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Geplant war Ewigkeit (4)

24. Januar 2014

“Bist du müde?” frage ich Vater.

“Was?!”

“Ob du müde bist.”

“Müde?!”

“Ja, müde. Bist du müde?”

Sein weißes Haar steht wirr in der Luft, wie nach einer Razzia. Er überlegt eine Weile. Dann:

“Ich bin nicht glücklich. Ich bin deprimiert. Und müde.”

*

“Wenn du gleich nach Hause kommst, ist dann der älteste Sohn da?”

Einen Moment denk ich, dass er mich vielleicht mit meinem Bruder verwechselt, der hat zwei Söhne. Vater schaut mich verzweifelt an. Er ahnt, dass er etwas gesagt hat, das irgendwie nicht stimmt, doch er kann es nicht gerade rücken, nicht berichtigen, weil er nicht mehr genau weiß, was er gesagt hat. Nur, dass irgendetwas damit nicht stimmt.

Ich glaube, mit ältestem Sohn meint er Sanne.

“Ja”, antworte ich, “Sanne ist da, wenn ich gleich nach Hause komme.”

Sein Blick glüht vor Freude, dass ich ihn verstanden habe.

*

Als das Abendbrot kommt, helfe ich ihm in die Sitzposition. Sagen wir, in eine halbwegs aufrechte Liegestellung.

“Noch was höher das Kopfteil?”

“Nee, ist schon gut. Ist schon gut.”

Ich schmiere ihm ein Brot mit Butter und Käse, schneide es in kleine Stücke und füttere ihn. Dazu gibt es roten Tee. Wie im Altenheim. Da gibt es auch immer roten Tee. Alte Leute trinken roten Tee, ob im Krankenhaus, im Sanatorium, im Altenheim, im Demenzclub der Busch-Stiftung, im Hospiz. Das scheint Gesetz zu sein. Wenn ich demnächst alt bin, will ich auch roten Tee haben. Oder wenn ich tot bin. Dann spiele ich alter Mann und saufe im Himmel kannenweise Früchtetee, ihr Arschgeigen.

Vater war schon immer ein langsamer Esser, doch seit er zunehmend Hilfe benötigt beim Essen, isst er noch langsamer. Er scheint jeden Bissen im Mund fünfzig Mal hin- und her zu wälzen, umzudrehen, zu kauen und zu prüfen, wie ein Edelsteinhändler, der neuerdings in Graubrot macht.

Aber ich bin ein geduldiger Mensch. Genauso geduldig wie die Menschen in meiner näheren Umgebung geduldig mit mir sein müssen. Ich bin nämlich meines Vaters Sohn. Wir sind vom langsamen Schlag. Er kaut und kaut und kaut. Und kaut und kaut. Und wenn ich zwischendurch die Geduld verliere und schon das nächste Stückchen Brot mit Käse nachschieben will, obwohl er noch was im Mund hat und kaut, funkelt er mich böse an.

“Willst du mich ersticken?”

Die gleichen Worte, mit denen er sich früher bei Mutter beschwerte, wenn ihr eine Speise zu trocken geraten war, für seinen Geschmack.

Die Scheibe Mortadella verlangt er ohne lästiges Brot und mümmelt die Wurst in sich hinein. Nicht nur das Abendessen, auch die Medikamentengabe zur Nacht nehme ich den Schwestern ab, die nirgends so unfreundlich sind wie auf dieser Station. Durch die Bank zickige Tanten, spezialisiert auf patzige Antworten und Selbstgerechtigkeit.

“Dazu darf ich Ihnen nichts sagen.”

“Müssen Sie warten, bis der Doktor kommt.”

“Müssen Sie warten, bis der andere Doktor kommt.”

“Der Doktor kommt erst morgen. Der kann Ihnen mehr sagen. Wir wissen nichts. Und selbst wenn wir etwas wüssten, dürften wir es Ihnen nicht sagen.”

Immerhin erhalte ich auf meine Frage, ob es medizinisch unbedingt nötig gewesen sei, Vater ins Klinikum zu überweisen, prompt eine Antwort, von Stationsschwester Monika, dem schläfrigen Monstrum:

“Ja.”

