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Das direkte Streuen der Herzen war grundlos

Andere originelle Theile schwebten herbei; choreografiert
    (hohes Maß an Step 1, Step 2)
    aufgemalte Schritte, Gold=Step Silber=Step
    (Vaslav Nijinsky tanzt einen Faun, übergibt sich erst später hinter
der Bühne in das Costume der ihm schwanenden Kollegin, Pirouettchen
Pinimini. Während die Kotze zu einer Giraffe verläuft, züngelt ihr
Sopran heroisch
    – Ich nehme alles
    erhebt sich & hüpft gen Umkleide; setzt sich centimeter tiefer
auf einen Stein, seine Wanderschaft ebenfalls ein Geheimnis, wie sein
Schall, sein Alter; Bergfüße ragen oben seitwärts heraus, dieses
verblüffende Gaze, seine Formwandlungen. Noch habe ich nicht die Farben
erkannt, bleiche Tochter, grüngelb die Farben
    (oder das ausgebeinte Husarenstück)
    Kamm des Gestern, schön weit hoch von ungerühmter Abstinenz der
Klänge, außerhalb der verpothenen Zone steht die mobile Maniküre bereit;
Tromm frrrr elwirbel : Ovatter, könntest Dich mit dem
Rappen=Punzel messen : die Landsknecht=Trommeln sonoren langkammrig, die
Schnarre verunglimpft Stille, zunächst leise, dann immer lauter, jung,
schön, mit prächtigem Blondhaar. Es wird später gewesen seyn eine
vollkommene Hinrichtung mit eigenem Herd
    (Siedwasser sprudelt & sproint munter für den Thee nachher, der
hat ein wenig was von jedem & jeder darf mal munden mündeln müffeln)
    die Ilias liegt auf dem Tüsch, sanftes Schwertklirren entweicht dem
liebenswerthen Taschenbuch, fantastischer Morast, wenn man die Seiten
blättert)
    sie trat aus dem Haus, konnte frey sprechen im lodernden Gras,
Farbklatsch stand unter den Bänken mit dem Horn, kümmerte sich um den
Rest. Irgendwann hatte es immer einen Anlaß gegeben, war etwas
Unerklärliches geschehen, so daß die Sonne mit ihrer Kraft aufscheinen
konnte. Am Waldrand bewegte sich etwas, wo das Haus mit den 100 Köpfen
stand.
    Sie
    (die früher eine Serviette war)
    trug ihre Schuhe in
den Händen, eigentlich elegant an den Fingern, zu klein ihr Ring, zu
klein auch das Kettchen mit einem Bild von morgen, leuchtend im
Thorbogen, gemeißelt aus Ardennenstein. Allerdings gab es eine
Eigenschaft, die verschwiegen bleiben mußte, aufzusuchen mit geringer
Qualität.
    Er bekam Antwort vor Holzdächern & hölzernen
Pfannen von einem Mädchen mit langen blonden Zöpfen, mit dem Finger nach
rechts schlug sie einen Kreis. Ein heilloses Durcheinander durch eine
trübe Tasse erspechtet, verzerrt spuckend; die Eckkneipe : da trampelt
sie schon herein, schreit
    – Alle mal herhörn ! Wer !?
    aber
das wußte keiner, niemand wußte es, dem Hydranten zum Trotz, von
Feuerbowle genaschter Falt=Tropfen, Abfall abgefallen, außerhalb links :
Sonnenschein
    (derselbe von oben & weiter unten im Text)
    noch im Eckenerkerfenster.
    Sie nahm den alten Rasierpinsel ihres verstorbenen Mannes aus der Schublade, tauchte ihn in das Blutgefäß
    (ein schönes & werthvolles Erbstück ihrer geisteskranken Muhme)
    und pinselte sich den Teint – man mag es drehen und wenden – rot.
    – Wo ist der Daimonenjunge mit dem Kopf ?
   
