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Inhalt 02/2010

Die Lesezeichen-Ausgabe 02/2010 erschien am 20. Juli 2010.


In dieser Ausgabe:
Regale und Pyramiden, frisch geköpfte Erdenbürger, Orson Welles und Frau Merkels Währungsreform, Daisy und Violet Hilton in Manhattan, unerklärchliche Kommentare, Fussball und Mao, Piratinnen auf Inseln, die Gestaltung von Rändern, Silberschalen aus Gischt, Kammertöne der Täler, eine Verneinung Einsteins, das offene Herz Jesu und eines ohne Verstand, Andreas Okopenko, ein poetischer Sucher des Fluidums, Frauenfrühstücke in der WG, eine Bitte sich räuspern zu dürfen, abgepellte Augenfolien uvm.

INHALT:

Trost

Wenn ich so stumpf, fast blind,
fast wie hinter allen Wolken,

auf dieses Regalbauen hier blicke und wieder
vom zweiten bis zum zehnten Mal nicht mehr weiß,
was der gleiche nächste Schritt sein wird, Schritt war,

habe ich doch im eigenen Blick erquickend
das sternichte Erkennen der ursprünglichen Pyramidenvolumenberechner,

und nur, weil seit ihnen so viel
vergangen & aufgehäuft ist,

blicke ich stumpf, dumpf, fast blind.

Howard Koch nach Orson Welles 2010

••• Was ich mit Ablenkungen meinte? Da kann ich mit einem Beispiel dienen, das literarische Qualitäten aufweist. Erinnert sich jemand an Howard Kochs literarischen Handstreich von 1938? Orson Welles hatte seinen Roman »Krieg der Welten« zu einem Hörspiel umgearbeitet. Inszeniert wurde es vom Mercury Theater in Form einer fiktiven Reportage nach einer Adaption von Howard Koch. Der amerikanische Radiosender CBS strahlte es am Abend vor Halloween am 30. Oktober 1938 aus. Dazu wurde der Handlungsort von England nach Grover’s Mill (New Jersey) in den USA verlegt und die Geschichte entsprechend angepasst.

Das Hörspiel führte Zeitungsberichten zufolge zu heftigen Irritationen bei der Bevölkerung von New York und New Jersey, die teilweise das Hörspiel für eine authentische Reportage hielt und einen tatsächlichen Angriff Außerirdischer befürchtete. Die Berichterstattung über diese Vorfälle machte die Sendung und damit auch den jungen Orson Welles weltberühmt. Einige Beschreibungen einer landesweiten Massenpanik sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Die kommunikations- und literaturwissenschaftliche Forschungsliteratur, allen voran eine Feld-Untersuchung von Hadley Cantril aus dem Jahr 1940, stellen die allzu gerne geäußerte kopflose Hysterie in Frage. Vielmehr war Orson Welles mitten in einen Medienkrieg geraten; ein Bericht unterstellte Orson Welles sogar, für den Tod eines Menschen verantwortlich gewesen zu sein. Orson Welles und sein Drehbuchautor Howard Koch nutzten das Spektakel als Karrierechance. Welles gab später zu Protokoll, er habe nicht mit dem Erfolg des Hörspiels gerechnet und daher den Bezug zu Halloween hergestellt, um wenigstens irgendwie aufzufallen. (s. wikipedia)

Die galoppierende Finanzkrise bietet derzeit Nährboden für Verschwörungstheorien, die an einigen Orten im Web in einer an diesen Radio-Coup erinnernden Form ausgestaltet werden. Letzten Freitag beispielsweise machte uns im Büro ein Kollege ganz kirre mit seiner Behauptung, am kommenden Wochenende, spätestens jedoch zu Pfingsten stünde den Deutschen eine Währungsreform mit Haircut ins Haus, also nicht einfach nur eine Währungsumstellung etwa zu einer DM 2.0 mit festem Umrechnungskurs gegenüber dem abgewirtschafteten Euro, sondern eine echte Währungsreform, bei der Guthaben nur bis zu einem bestimmten Niveau fest getauscht, Guthaben darüber jedoch entwertet würden. Wie so etwas funktioniert, kann man in der Wikipedia nachlesen, beispielsweise in dem sehr ausführlichen Artikel über die Währungsreform in Deutschland 1948, als die DM eingeführt wurde.