Mehr dürfe sie nicht sagen, klar. Aber soviel rückt sie dann doch raus: was den Blutzucker betrifft, musste die Medikamentation neu eingestellt werden. Die Werte seien öfter mal im Keller, dann wieder im Himmel. Das erklärt auch den Traubenzucker, der sich neuerdings stets griffbereit in Vaters Nähe befindet, als erste Hilfe, falls ihm schwarz wird vor Augen.

“Ich kann nicht mehr”, prustet Vater, und einige feuchte Bröckchen Brot fliegen durchs Bett.

“Genug?”

“Ja. Ich bin satt.”

Mit einer Papierserviette berge ich Krümel von seinem Mund und von der Bettdecke, eine Aktion, die er mit weit aufgerissenen Augen verfolgt.

“Wo ist mein Alligator?”

Ich schaue mich im Zimmer um. Der Bettnachbar ist immer noch nicht zurück, seit er sein Tablett auf den Gang rausgebracht hat. Auch sonst gibt es nicht viel zu sehen. Schon gar keinen Rollator, den Vater nur noch Alligator nennt.

“Den hast du doch bestimmt im Heim gelassen, oder nicht?”

“Bei Gisela? Hab ich den bei Gisela vergessen?”

“Wieso bei Gisela?”

Gisela ist eine Bekannte aus besseren Tagen, die er seit bestimmt zwei Jahren nicht mehr getroffen hat.

“Von der Gisela hab ich heut Nacht geträumt”, meint Vater und neigt mir vertraulich den Kopf zu. “Obwohl es bei ihr nicht mehr viel zu träumen gibt.”

Er gluckst schelmisch.

Bald ist der Rollator vergessen, Gisela ist vergessen, das Abendbrot ist vergessen. Und plötzlich wird er ernst.

“Ich hab manchmal Angst, Andreas”, sagt er. Wenn er mich beim Vornamen anspricht, weiß ich, dass es dicke kommt. “Angst davor, was kommt.”

Und so oft ich auch sonst blöde Gegenfragen stelle, aus lauter Hilflosigkeit, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, in diesem Moment halte ich meine Klappe und sage gar nichts. Ich weiß natürlich, dass er unter all der Dunkelheit um ihn herum leidet, unter der Einsamkeit, und das wir Kinder ihm dabei nicht groß helfen können, so oft wir ihn auch besuchen.

“Haben wir nichts Süßes hier?” fragt er.

“Hm, ich kann was holen, unten in der Cafeteria.”

“Würdest du das tun?”

“Na klar. Bin schon unterwegs.”

Ich kaufe eine Packung Kaffeegebäck Schoko-Traum, die er fast alleine verputzt.

Waffelröllchen, Biscuit.

“Du haust aber ganz schön rein.”

“Ja nun, was soll ich sonst machen? Was bleibt sonst noch übrig? Soll ich auf meine alten Tage das Rauchen anfangen?”

Er greift ein letztes Mal in die Kekspackung und entnimmt ein Plätzchen. Von der Wärme im Krankenzimmer ist die Schokolade geschmolzen und bleibt an seinen Fingern kleben. In den folgenden Minuten, die wir schweigend verbringen, muss er sich mit der Hand durchs Gesicht gewischt haben, denn das nächste, was ich sage, als ich ihn mir näher betrachte, ist bloß ein einziges Wort, he,

“Schokoschnute!”

substanz (etkobjects)

Untersatz-Objekt (Readymade)

substanz
Untersatz-Objekt
Aus der Reihe: etkobjects
April 2014, 2 S., 93 x 93 x 1.4 mm, bedruckte Pappe
ISBN: 978-3-905846-27-0, €16 / 20 SFr
(=SET: 20er-Einheit mit Display)

substanz hält ihren inhalt auf abstand.
substanz ist das medium ihrer wahl.
substanz macht ihr leben einfacher.
substanz ist wesen ohne grund.
substanz ist saugfähig und beschreibbar.
substanz gibt es schwarz auf weiss.
substanz ist oberflächlich, räumlich, binär.
substanz ist form und inhalt.
substanz hat drei punkte.
substanz ist aus bedrucktem papier.
substanz ist ein fächer.
substanz kann man lernen.

