Schlagwort-Archive: Zeichen

Inhalt 02/2008

Die Lesezeichen-Ausgabe 02/2008 erschien am 15. Juli 2008.

In dieser Ausgabe:


Rad- und Randblicke, gehälftete Nachbarn und erbrochene Vomitive, Joseph Brodsky und bewusstseinserweiternde Drogen, Misses Frettle und die Ordnung, Bibliotheken und Schriftzeichen auf Klopapier, Playboylovers und Space Monkeys, Frachter und Schiffshörner, Perlhühner und Tauben, Hände und Füsse, Balkon und Küche, Kanzelreden und Deutungsmächte uvm.

INHALT:

Eine Frage der Teilzeit

Teile ich mir die Zeit ein: teile ich gedanklich meinen Nachbarn in zwei Hälften. Verwuschle ich sein Haar und in seine Uhrenkette mache ich Knoten. Der Uhr verpasse ich einen Kokon aus Resten von Gel. Die Flügel am Hinterkopf laufen ihm stromlinienförmig zusammen. Am unteren Ende befestige ich einen Manschettenknopf. Da sucht er nach seinem Fahrschein.

Teile ich mir die Zeit ein: klingelt mein Telefon volkstümlich. Bin ich ganz Dienstleister in der Dienergesellschaft. Meide ich Menschen ohne Sozialleben. Gemietete Leben. Auf Saubohnenplantagen.

Teile ich mir die Zeit ein: versuche ich mich an Wegen der Darstellung und Herstellung persönlicher Ordnung. Es ist eine Ordnung vergeblicher Zeichen. Aber immerhin wirksam der Schein meiner Dinge durch diese. Berücksichtigungen. Beschwichtigungen. Kontinuitäten.

Teile ich mir die Zeit ein: gewährleiste ich Existenz durch Klassifikation ins Vorhandene. Entdecke ich in Köln-Ehrenfeld nicht ein Kaufland sondern den Potsdam-Simulator.

Teile ich mir die Zeit ein: erbreche ich mein Vomitiv in Geschichten. Das Elend der Welt im jungen Pennerpärchen zum Beispiel. Er, schlafend, komatös in einem fremden Traum. Sie, streicht ihm den Speichel vom Kinn, liebevoll. Oder eine andere: Vom Tramnebenan, der in seinem Handy Anruflisten bedient. (Ein schräger Blick, meinerseits). Ein Blättern von „Schatz1“ zu „Schatz2“.

Teile ich mir die Zeit ein: teile ich mich, ich mich mit, mit mir selbst, und die Welt.

Papierboote

Zur allgemeinen Sicherheit hatte die Stadtverwaltung die städtische Bibliothek nach ausserhalb der Mauern verfrachtet, und für verschärfte Sicherheit zudem auf der Felseninsel im Fluss in dem Gebäude untergebracht, das zuvor als Gefängnis gedient hatte. Die Gefangenen wurden generalamnestiert, waren sie doch einfache Verbrecher, sie mussten nur ihre Bibliotheksausweise vernichten und sich einer Analphabetisierung unterziehen, dann durften sie gehen. Die allgemeine Schulpflicht wurde auf ein halbes Jahr gesenkt und war nur für diejenigen Kinder und Erwachsenen obligatorisch, die durch irgendeinen dummen Zu- oder Unfall lesen gelernt hatten. Nach kurzer Zeit wähnte sich die Stadt frei, illiterat, es wurde fröhlich Sport getrieben. Es gab zwar noch ein paar Gewiefte, die in fremden Sprachen lasen, aber auch ihnen kam man bald auf die Schliche, sie wurden entweder verbannt oder zwangsanalphabetisiert. Es machten sich gesundheitliche Probleme in der Stadt breit, verursacht durch Schlafmangel. Das nächtliche Gepoltere kam von der Flussinsel. Eine Untersuchungskommission fand heraus, dass sich die Bücher in der Bibliothek fortpflanzten, bezeichnenderweise nächtens. Man flog einen Bibliomanen ein, der dem Stadtrat aus dem Stegreif erklären konnte, was vor sich ging: Bücher gehen mit Lesern ins Bett, sagte der Bibliomane, sie befruchten die Leser, und wenn man ihnen das verwehrt, fangen sie an, unter sich zu kopulieren. Sie wühlen die Seiten ineinander, lassen Tinte ineinanderfliessen, werden dann dicker und dicker, kleine Büchlein schlüpfen aus den fetten Bänden, dass die Regale krachen. Und was kann man dagegen unternehmen?, fragte der ratlose Stadtrat den Bibliomanen. Nichts, erklärte der Bibliomane. Lesen, lesen, lesen. Lieben.