Die Quelle, auf die sich der Kollege berief, ist eine Website, deren Inhaber mit Edelmetallen handelt, also ein gewisses Interesse an Panik gegenüber den so genannten Fiat-Währungen hat. Die Website ist technisch in grausigem Zustand. Aber die ständig aktualisierten Infoseiten zur offenbar unausweichlichen Währungsreform in Deutschland sind lesenswert. Und bitte: wenn ihr dort lest, beobachtet, was diese Texte mit euch anstellen.

Howard Koch und Orson Welles hätten es nicht besser machen können. Der Funke des Zweifels wird überspringen, wenn nach der Lektüre nicht sogar der eine oder andere fest überzeugt sein wird, dass die DM 2.0 am kommenden Wochenende handstreichartig in Deutschland eingeführt wird. Ich meine: Immerhin ist die Polizei und das Heer schon in Alarmbereitschaft, diverse Geldtransporte wurden – getarnt als Gemüselieferungen – bei diversen Banken gesichtet. In ungezählten Geschäften werden die Preise bereits ohne Währungsangabe ausgewiesen, und auf immer mehr Kassenzetteln erscheinen die Beträge wieder in zwei Währungen (Euro und DEM, die Herzdame hatte doch letztens auch so einen Kassenzettel von unserem koscheren Metzger!). Nicht zuletzt spinnen die Banken derzeit, sehen sich außerstande, die Abgeltungssteuerbescheinigungen auszustellen oder weisen – wie gerade bei der Comdirekt – Billiardenguthaben in den Online-Depots aus, »Focus Money« titelt bereits wieder mit der DM, und und und… Wieviele Beweise braucht man denn noch?

Heute habe ich gedacht, dass es doch passender wäre, in Zeiten wie diesen eher mein Dystopie-Projekt »Pans Wiederkehr« zu verfolgen als »Diamond District«. Anderseits: Diamanten sind auch krisensicher – also: wenn man sie hat. So ein richtig heftiger Währungsschlamassel würde auch dem Diamant-Thema Auftrieb geben.

Und so etwas soll einen nicht ablenken? Ich bin heftig gespannt, ob nicht vielleicht doch was dran ist. Sollte sich Frau Merkel tatsächlich am kommenden Wochenende mit einer Rede an die Nation richten, um die Währungsreform zu verkünden? Wenn es so wäre, könnte ich nun immerhin sagen: Old news, im Turmsegler stand das schon letzte Woche.

avenue of the americas

18. May 2010

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india

~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : AVENUE OF THE AMERICAS

Ich muss Euch nicht erzählen, wo ich mich gerade befinde, liebe Violet, liebe Daisy, ich hör Euere Stimmen, hör wie Ihr scherzt, was macht er nun schon wieder, warum ist er eingeschlafen, das muss ein betäubendes Buch gewesen sein. Nun also bin ich wach geworden. Ich notiere diese Sätze in dem Wissen, dass Ihr lesen werdet, Zeichen für Zeichen, wie in diesem Augenblick erscheint, was ich schreibe. Das Notieren ist so etwas wie das Sichtbarmachen des Denkens, nicht wahr, so könnten wir das vielleicht sagen. > …

… > Unlängst spazierte ich in Euerer Angelegenheit durch Manhattan. Ich hatte meinen kleinen Fotoapparat in der Hand, stand mitten auf der Avenue of the Americas, um das neue Hippodrom-Gebäude abzulichten. Auch das wisst Ihr natürlich, wie wir dann Richtung Bryant Park spazierten, unser Gespräch über geheime Tentakeln der Bäume, die den Lärm der Stadt aus der Luft zu fangen scheinen. Und mein Begehren, gewiss, ein Eichhörnchen zu fangen, das warme Licht des hupenden Abends, meine Überlegung, wie ich Euch eines Tages einmal persönlich begegnen könnte, und mein Versprechen, ein weiteres Euerer Jugendbilder zu senden. Was Euch nicht bekannt sein wird, weil ich’s nur dachte, ich hatte in all den gemeinsamen Stunden eine verwegene Frage in meinem neugierigen Kopf. Nun, es ist kurz nach Mitternacht, werde ich diese Frage für Euch buchstabieren, unsicher ein wenig, was geschehen wird, ob ich Euch nicht zu Nahe komme, so dass Ihr aus meinen Augen verschwinden werdet. Gebt gut acht! Es ist nämlich so, dass ich mich frage, wie auch immer die Räume beschaffen sind, die für Euch ausgedacht, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!