MEHR …

luftwesen

9

sierra : 0.14 — Kurz nach Mit­ter­nacht. Fol­gen­des: Eine Drohne in der Gestalt eines Koli­bris sta­tio­niert seit weni­gen Minu­ten in einem Abstand von 1.5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beob­ach­ten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in mei­nem Zim­mer her­um­ge­flo­gen, hatte mei­nen Kak­te­en­tisch unter­sucht, meine Bücher, das Later­nen­si­gnal­licht, wel­ches ich vom Groß­va­ter erbte, auch meine Papiere, Foto­gra­fien, Schreib­werk­zeuge. Ruck­ar­tig ver­la­gerte das Luft­tier seine Posi­tion von Gegen­stand zu Gegen­stand. Ich glaube, in den Momen­ten des Still­stan­des wur­den Auf­nah­men gefer­tigt, genau in der Art und Weise wie in die­sem Moment eine Auf­nahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeits­sofa sitze und so tue als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich ver­sucht bin, tat­säch­lich für einen Koli­bri­vo­gel zu hal­ten, war zunächst nichts zu hören gewe­sen, kei­ner­lei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minu­ten, meine ich einen leise pfei­fen­den Luft­zug zu ver­neh­men, der von den nicht sicht­ba­ren Flü­geln des Luft­we­sens aus­zu­ge­hen scheint. Diese Flü­gel bewe­gen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahr­zu­neh­men sind. Ein wei­te­res, ein hel­les fei­nes Geräusch ist zu hören, ein Wis­pern. Die­ses Wis­pern scheint von dem Schna­bel des Koli­bris her zu kom­men. Ich habe die­sen Schna­bel zunächst für eine Attrappe gehal­ten, jetzt aber halte ich für mög­lich, dass der Droh­nen­vo­gel doch mit die­sem Schna­bel spricht, also viel­leicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natür­lich nicht sagen, was er mit­tei­len möchte. Es ist denk­bar, dass viel­leicht eine ent­fernte Stimme aus dem Schna­bel zu mir spricht, ja, das ist denk­bar. Nun war­ten wir ein­mal ab, ob der kleine spre­chende Vogel sich mir nähern und viel­leicht in eines mei­ner Ohren spre­chen wird. — stop

Editorische Notiz

••• Es geschieht nicht oft, dass ein Buch ein zweites Leben geschenkt bekommt. Einmal in der Welt, ist es für gewöhnlich dazu verurteilt, zu bleiben, wie es geboren wurde. Keine Entwicklung, kein Reifen. Da haben Autoren es besser. »Das Alphabet des Juda Liva« war mein Debüt-Roman. Als ich begann, ihn zu schreiben, war ich 21 und hätte mit Vehemenz behauptet, dass ich nie auch nur ein Wort an diesem Text würde ändern wollen. Wie man sich irren kann!

Die Originalausgabe ist 1995 im Ammann-Verlag, Zürich, erschienen und seit vielen Jahren vergriffen, ebenso die Taschenbuchausgabe, die 1998 bei dtv erschien. Als ich meinem Verleger vorschlug, eine Neuausgabe zu machen, hatte ich eigentlich nur im Sinn, dass der Text zugänglich bleiben soll. Dann aber begann eine Auseinandersetzung mit dem Roman, wie ich sie nicht erwartet hatte.

Als ich das Buch nach so vielen Jahren noch einmal gelesen hatte, wusste ich, dass ich den Text in der vorliegenden Form nicht erneut publiziert sehen wollte. »Es gibt kein wirkliches Gelingen«, heißt es im Kapitel 16: »Nur verschiedene Grade des Scheiterns.« Ich erinnerte mich sehr gut daran, was ich hatte schaffen wollen, und mit dem zeitlichen Abstand fühlte ich mich gescheitert. Ich meine gar nicht die echten Fehler, von denen es einige gab, zu viele! Geschichte und Konstruktion begeisterten mich wieder wie damals, aber was die Sprache betrifft, hätte ich den Autor von damals am liebsten an den Ohren gepackt: Was hast du dir nur dabei gedacht?!

Ich würde den Text überarbeiten müssen. So viel war klar. Aber »redlich«. Ich wollte nichts umstellen, nichts hinzufügen, aber unbedingt kürzen!