es gab Essen in schaler Dunkelheit. Es gab Gebein unter dem
Schreibtisch, abgeschabt, staubumfangen. Viele dieser Aufzeichnungen
gingen im Feuer auf, die Buchstaben verendeten in der Luft, der
Geschmack war der nach Zitroneneis. Aus dem Geist des Pedals erhoben
sich unbekannte Formen, man kann nicht behaupten, daß es einen
Anhaltspunkt dafür gab, ein Gerücht, vielleicht auch mehrere, gesäht von
einem zweifelnden Mund, dem bald die Lippen sprangen, die Fetzen Blüten
ergaben.
    Als die Sache aufflog
    (ein Marsch in den Süden)
    sündige
Beine rasiert & voller Autobahn. Die Klinke war gebogen & aus
Metall, eine kühle Halle mit Rauhputz & Kahlheit : die Reden der
Königin in Ausschnitten, ein halbes Bureau, einfach nur Halluzination,
auf den Tischen traten kleine Lampen auf, Du kennst sicherlich die
Geschichte dieses kleinen Landes, die verurtheilten Todesmasken,
Freybier & auch kostenlosen Wein. Weiter vorn brannte kein Licht,
die Lichter des Dorfes; wo er hinschaute, nur Gesichter – und kein
Gesicht hatte der Zahn der Zeit zerstört. Das Haar schimmerte fast
golden, ein Stirnband hielt die Flut zusammen. Schattenhaft die Umrisse,
Dunkelheit nur ihr Schatten. Ich mußte vorsichtiger sein, der breite
Strom trennte beyde Gebirge, wir rollten ins Dorf, in den Fenstern
steckte natürlich kein Glas mehr, abgehauen auch : das Personal.
Weißgrüner Schimmel bedeckte die Wände, die alten Holzbänke, es gab noch
den Tresen. Hier unten roch es muffiger & feuchter, vor unseren
Fußspitzen lag ein quadratisches Loch.
    Die verdrehten Schritte näherten sich kostenlos, das Gewölbe stank
    (welch ein Wunder bey gutem Wurm, bey Regentropfen, die tiefer gingen)
    fernes Lächeln
    (die Edamer Katze)
    meist achtet der Wind nicht darauf, wo er hintritt
    (die verdrehten Schritte)
   
sein Spiel dem Zufall überlassen & nur durch das Medium großer
Künstler lernen wir die Wirklichkeit kennen, angestachelt von den
unterschiedlichen Luftschichten, aufzuklauben, was sich nicht an etwas
anderes krallt. Es waren die Gewichte, die ihn herausforderten, der
unheilvolle Geruch der Maronenbäume darf nicht durch das Fenster
drängen, der erstickende Rauch der Kamine
    (Du wirst Wasser sein, dann und wann Wasser sein)
   
hier ist das Schnitterfest vorbei, die Äpfel liegen rund & schön,
keine Schürze hängt an einem Haken, Jauche füttert die Bächlein, die
durch die Wiese gehen, ein stummes Firmament trägt die Atlaskugel, nicht
der Titan selbst
    (Missy. She was rescued by an animal charity. We had her far over 16 years, before a stroke took her away.)
   
Exploitation der Produktion ist dann zu purer Schönheit erstarrt, wer
nicht zaubern kann, billiger Stoff, verspätete Sätze im Mist
   
(auf den Balkonen drehten altehrwürdige Damen mit zitternden Händen an
den Operngläsern, die ihnen die Fruchtkolben der Jugend heranholten)
   
die Schwester erstickt beinahe brav an einem Samenschuß, den sie dann
aus ihrem falschen Hals mit Tränen schwemmt, die nie wieder so rein seyn
werden, so gemüsebrühig pikant, wie an diesem Tag der Asche, die aus
dem schlottrigen blankbusigen Schlot pfeift, Fruchtfleisch des Lichtes
also, Raumleib & Leib in Zeitgang
    (affentheuerlich & naupengeheuerlich)
   
wir kommen in keinem Buch vor, in das wir uns nicht selbert
hineinschreiben. Angeschissene Wände sieht der Wanderer auf sich zu
   
Blutkloaken, abgerissene Euter von Mensch & Maschine, Sickergruben
& Sand, Geklapper entzwei’ner Dachrinnen, Daimonenspocker &
Ratten Ratten Ratten, mit den Schwänzen anWäscheleinen geklammert
    (die verdrehten Schritte)
    – Hallo!
    (und ich auch : Hallo!)