gesendet am
18.05.2010
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von Andreas Louis Seyerlein
in particles

Fr, 18.6.10 (Sa, 19.6.10, 2:50): Schrille Stille

Von Stille kann kaum die Rede sein. Schrilles Tröten weckt den, der wie Mao „nie vor Mittag aufsteht“ (die Tatsache des erst spät Aufstehens wurde neulich in der Dokureihe „Die großen Diktatoren“ auf Phoenix dem Genossen Mao angelastet. Freilich, auch kulturrevolutionäre Massenmörder werden erst nachmittags krea[k]tiv – auch so eine Schrille der Stille).

Getrötet wird, weil die deutsche Fußballseele im Hinterhof des Sommers vorm Balkon nach der heutigen WM-Schlappe im Walde pfeift, also trötet, was meine Lunge jedenfalls „am Morgen“ noch nicht hergibt.

Wie dem sei, nur eine Anekdote (auch, wie die lautstarken Vuvuseelen die Rättlein verstören). Abends muss ich los zum chiffren-Konzert in der Landesbibliothek im Sartori&Berger-Speicher. Der Weg führt – so oder so gewandelt – durch die Kieler-Woche-Mob-Massen, dieses vergnügt-versuchte Völkchen, das aggressiv wirkt. Überall wird gepöbelt. Nichts einzuwenden gegen Feiern, allein, warum muss dabei mein Vorurteil vom Proll (nicht vom Proleten!) immer wieder bestätigt werden?

Weil auch die Stille schrill sein muss. Schreibe so vorgestimmt wie folgt:

— snip! —

Das Schrille der Stille

Neue Musik aus dem Ostseeraum in der Landesbibliothek

Kiel. Ein Spielzeugklavier tickt durch die Skalen einer imaginären Spieluhr, und vom Tonband dröhnt es düster aus von Hand betrommelten Klaviersaiten. Etwas unbehaglich mutet das an für das Wiegenlied, das Tomi Räisänen bei seinem „Dreamgate“ im Sinn hatte, nämlich das sanfte Einschlummern eines Kindes ins Reich der Träume. Was die Auslotung neuer Klangsphären betrifft, ist es dennoch das interessanteste Stück, das das Lübecker Ensemble „Neue Musik im Ostseeraum“ in Zusammenarbeit mit dem Projekt „chiffren“ und der Deutsch-Finnischen Gesellschaft am Freitag in der Landesbibliothek präsentierte.

Der Finne Räisänen, der auch über seine Komposition „Around the circle“ bereitwillig Auskunft gibt und dabei allzu naheliegende Assoziationen ans Kreisen mit seinem Klangarrangement für Flöte, Viola und Klavier, das eher spiralige Struktur hat, widerlegt, lässt das Stille oft schrill wirken – und umgekehrt. Auch „Saar“ („Insel“) für Klarinette und Violine von der Estin Helena Tulve ist klanglich nichts für romantische Robinsons. In das Gehör ebenso konzentrierenden wie verengenden Vierteltonintervallen tastet sich das Stück an ein Zentrum heran, das es doch als Geheimnis unberührt lässt. Mit bewusst schrillen Streicherhöhen arbeitet Tulve sich auch in ihrem Klaviertrio „lumineux/opaque“ an diesem geheimnisvollen Mittelpunkt Stille ab.

