge, sondern umgekehrt in eine visuelle Abstraktion konkreter Theorie, nämlich jener des poetischen Schaffens. Jede Theorie des poetischen Schaffens birgt in sich auch eine entsprechende Theorie der poetischen Interpretation, und ich erlaube mir, da ohnehin vor die Notwendigkeit gestellt, aus den vielen möglichen einen einzelnen Ansatz auszuwählen, um den Versuch einer Deutung überhaupt beginnen zu können, diese zum Ausgang meiner Betrachtung des “Chomskytree-Haikus” zu machen.

Nutzt man gleich zu Beginn des Prezi die Zoomfunktion am rechten Bildrand, um näher an den in der Mitte sich befindenden Kreis heranzufahren, enthüllt sich mit zunehmender Nähe ein Baum, an deren Astgabeln und -spitzen sich Blüten befinden, die sich bei näherem Hinsehen als weitere Bäume oder Vergabelungen entpuppen. Ein Baum der Äste, die sich verzweigen, also, und deren Astgabeln abstrakt dargestellte Orte sind (Punkte auf einer Landkarte), von wo aus sich die Äste dann in die konkrete Welt (Fotos) hineinstrecken, über die sich jedoch dann wieder Bäume legen, die einerseits die Fotos miteinander verbinden, andererseits aber auch die in den einzelnen Fotos selbst dargestellten (und in ihnen ausgelegten) Elemente verknüpfen.
Entfernt man sich mittels Zoomfunktion wieder von diesen Unterbäumen, bemerkt man zwischen den Ästen weitere Elemente, die wie fallendes
Laub zwischen diesen verstreut sind: Haikus, Screenshots, Klebebänder und andere Materialien, die sich auf den oben erwähnten Fotos wiedererkennen lassen. Dass zwischen Bäumen und diesen zusätzlichen Elementen ein intendierter, nicht willkürlicher Zusammenhang besteht, wird deutlich, wenn man sich mittels Play-Taste Schritt für Schritt durch die Präsentation vortastet: Sie stellt das, was ein erster Blick als simultanes Gebilde enthüllt hatte, in eine lineare Abfolge, die nicht nur eine aus den vielen möglichen Lektüren des “Chomskytree-Haikus” vorschlägt, sondern auch ihre Produktionsbedingungen, -materialien und -umstände sichtbar macht. (Auch hier sei die ausgiebige Verwendung der Zoom-Funktion wärmstens empfohlen, um zum Beispiel die in den Screenshots abgebildeten Texte überhaupt lesen zu können, aber auch, um sich immer wieder durch das Herauszoomen sich des Zusammenhangs des gerade Betrachteten gewahr zu werden.)

Wie auch immer man sich Zugang zum “Chomskytree-Haiku” verschafft, ob über die vom Autor empfohlene Autoplay-Version oder über eine eigene, selbstgewählte Kletterroute durch den Baum (oder eher Rhizom?), immer wieder sieht man sich damit konfrontiert, den Zusammenhang zwischen Text und Welt, zwischen Text und Textmaterialien, zwischen Theorie und konkreter Welt, aber auch zwischen konkreter Welt und den in ihr erkannten Strukturen deuten und überdenken zu müssen.

Diese multiplen Zusammenhänge zwischen den vielen Ebenen des Textes und den vielen Ebenen der Welt lassen sich vielleicht auch so darstellen:
Am 8. Dezember 1980 befand ich mich in Teresina, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Piauí, wo ich die Sommerferien bei einem Schulfreund verbrachte. Ich hatte bereits geduscht und durfte mir noch die Abendnachrichten anschauen, bevor es ab ins Bett ginge. Es war ein Schwarzweissfernseher, der mir die Bilder aus New York zeigte: ein Passfoto des Mörders, die Blumen vor dem Gebäude, in dem John Lennon eben erschossen worden war. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie etwas von dem Toten gehört, zumindest nichts bewusst von ihm wahrgenommen, “Imagine” sollte erst Jahre später den Soundtrack zu meiner Glaubenskrise abgeben. Die Umstände, unter denen ich von Lennons Tod erfuhr, vergass ich trotzdem nie.
Jahre später, es war eine laue Sommernacht, sass ich mit einigen Freunden in einem Gartenrestaurant im schweizerischen Winterthur und hörte das erste Mal von der polnischen Musikerin reden, die ihre Kollegen “Radio Warschau” nannten. Der Name elektrisierte mich, es war, als setzte er die Atmosphäre unter eine ungeheure Spannung, kurz darauf ging ein heftiges Sommergewitter nieder.
Oder, anders ausgedrückt: Hätte ich Italo Calvinos “Der Baron auf den Bäumen” das erste Mal nicht in einer heruntergekommenen Studentenbude im zweiten Stockwerk eines alten Hauses am Stadtrand gelesen, sondern erst jetzt, hier in Rio, im Erdgeschoss eines Hauses, das sich im Tal zwischen zwei dicht bewaldeten Hügeln befindet – hätte das Buch denselben unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht?
Denke ich an das Buch, denke ich an die Nächte weit geöffneter Fenster. Erinnere ich mich an “Radio Warschau”, kommen mir Bilder in den Sinn, die mir vormachen, die Liebe sei in Winterthur eine komplizierte Sache. Höre ich John Lennons “Imagine”, sehe ich mich als Buben nackt unter der Dusche stehen, der noch keine Ahnung hat davon, wie nah die Erde dem Himmel ist.