DAS HERZ DES VERBRECHENS (oder: George, Dick und Don)

Das Erste, was sie versuchten, nachdem die Wirkung der Sedative nachließ, war die Tapete abzukratzen. Beziehungsweise das, was sie zunächst für eine Tapete hielten. Ihre Reaktion war verständlich. Die Wände dieser gigantischen Halle, in der sie erwachten, waren von oben bis unten mit Bildern und Inschriften versehen. Großformatigen Fotografien von Eingeweiden, die aus Bäuchen platzten, zerfetzte Beine, aus denen Knochenteile ragten, verbrannte Leichenteile, schreiende Mütter hinter Lastwagen, auf denen ihre Söhne abtransportiert wurden, Trauernde, die Kindersärgen folgten, Szenen aus notdürftigen OPs, wo mit Sägen Extremitäten abgetrennt wurden, Brandwunden an Armen, Beinen und in Gesichtern, glatte Durchschüsse und mit Schrot versehrte Körper; alle zehn- oder hundertfach vergrößert; die Farbigkeit – Blut, Blut, Blut überall – extrem übersättigt oder aber brutal in Schwarzweiß-Kontraste gesetzt. Kein Wunder, dass sie die Schriften zunächst nicht beachteten. Ortsangaben und Jahreszahlen waren es zumeist, Namen und Altersangaben; versteckter, kleiner waren die Botschaften angebracht, die sich unmittelbar an die drei Gefangenen richteten.
 
Es war keine Tapete, das bemerkten sie schnell. Die Bilder und Wände waren mit etwas wie Lack überzogen, an dem ihre Nägel sich abschürften, aber keine Spuren hinterließen, nicht einmal Kratzer. Dick war es, der sich zu Anfang am meisten aufregte. Er begriff: Sie waren in die Hände der Feinde gefallen; sie waren entführt, gefangen und sollten bestraft werden. Er fluchte und beschimpfte die, von denen er glaubte, dass sie dahinter steckten. Dann stieß er Drohungen aus. Er folgte damit einem psychischen Muster, das sich als effektiv erwiesen hatte: Den Gegner definieren, aus der Verbindung von Wut und Selbstgerechtigkeit jene Klarheit erzeugen, die alle Skrupel ausblendet und zur Vernichtung befähigt. Mit dieser drohte er, wie gewohnt und bewährt, laut, dröhnend. Doch damit waren die Parallelen zu seinen bisherigen Manövern erschöpft. Dick, der ihre Verbrechen geplant und arrangiert hatte, war in dieser Halle erstmals plan- und hilflos. Denn der Gegner gab sich nicht zu erkennen und stellte nichts zur Verfügung, womit Dick arbeiten konnte. Dick hatte hier keine Macht. Das zu erkennen, kostete ihn, den Analytiker und Schnelldenker mehrere Stunden. Stunden, in denen er in der Halle herummarschierte, schrie, tobte, ätzte, seine Wut gegen die beiden Mitgefangenen richtete, seine Drohungen erneuerte. Selbstverständlich war es auch Dick, der die Kameras hoch oben unter der Decke der Halle zuerst entdeckte und der glaubte, in jenen ersten Stunden und Tagen zumindest, er könne sie nutzen, um eine Kommunikation anzufangen, einen Deal  einzuleiten, durch den er sich herausschwätzen und -lügen könnte, zur Not, das zeigte sich, auch auf Kosten und zu Lasten seiner Mitgefangenen. Dennoch gelang es Dick schließlich die Kälte und Präzision, mit er vordem den Apparat der Macht in Gang gesetzt hatte, mit seinem Selbsterhaltungstrieb zu verbinden. Er wusste, wie gefährlich es für ihn, der das fremde Herz in sich trug, war, sich so maßlos zu erregen. Er zwang sich nach und nach zur Ruhe, zunächst zu einer äußeren, die er schließlich in eine innere umzuwandeln wusste, ohne indes seine Wut preiszugeben; sie lediglich in eisige Kälte verwandelnd. Auch kam ihm dadurch die Idee, seine Anfälligkeit zu nutzen. Am zweiten Tag simulierte er eine Herzattacke, worauf aber zu seinem Erstaunen und Erschrecken keinerlei Reaktion erfolgte. Das war der Moment, in dem sogar Dick die Angst bis in sein kaltes Herz griff, feurig und böse, so arg, das er noch bleicher wurde und still, so dass beinahe seine Simulation echt geworden und er schon an diesem zweiten Tag verschieden wäre.
 