Kurzerhand fackelte die städtische Feuerwehr im Auftrag des Rates die Bibliothek ab. Bauingenieure sprengten die Insel im Fluss.

Der Feind gab sich nicht geschlagen. Bäume trieben weisse Knospen, die sich zu Buchseiten entrollten. Beschriebenes Papier quoll aus den Abwasserschächten. Ein Unsterblicher (man versuchte mehrmals, ihn zu erschiessen, aber er stand immer wieder auf) eröffnete eine Buchhandlung in einem bunten Kiosk, den er wie zum Hohn mitten auf dem Rathausplatz aufgestellt hatte. Auf Klopapier erschienen Schriftzeichen. Kinder tauschten heimlich in Sandkästen betextete Bilderbüchlein aus. Wo immer ein Vogel landete, blieb ein V im Staub zurück, Eidechsen fügten ein S hinzu. Gedichte stickten sich filigran in Vorhänge und Brautkleider. Heimlich arbeiteten die Dichter im Untergrund Nacht für Nacht, obwohl sie sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten konnten.

Der Stadtrat stellte eine Sondereinheit zusammen. Heckenschützen durchkämmten die Stadt und zerrten alle Dichter aus ihren Verstecken. In einer Reihe wurden sie an die Wand gestellt und hingerichtet. Das Volk war entsetzt: dass eine handvoll Ratten so viel Unruhe gestiftet hatte! Erleichtert kehrte man auf die Sportplätze zurück.

Die Dichter wurden ausserhalb der Mauer verscharrt.
Beschriebenes Büttenpapier wuchs aus den Erdhügeln; Verse rankten sich um die schäbigen Holzkreuze, die man den Verbrechern zähneknirschend gewährt hatte.

Die Leichen der Dichter wurden exhumiert, in Plastik eingeschweisst, mit Steinen beschwert und in den Fluss geworfen.
Weisse Papierboote stiegen vom Grund des Flusses auf und tanzten mit vollen Segeln bis ins Meer. Und da fing ihre Reise erst an.

Addendum: Tucholsky treibt Allotria

Flut und Perlen

Zur Erinnerung – und etwas in eigener Sache: der gestern erschienene Beitrag Lesen und Lesen lassen von Christiane Zintzen (Auszug).

(…)

VI. LESEZEICHEN

czz presseschau presse amtsgericht stadeNet- Mags , Foren oder Gemeinschaftsblogs : Auch Primärliteratur liest bzw. legt sich online vor . Freilich mit enormen Qualitätsunterschieden . Die man diplomatischer auch als solche des “literarischen Geschmacks” bezeichnen könnte . Mit dem “Forum der 13” , “der goldene fisch” , “lyrikline” , “poetenladen” oder – werbeästhetisch von Don Dahlmann verpackt – @ “mindestens haltbar” . Die “shortlist” verzeichnet mitunter unter ihren culture cuts sogar kastrationsangstfrei lesende männer und der behutsame Blütenleser figuriert ( in Kooperation mit “Perlentaucher”- “Medienticker” und “Titel“- Magazin ) mit Hörspiel- , TV- und Buchhinweisen seit Kurzem auch in Form eines Blog namens “Lesewoche” : Chapeau zur trefflichen Empfehlung von Silvia Bovenschen’schens hintersinnig komponierten Erzählkreis “Verschwunden” –

Das Literaturblog- Kombinat “litblogs.net” wurde als eine der in|ad|ae|qu|aten Herbergen bereits vorgestellt , NEU ist ein vierteljährlich erscheinendes Digest , welches als “Lesezeichen” direkt aufrufbar und ergo selbstverständlich auch via RSS abonnierbar ist . Hier führt freilich kein Redakteur die strenge Schere , sondern ein Jedes gibt , was ihm als zeichenweise tauglich dünkt . |||

(…)

Inhalt 01/2008

Die Lesezeichen-Ausgabe 01/2008 erschien am 15. April 2008.