Verstehe ich Abendscheins Ansatz richtig und beziehe ich in meine Überlegungen auch die Grundidee der Generativen Grammatik, deren wichtigster Vertreter Noam Chomsky ist, so ist die Spannung, die zwischen all diesen Elementen besteht, die wesentliche Treibkraft des poetischen Schaffens (und Interpretierens), das als Produkt ein Destillat hervorbringt, das nicht im luftleeren Raum hängt, sondern umgeben ist von Schwebeteilchen, die wiederum den Raum strukturieren.

The Chomskytree-Haiku (Rhizome(Rhizome))
TCT-H (R(R))
von Hartmut Abendschein
Eine intermediale Allegorie poetischen Arbeitens
edition taberna kritika, Bern, 2011
Kostenloser Download: http://tcthr.etkbooks.com

Kurztitel & Kontexte bis 2011-10-16

Kurztitel & Kontexte bis 2011-09-11

Kurztitel & Kontexte bis 2011-08-07

Zauber der Lyrik – Hellmuth Opitz beim Poesiefestival in Konstanz

Michael Lünstroth, Redakteur des „Südkuriers“ stellte mir seinen Beitrag von gestern zur Verfügung. Vielen Dank!

Vom Zauber der Lyrik erfasst

Wunderbare Momente, verstörende Momente – beim Poesiefestival „dichter dran“ gab es beides. Auch deshalb wurde es zu einem Erfolg

Bielefeld hatte man auf der deutschen Humorlandkarte bisher nicht gerade als gewichtige Großstadt verortet. Nachdem vergangenen Dienstagabend dürfte sich das bei einigen Konstanzern geändert haben. Der Grund dafür hat schwarz-graue Wuschelhaare, Teddybärfigur, ein umwerfendes Gespür für Komik und Poesie und heißt Hellmuth Opitz. Der 51-jährige Bielefelder Dichter gastierte beim Poesiefestival „dichter dran“ in der Wohlfühlatmosphäre des „wohnform“ in dem mehr als 700 Jahre alten Gebäude „Zum hohen Haus“ in der Konstanzer Altstadt. Und hatte es noch eines Beweises bedurft, dass dieses Poesiefestival ein Gewinn für die Stadt ist, spätestens an diesem Abend wurden alle Zweifel daran ausgeräumt. Gemeinsam mit der professionellen Sprecherin Annette Kühn saß Opitz auf der Bühne. Abwechselnd lasen sie Gedichte von Opitz vor – der Abend stand schließlich unter dem Titel „Vom Unterschied der Leseweisen“.

Tatsächlich wurde der Unterschied schnell deutlich, hier die ausgefeilte, präzise Aussprache von Kühn und dort das manchmal genuschelte und immer westfälisch eingefärbte Idiom des Autors. Sie lasen Gedichte über Haushaltsgeräte, Erdbeerstandmädchen und „Göttergatten in verkehrsberuhigten Ehen“ und mit jeder Strophe, mit jedem Vers gingen die Mundwinkel der Besucher steiler nach oben. Das Glück, das Opitz` Werk verbreitete, war in fast jedem Winkel des Raumes zu spüren. Als ehemaliger Musiker und Songschreiber hat Opitz sich ein Gespür für Rhythmus und pointierte Verse behalten.

Wer Hellmuth Opitz hört, muss auch automatisch an einen anderen Sprachvirtuosen aus Nordrhein-Westfalen denken: Den Duisburger Liedermacher Tom Liwa. Mit ihm verbindet Opitz das Talent, wunderbare Sprachbilder formen zu können, die mal komisch, mal berührend sind, und oft so plastisch daher kommen, dass jeder Zuhörer genau fühlen kann, was in diesem Moment gemeint ist. Zum Beispiel wenn Opitz über die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr schreibt: „Tage, die nicht leben wollen und nicht sterben, die zerrieben werden zwischen Bäuchen und Bräuchen“, an denen der Bahnhofsvorplatz aussehe wie „ein Teller Milchreis mit Zimt“. Das ist so konkret, so schlüssig, dass jeder Zuhörer ein Bild hat, still in sich hinein schmunzelt und denkt: „Ja, genau so ist das“. Nur wenige zeitgenössische Lyriker haben diese hinreißende Gabe, nur wenigen Dichtern gelingt es, dies so unprätentiös und sympathisch zu vermitteln wie dem 51-jährigen Ostwestfale.

Dass es auch anders geht, haben vier Dichter am Abend zuvor im Konstanzer Ratssaal bewiesen. „Zeit atmen. Kritische Lyrik“ war die Veranstaltung überschrieben und Brigitte Oleschinski, Christian Filips, Swantje Lichtenstein und Tom Schulz wollten hier das gesellschaftskritische Moment moderner Lyrik aufscheinen lassen. Zumindest Lichtenstein und Filips hatten offenbar so wenig Lust auf diesen Abend, dass sie ihre Werke derart schnell vortrugen, dass der Sinn an einem vorbeirauschte. Blitzlichtartig tauchte Kritisches in ihren Werken auf, aber je länger der Abend dauerte, umso deutlicher wurde die Erkenntnis, dass diese verdichtete Form der Lyrik wenig geeignetes Mittel der Gesellschaftskritik ist. Sie scheitert an der Komplexität der Welt und dem eigenen Willen zur Verrätselung. Kritik, die nicht verständlich ist, verpufft auf dem Weg zum Empfänger.

Nichtsdestotrotz war die Premiere des Poesiefestivals ein Erfolg: Rund 1000 Zuschauer kamen zu den Lesungen der vergangenen sechs Tage. Sie erlebten verstörende bis wunderbare Momente. Viel mehr kann ein Festival nicht bieten. Bitte wiederholen.

(c) Michael Lünstroth. Aus: Südkurier, 25. November 2010