Juste Janulyte, Litauerin und als 1982 Geborene die jüngste Komponistin dieses Abends, fordert Klarinette, Violine und Klavier auf: „Let’s talk about shadows“! Der monochromen Musik verpflichtet, beleuchtet sie das Changieren von Klangfarben, indem sie das Spiel eines begrenzten Toninventars in lichte und schattige Momente taucht. Verwandt ist ihre Musik damit der viel älteren ihres Landsmanns Osvaldas Balakauskas. Seine 1974 komponierten „Nine springs“ (hier in der Fassung für Flöte, Cello und Klavier) erkunden sein System der „Dodekatonik“ mit nur neun Tönen, die fast klassisch modern, dabei jedoch verspielt an Volksmusik gemahnend, um die Kontraste von schrill und zart tanzen.

Veijo Meris verträumte und dennoch humorvoll antiromantische Gedichte aus dem Zyklus „Kesä ja talvi“ („Sommer und Winter“) vertonte der Deutsche Benjamin Schweitzer ebenfalls klassich modern, als säßen die Zwölftöner hinter seiner Feder. Eine treffende musikalische Sprache wie auch für Hölderlins spätes und enigmatisches Gedicht „An Zimmern“. Im Tübinger Turm sei der Dichter umnachtet gewesen, heißt es. Wie wach er dennoch war, kann man empfinden, wenn Schweitzer den Bariton Dieter Müller bei dem Vers „O Teurer, dir sag ich die Wahrheit“ aufschreien lässt. Ein schriller Schrei aus der Stille.

— snap! —

Hölderlin wieder und die Turmmetapher. Und die des Schreis aus der Stille – und der Stille im Schrei. Braucht das noch ein Gedicht als Ergänzung?

Ja, die Stille (vor diesem Schuss).

— snip! —

schrille stille

„ist irgend eins, das einer seele g’nüget? ist ein halm, ist eine gereifteste reb‘ auf erden gewachsen, die ihn nähre?“ (friedrich hölderlin / scardanelli)

schon an der mutterbrust war diese stille,
das saugen selbstgefällter existenz.
es war nur eingebor’ner wunsch, nicht wille:
bevor ich was besaß, war’s insolvenz.

„ich schrieb, ich schrie“, als kind schon buchgestäbe
in einem wort verlierend, zu verzieren
noch jeden schrei, auf dass er rasch verwehe.
in schriller stille standen brav die stiere.

wie sie vor roten tüchern blieb ich liegen,
stellte stürm’sche wecker stillend weiter.
im turm steh‘ ich, wo seine wänd‘ zerstieben.

dem grab die schrille stille vorzuschreiben,
hab‘ ich mich aufgemacht zum fortschrittschreiter.
ich bin das schaf, die hirten zu beweiden.

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wind

der erste, den die piratin auf der insel kennenlernt, ist der wind. er reißt ihr fast das rote tuch vom kopf und fegt ihr feinen sand in das eine auge, über dem sie keine klappe trägt. es wäre nicht wirklich falsch zu sagen, daß der wind, als die piratin zum ersten mal auf der insel anlegt, volantet was das zeug hält. beeindruckt stemmt sie sich gegen ihn. du bist ein großer, wunderbarer >wind!, ruft sie ihm zu. dann schaut sie kurz zurück zur euka, die sie am kai zurückgelassen hat, fest vertäut, und sieht sich um. weiter vorn, an einem gebäude, das aussieht wie ein western-saloon, läßt der wind am langen band einen hut für sie flattern. ah, ruft die piratin, danke!, denkt sich, daß, wo ein hut ist, auch einer sein wird, der ihn trägt, und macht sich auf, den besitzer zu finden. der wind aber flaut zufrieden ab und säuselt aufs meer hinaus.

strandgut

strandgut

an den rändern der insel bewegen wir uns immer wieder gerne. die gezeiten und stürme, der wind und das wasser gestalten die ränder stetig um.

nicht zu vergessen, was da vom meer heran oder frei gespült wird, “strandgut”  lässt uns in gedanken in andere welten wandern. wir denken uns für alles und jedes eine geschichte aus. heben ab, reisen in andere zeiten und träumen von fremden kulturen.

spätestens, wenn der magen knurrt und wir erschöpft gegen den wind laufen, hat uns die realität wieder eingeholt.