George kam von Anfang an mit der Situation am besten zu recht, soweit man überhaupt unter den gegebenen Umständen von so etwas sprechen kann. Die Langeweile machte ihm am wenigsten zu schaffen. Während Don und Dick immer häufiger die Inschriften und Botschaften studierten und über deren Interpretation miteinander stritten, verbrachte George viel Zeit mit Schlafen oder Beten. Er teilte sich seine Essensrationen sorgfältig ein, kaute stundenlang auf einem Brötchen und nahm nur alle Stunde einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Mit den anderen beiden sprach er wenig. Er hatte auch früher schon wenig zu sagen gehabt. Instinktiv spürte er, dass er leicht durch eine unbedachte Bemerkung den Zorn, ja den Hass der beiden anderen auf sich ziehen konnte und er wusste nur zu gut, dass er zu unbedachten Bemerkungen neigte. Er fand seinen Frieden in seinen Zwiegesprächen mit Gott und obwohl alle drei keinerlei Gewissensbisse plagten, war es George, der am ehesten mit der Ungerechtigkeit umgehen konnte, der sie ausgesetzt waren. Denn George war zwar verwöhnt von seinen Eltern und seiner Frau, doch andererseits war George auch bereit, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Er hatte sich niemals sehr anstrengen müssen. George vertraute darauf, dass am Ende doch immer alles gut und zu seinen Gunsten ausgehen würde, denn so war er es gewohnt. Er wartete ab und es war gerade das, was die anderen beiden so reizte.
 
Selbstverständlich kannten sie das schon an ihm und hatten es sogar genutzt, damals als George, Don und Dick an den Hebeln der Macht gesessen hatten. George war ihr Frontmann gewesen, Don das Kampfschwein und Dick die graue Eminenz im Hintergrund. Dick hatte die Pläne und Allianzen geschmiedet, erpresst, bedroht und belogen, Don hatte einsperren, töten und foltern lassen und George hatte das Ganze als Krieg gegen das Böse verkauft. Damit waren sie gut durchgekommen und hatten sogar noch einiges dran verdient. Nicht dass sie es nötig gehabt hätten. Sie hatten sich in den Dienst der Sache und des Landes gestellt, sie hatten – so hatten sie gesagt – ihre Skrupel und Bedenken beiseite geschoben und die Herausforderung angenommen, vor die sie gestellt waren. Dass weder Dick noch Don irgendwelche Skrupel hatten überwinden müssen, brauchten sie einander nicht zu gestehen, aber George ließen sie in dem Glauben. Sie ließen ihn überhaupt über manches im Unklaren. Das half ihm sein unbeschwertes Bubengrinsen zu bewahren und eröffnete ihnen Spielräume im Verborgenen. Natürlich hatten auch sie, so raunten sie es nun einander zu, der Versuchung nicht widerstehen können, zumindest einen Teil ihrer Taten für Gott und Vaterland auch öffentlich zu machen. Sie hatten sie sich nach Ruhm ebenso sehr gesehnt wie nach Verschwiegenheit. Da hätten sie einiges besser und effektiver abwickeln können, wurde ihnen in den Wochen in der Halle klar, wenn diese beiden Begehren nicht mit einander im Clinch gelegen hätten. Dennoch: Sie bereuten nichts. Darauf verständigten sie sich ohne Zögern und immer wieder.
 
Don hatte dieselbe Wut gefühlt, die Dick umtrieb in der ersten Zeit. Aber Dons Mittel gegen starke Emotionen war schon immer der Sarkasmus gewesen. Er ließ auch hier in der Halle öfter sein geckerndes Lachen hören, mit dem er sich lustig machte über ihre Peiniger genauso wie über seine Mitgefangenen. Dick und er wären sich sicher das eine oder andere Mal an die Kehle gegangen, hätten sie nicht beide gewusst, das jede körperliche Auseinandersetzung in ihrer beider Alter und gesundheitlichem Zustand die letzte hätte sein können. Don glaubte, darin glich er George, bis zum Schluss an einen guten Ausgang. Es sei, so machte er sich weis, eine Befreiungsaktion längst im Gange beziehungsweise der Plan der Gegner noch nicht zur Gänze ausgeführt. Es müsse etwas nachkommen, irgendein Ziel mit der Aktion verbunden sein, um dessentwillen Verhandlung aufgenommen würden, demnächst, und – daran zweifelte er nicht – in deren Verlauf die Gegner Fehler um Fehler machen würden bis sie schließlich vernichtet und er und seine Mitgefangenen befreit sein würden. Er malte sich aus, wie sie dadurch endgültig und unwiderruflich zu Helden würden, uneigennützige Beschützer der Idee von Freiheit und Demokratie. Diese Vorstellung amüsierte ihn sogar in dieser Lage köstlich.
 