Ich arbeite elektronisch, allerdings nur bis zur Abgabe des Typoskripts an den Verlag. Korrekturen mache ich dann lieber auf Papier, in den Fahnen. So war es damals auch beim »Alphabet«. Eine elektronische Version des veröffentlichten Textes ließ sich nicht mehr auftreiben. Zur Verfügung standen lediglich die elektronische Fassung meines Originals, ein Ausdruck dieser Fassung mit sparsamen Korrekturen und natürlich das gedruckte Buch. Ich beschloss, die Bearbeitung auf Basis des Originalmanuskripts zu versuchen. Im Mai 2012 entstand eine erste Neufassung. Die gab ich meiner Lektorin, und als wir einige Monate später ihre Anmerkungen durchgingen, wurde mir klar, dass sie und zuvor natürlich ich selbst noch viel zu zaghaft gewesen waren. Ich würde noch einmal Satz für Satz durch den Text gehen müssen und zwar schonungslos.

Ich arbeite selbst gern als Lektor mit Autoren, seit ich in meiner Zeit als angestellter Journalist Tag für Tag mit dem Redigieren der Texte von anderen beschäftigt war. Ich wollte versuchen, nun meinen eigenen Text so zu behandeln, als wäre ich lediglich Lektor. Als solcher habe ich meine Autoren nie geschont. Sie hatten, im Gegenteil, einiges auszustehen. Das musste ich mir auch selbst zumuten können.

Eine Zumutung bedeutete das Vorhaben aber zunächst für die Frau, mit der ich, während der Roman 1991/92 entstand, zusammenlebte. Sie ist noch heute eine enge Freundin und erklärte sich bereit, eine Fassung zu erstellen, in der die Korrekturen des Ammann-Lektorats und meine Überarbeitungen aus der ersten Neufassung farblich gekennzeichnet waren. Hinzu kamen wertvolle Anmerkungen. Ihr Gedächtnis funktioniert besser und anders als meines, und sie erinnerte sich im Gegensatz zu mir noch an diverse Debatten auch inhaltlicher Natur. Es muss eine aufreibende Fleiß- und Erinnerungsarbeit gewesen sein, für die ich umso dankbarer bin, da die Auseinandersetzung mit dem Text durchaus auch eine persönliche war.

Egon Ammanns Lektoratshinweise waren, wie ich nun sehen konnte, ausgezeichnet. Wahrscheinlich wäre er damals schon gern weiter gegangen, als wir es taten. Aber ich gehe davon aus, dass es kein Spaß gewesen ist, mit mir zu diskutieren. Jetzt immerhin durfte ich dem Autor von damals seine Marotten austreiben, seine »Kunststückchen« eliminieren und kürzen, dass es ihn in seinem damaligen Selbstverständnis um den Verstand gebracht hätte.

Die Bearbeitung ist redlich geblieben. Neben den Kürzungen und Korrekturen wurden Rechtschreibung und Zeichensetzung so angepasst, wie ich es auch in meinen anderen Romanen handhabe. Gewissen Scheußlichkeiten der neuen Rechtschreibung werde ich mich auch weiter verweigern, und für die Zeichensetzung in der wörtlichen Rede habe ich gute Gründe.

Der Text dieser Neuausgabe ist also nicht nur gründlich und kritisch durchgesehen. Es ist eine Neufassung, die sich deutlich von der Originalausgabe unterscheidet. Sollte sie nicht also auch aus eigenem Recht einen neuen Titel erhalten? Der Maharal, der Hohe Rabbi Löw von Prag, hieß Jehuda ben Bezalel Löw. Niemand außer dem Autor dieses Romans hat ihn je als Juda Liva erwähnt. Fragen sie mich nicht, warum ich einmal meinte, ihn so nennen zu müssen. Ich weiß es nicht mehr! Und so lautet der Titel nun »Das Alphabet des Rabbi Löw«. Denn ein Löwe war er, der Maharal, ein König unter den Mystikern. Sein Werk und die Legenden um ihn begeistern mich heute noch unvermindert, und gern würde ich ihm oder einer Reinkarnation von ihm begegnen.

Ich weiß, ich sollte vorsichtiger sein mit meinen Wünschen…

»Das Alphabet des Rabbi Löw« wird in einer schönen Druckausgabe in Leinen Anfang nächsten Jahres im Verbrecher-Verlag erscheinen.