In dieser Ausgabe:


Verbotene Reime, Grüsse an die Heimat, Unterkellerungen, Verfahren und Techniken zur Papierarchivierung, James Salter, schöne Studentinnen der Theologie, Waschbeckenhaare, diverse Zungenküsse, Sterne, Monde, Sonnenlöcher und Strandkorbbilder und vieles mehr ..

INHALT:

Relaunch von Litblogs.net

Als Hartmut Abendschein und Markus A. Hediger im Dezember 2004 das Portal für literarische Weblogs in deutscher Sprache Litblogs.net nach dem brasilianischen Vorbild wunderblogs.com aus der Taufe hoben, wollten sie Lesern auf der Suche nach zeitgenössischen Autoren im Netz eine Anlaufstelle bieten. Ein hochgestecktes Ziel, wenn man bedenkt, dass Litblogs.net zu Beginn die Feeds von nur drei literarischen Weblogs anbot. Doch die Plattform wuchs sehr rasch, nach und nach wurden weitere Weblogs bei Litblogs.net gelistet. Heute ist Litblogs.net eine Referenz für literarisches Schreiben im Netz und zeigt die erstaunliche Bandbreite, die Literatur im Internet mittlerweile abdeckt.

Die Betreiber sind sich jedoch bewusst, dass das einfache Einlesen von Feeds im sich rasant entwickelnden Umfeld der Internet-Technologie nicht mehr reicht. Jeder Internetuser kann sich mittlerweile den eigenen Reader mit wenigen Klicks einrichten, wozu braucht es da noch eine nett hergerichtete Internetseite? Das neue Litblogs.net bietet ab heute nun auch mehr: Nebst dem Reader finden Leser nun zu jedem Autor der gelisteten Weblogs auch eine Biographie mit Foto; das integrierte Meta-Weblog „prozesse“, auf dem Beiträge zu Entwicklungen auf und von Litblogs.net und zu Internetliteratur allgemein eingestellt werden können; sowie das Online-Magazin „Lesezeichen“, das viermal jährlich erscheint und die besten Beiträge der Litblogs.net-AutorInnen nochmals prominent ins Scheinwerferlicht hebt.

Lilina, das bis anhin die Technologie für Litblogs.net zur Verfügung stellte, wird von wordpress abgelöst. Damit einher geht auch eine optische Generalüberholung der Seite: moderner, übersichtlicher, freundlicher. Schick.

Wir hoffen, alle Links und Funktionalitäten stehen nun zur Verfügung, freuen uns aber auch – sollte dem nicht so sein – wenn Sie uns kurz informieren …

Sudabeh Mohafez

mohafez_pic

Als Tochter iranisch-deutscher Eltern 1963 in Teheran geboren. Stationen: Teheran – Berlin – Lissabon – Stuttgart. Langjährige Tätigkeit im Bereich der Krisenintervention und Gewaltprävention. Erste literarische Veröffentlichungen ab 1999. 2004 und 2005 erscheinen „Wüstenhimmel Sternenland“ (Erzählungen) und „Gespräch in Meeresnähe“ (Roman) im Arche Verlag. 2006 Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, 2007 Poetikdozentur an der FH Wiesbaden. Zahlreiche Literaturstipendien.

Auswahlbibliographie:
2004 Wüstenhimmel Sternenland – Erzählungen / Arche Verlag
2005 Gespräch in Meeresnähe – Roman / Arche Verlag
2010 brennt – Roman / DuMont Verlag
2010 das zehn-zeilen-buch / edition AZUR

vierhundertfünfzig ist eine nicht ganz willkürliche zahl, die eine art visitenkarte ergibt, der man entnehmen kann, was eine person, die texte schreibt, so tut, wenn man ihr sagt, sie solle eine art visitenkartentext schreiben, zum vorstellen, nicht, wie sonst üblich, zum kontakthalten, und solle dafür so um die vierhundertfünfzig zeichen (mit leeren) einkalkulieren. ja. so ist das. und das hier sind vierhundertachtundvierzig (mit leeren).

Litblogs / URL:
zehn zeilen
http://eukapi.twoday.net/
wandzeitung
http://wandzeitung.twoday.net/