Nur Dick begriff, je länger ihre Gefangenschaft andauerte, das sie es mit etwas zu tun hatten, mit einem Plan, in dem es um etwas ganz anderes ging, als um jene Machtspiele, mit denen sie Erfahrungen hatten. Es war eine Unbarmherzigkeit in dem Arrangement erkennbar, die ihn begreifen ließ, dass wer immer sie hierher gebracht und in dieser – womöglich unterirdischen, so vermutete er gelegentlich wegen der Geräuscharmut – Halle eingesperrt hatte, nichts von ihnen wollte und auch nicht die Macht angreifen, die sie einmal repräsentiert hatten. Vielmehr, so schien es ihm, ging es hier um ein Gerechtigkeitsexperiment, die empirische Überprüfung eines Theorems. Nur dass er nicht verstehen konnte, um welches. Sicherlich, ihnen wurden die Morde vorgehalten, die Drohnen, die Lügen, der Hunger, die Schmerzen, das Leid. So konnte man die Bilder und Daten verstehen. Auch die Texte gaben nur Fakten wieder. Nichts davon hätte er jemals bestritten. Für ihn las es sich nicht wie eine Anklage, sondern wie eine Huldigung, auch wenn ihm klar war, dass diejenigen, die die Texte angebracht hatten, es anders meinten. Dennoch: Es wurde keine Anklage formuliert, kein Urteil gefällt.
 
Nur wenige Textinschriften richteten sich direkt an die Insassen. Sie enthielten Instruktionen: Zur Benutzung der Toilette und der Dusche, die in einer Ecke der Halle angebracht waren (ohne jeden Sichtschutz allerdings) oder zur Öffnung des kleinen Liftschachtes, durch den ihnen einmal täglich ihre Essensration zugeführt wurde. Ihre Kost war, so wurde ihnen schriftlich an der Wand mitgeteilt, auf ihr Alter, ihr Gewicht und ihre Bewegungsmöglichkeiten abgestimmt. Auch die Matratzen, die in einer anderen Ecke ausgerollt waren, seien mit Bedacht ausgewählt worden und es werde empfohlen, jeweils die für einen bestimmte zu verwenden: blau für Dick, rot für George, weiß für Don. Sie akzeptierten das, jedoch erst nachdem sie festgestellt hatten, das auf Zuwiderhandlungen keinerlei Reaktionen erfolgte. Die Kameras überall unter der Decke beobachteten sie, aber egal, welche Faxen sie aufführten, ob sie sich krank oder tot stellten, ob sie die Matratzen durch die Halle zogen oder sich still zusammen kauerten, niemals erhielten sie eine Reaktion von denen, die sie an Bildschirmen irgendwo beobachten mussten. Jedenfalls gingen sie davon aus, dass sie beobachtet wurden. Jede andere Vorstellung wäre gar zu grässlich gewesen. Es gab sonst nicht in der Halle als die Bilderwände, die Matratzen, die Toilette, die Dusche. Das Essen kam in Plastikflaschen und auf Plastiktellern, keine Bestecke, kein Mobiliar, nichts zu zerlegen, keine Fenster, keine Luken. Die Wände der Halle waren mindestens vier Meter hoch. Sie gaben es schon am dritten Tag auf, einen Ausgang zu finden.
 