Mythologies

LORENZO LOTTO : KEIN BLIND DATE

Und da wir schon einmal im Kunsthistorischen Museum sind , und da eine heilignüchterne Stimmung an diesem Schliesstag an der Atmosphäre der stickigen Räume parasitiert . Und wo wir doch eben bei den Italienern des Cinquecento und Seicento sind . Da wird doch ein Rendez- Vous fällig , welches über Jahre hinweg zum unantastbaren Ritual sich verfestigt hat . Jeder Besuch des Museums führt daher zwangsläufig zu Lorenzo Lotto , dessen Portraits in einer durch Jalousien abgeschatteten Aussengalerie hängen .

Da aber nun der Aufseher , den uns die Museumsverwaltung mitgab , um schädliche Faktoren wie Blitzlicht oder Bilkderklau zu unterbinden , lieber im relativ kühlen Raum innerhalb der Saalfluchten der Gemäldegalerie auf einem der Sofas ruht . Da aber werden wir uns in die beträchtlich sommerheisse Galerie begeben wo wir – mangels Aufsicht – in unmittelbare Nähe zu den Bildnissen treten und fotografieren können . Wobei “Fotografieren” ( das werden wir auch bei Rubens erfahren ) , eine körperlich und geistig zehrende Komponente aufweist , egal ob im Hinblick auf die Konzentration oder all der Turnübungen beim Fokussieren , sei dies mit Stativ oder ohne . Letzteres ist natürlich der blanke Wahnsinn bei der hier nötigen Belichtungszeit von einer unendlichen Sekunde .

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copyright Zintzen_Lorenzo Lotto_Poertrait Jüngling mit Tierpranke

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TIER- ODER LÖWENPRANKE

Gleichwie : Lorenzo Lottos “Portrait eines Mannes mit Tierpranke” ( 1527 ) hängt wie eh und je an seinem Platz . Immer wieder überraschend erscheint  der effeminierte Schmelz von Gesicht und Blick , wo doch die ganze Inszenierung mit dem mächtigen fellverbrämten Mantel , den kostbaren Ringen an seiner Rechten und womöglich auch der Tiertatze in seiner Linken auf Macht und Reichtum des noch jungen Mannes verweisen . Bis heute weiss man nicht , wer dieser Androgyn mit sekundären männlichen Attributen gewesen sein könnte . Der da seine Rechte aufs Herz legt , mit der Linken die kleine Tatze geradezu vorführt .

Spielt sich hier jemand als Herrscher über Leben und Tod auf oder schmückt sich mit einem sozusagen tierisch wildem Attribut ? – Der im Deutschen kursierende Titel “Mann mit der Tierpranke” schickt unser Klassifikation- Bestreben vergeblich in die Kreise der Marder , Frettchen und ähnlicher Kleinräuber . Dieser Ungewissheit im deutschern Titel steht im Gegensatz zur englischen Version , welche die ominöse Tatze offen als einer gewissen Species angehgörig behauptet :”Portrait of a Gentleman with a Lion Paw” .

Die winzige Löwenklaue zeigte sich solcherart als Machtmotiv , welches das Gestern wie das Heute und das Morgen anbelangt . Wurde in der Vergangenheit das Tier überwältigt und die Pranke vom Körper des Tieres abgehackt , füllt das Zeigen der Trophäe – unterstützt von der Geste , welche womöglich als Zeichen von Innigkeit oder als Bekräftigung von Wahrhaftigkeit zu deuten wäre – ganz die Gegenwart . Für die Zukunft könnte der Löwenfuss einerseits als Objekt apotropäischen Zaubers gelten  ( “kein Löwe , sei dieser menschlich oder ein Tier , wird mich fällen ” ) . Anderseits möge dies hier eine Art Gelübde vorstellen : auf die Winzigkeit der Pranke bezogen folgt ein Ausdruck stiller Gewissheit , in Zukunft grössere Tatzen zu erjagen .

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copyright Zintzen_Lorenzo Lotto_Poertrait Jüngling mit Tierpranke

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SPIEGEL – BILD

Womit der Jüngling sich als Herrscher selbst über den König der Tiere stellt . Als Gegenüber sollte man nicht das im selben Jahr ausgeführte “Potrait des Andrea Odoni” übersehen , wo ein Gelehrter ? Künstler ? inmitten seiner Sammlung von antiken Statuen portraitiert wird : In unübersehbarer Analogie zum “PrankenBild” umfasst und zeigt seine Hand eine kleine Statuette ( womöglich eine Diana von Ephesus ) während die andere Hand , wiederum sehr suggestiv , an die Herzgegend rührt .

Von Interesse ist dabei der Unterschied , ja die Gegensätzlichkeit der HandHaltungen : Ist es im “PrankenBild” die Linke , welche die Trophäe hält und zeigt , derweil die Rechte expressiv über dem Herzen liegt , verhält es sich im “Potrait des Andrea Odoni” geradezu umgekehrt . Hier ist es die Rechte , welche die Statuetten- “Trophäe” vorführt , während die Linke in der Herzgegend zu liegen kommt .

Vielleicht ist diese Verzahnung der Portraits , die in beiden Bildern sehr bewusst inszenierten weiblichen und männlichen Attribute und nicht zuletzt der jeweils expressiv gezeigte Fetisch eine Bekräftigung eines bestimmten Symbolgewebes . Jedenfalls ist es fruchtbar , die beiden Bildnisse als ineinander gespiegelt zu betrachten .

Parkettknarren , Schlurfen , Hüsteln kündigen die sich nähernde Gegenwart des Aufpassers an . Wobei er sein Exemplar der Neuen Kronen Zeitung als kühlenden Fächer neben seinem Gesicht bewegt : Der auf Billigpapier gedruckte Boulevard stinkt ziemlich real und nicht lediglich symbolisch .

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-19

ex ill text

wo bin ich, wann? warum?
fett auf dem klappstuhl der existenz
unter tastentänzer|nnen im ballettsaal
heute abend, beauftragt.

was war ich, werde? dann?
junger pionier mit castriertem bart
zwischen papier und zigarettenblättchen,
gekauft vom herzkranzgeld.

wie würd’ ich schreiten?
auf nacktem versfuß wege, die wär’n nicht so
wie ich geworden, was ich schrieb
als agnus meines hirten text.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-04-07

Kurztitel & Kontexte bis 2013-01-20

die schrift meines vaters

14. Dezember 2012

pic

nordpol : 7.05 – Dass mein Vater älter wurde und müde, war seiner Schrift deutlich anzusehen. Die Buchstaben wurden kleiner, manche standen senkrecht, andere neigten sich einer unsichtbaren Linie zu, auf der sie sich wortweise vorwärts bewegten. Ich könnte sagen, die Schrift meines Vaters wirkte so, als wäre ein Sturm seitwärts über sie hinweggefahren, zerzaust, und doch waren alle notwendigen Buchstaben für jedes der Wörter, die mein Vater geschrieben hatte, gesetzt. Er notierte zuletzt gerne mit Hilfe der Tastatur seiner Computermaschine, das war nicht so anstrengend, er vermochte die Größe der Zeichen zu variieren, so dass er sehen konnte, was er gerade auf den Bildschirm brachte. Einmal musste mein Vater einen Brief unterzeichnen, es war ein Oktobertag, mein Vater wartete lange Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruhte, hielt den Stift, den man ihm gereicht hatte, in der Hand, betrachtete diesen Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, er zögerte den Moment hinaus, da er mit der Aufzeichnung seines Namens beginnen würde. In diesem Moment ahnte ich, dass mein Vater seinen Namen malen würde, dass seine nichtbewusste Signatur, die ein Leben lang gültig gewesen war, nicht länger zu existieren schien, oder dass er unter den Augen eines Beobachters sich nicht länger traute, seine ureigene Signatur auszuführen. Ja, mein Vater fürchtete sich, weil der Wind der vergehenden Zeit seine Schrift erfasste. Sie war einmal eine akkurate Schrift gewesen, eine Schrift wie gedruckt, sie notierte komplizierte mathematische Formeln, ohne je ihre Fassung auf den Papieren zu verlieren. Als Junge beschloss ich, diese Geheimschrift der Zahlen und Wörter zu entschlüsseln, bis sie noch vor meinem Vater selbst zu verschwinden begann. Zurückgeblieben sind nun seine Stifte in einer Schublade: Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Buntstifte, auch ein Werkzeug, mit dem man in weisser Farbe notieren kann, vielleicht um zu korrigieren, vielleicht um Nichtsichtbares auf das Papier zu setzen. – stop

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