Anfangs hielt Dick gelegentlich Reden, in denen er sich gegen eine imaginäre Anklage verteidigte. Don polemisierte und posierte vor den Kameras. George verhielt sich ruhig. Sie waren einander nie sehr nahe gewesen. In den letzten Jahren vor ihrer Zusammenkunft in der Halle hatten sie sich sogar einander entfremdet. Was sie verbunden hatte, für eine gewisse Zeit, war der Kampf um die Macht und der Gebrauch der Macht gewesen. Sie hatten alle drei etwas gewollt und sie hatten sich dabei helfen können, es zu kriegen. Sie hatten sich benutzt, aber nicht gemocht. Dennoch verstanden sie sich hier in der Gefangenschaft nicht schlecht. Nach der anfänglichen Gereiztheit, den ersten Scharmützeln, richteten sie sich einigermaßen ein. Sie waren Männer mit demselben gesellschaftlichen Hintergrund, denselben Grundüberzeugungen und Benimmregeln. Daran hielten sie sich, so gut es ging, selbst in diesen orangefarbenen Overallen, die natürlich auch symbolischen Charakter hatten, wie ihnen wohl bewusst war. Die Tage schleppten sich so dahin. Die Nächte erkannten sie daran, dass für Stunden das Licht ausgeschaltet wurde. Dann kam das Essen, wenn es wieder hell wurde. Mehr Rhythmus hatte ihr Leben nicht mehr.
 
Dick fragte sich, wie lange das so gehen konnte. Wie waren sie her gelangt? Darüber war nichts zu erfahren. Ein jeder von ihnen drei war seinen ganz gewöhnlichen Tagesabläufen gefolgt und an irgendeiner Stelle herausgerissen worden, bewusstlos, da ließ sich keine Spur verfolgen, keine Gemeinsamkeit herleiten, keine unbekannte Größe enttarnen, obwohl Dick zu Anfang viel Zeit auf die Verhöre seiner Mitgefangenen verwendete. Sollten sie so sterben? Hier? An Herzversagen. Oder einer Erkältung. Konnte man sich unter diesen Umständen erkälten? Die Temperatur war gleichbleibend lau. Krebs. Man konnte sicher auch Krebs kriegen hier. Würde auch dann nichts geschehen, wenn einer von ihnen sich in Delirien wand, vor Schmerzen wimmerte? Er bereute, dass er zu Anfang einen Anfall simuliert hatte. Gesundheitlich war er der Angeschlagenste und würde wahrscheinlich als erster schlapp machen. Wenn sonst nichts mehr kam.
 
Doch dann geschah etwas. An einem Morgen (d.h. nachdem das Licht eingeschaltet worden war) fanden sie im Essenschacht neben den üblichen Rationen drei Revolver und eine Bedienungsanleitung, wie sie zu entsichern seien. Dick frohlockte innerlich. Die Entscheidung. Darum ging es also: Wer war der Stärkste unter ihnen? Wer konnte sich durchsetzen? So war das also. George wirkte lethargisch wie immer, bestenfalls ein wenig verwundert. Der konnte mit der Waffe nichts anfangen. Nicht ohne einen Plan. Einen Plan von Dick. Dick wusste, dass hier Schnelligkeit und Rücksichtslosigkeit gefragt waren. Jene Eigenschaften, in denen er den anderen beiden haushoch überlegen war. Ohne zu zögern, noch bevor George seinen ersten Schluck Wasser aus der Flasche nehmen konnte,  neben die er achtlos die Waffe gelegt hatte, erschoss Dick ihn aus nächster Nähe. In die Schläfe. Trotz seines Alters und seiner Erkrankung war Dick behände genug, die Waffe, noch bevor Don auf den Schuss reagieren konnte, auf diesen zu richten. In Dons Augen erkannte er, dass er ihm gerade noch zuvor gekommen war. Hätte Dick nicht George erschossen, hätte Don Dick niedergestreckt. Er oder ich. Am Ende lief es immer darauf hinaus. Das hatte Dick gewusst, jederzeit, und damit recht behalten. Keine Illusionen. Er hatte sich eben nie welche gemacht. Er schoss ein zweites Mal. Don. Er oder ich. Er war immer noch ein guter Schütze und die Entfernung gering. Don fiel vornüber. Danach konnte Dick sich ein Triumphgeheul nicht verkneifen. Er hatte es geschafft. Darum war es doch gegangen. Wer es schafft. Zu siegen. Hier. Unter ihnen drei. Das Experiment. Ein eindeutiger Ausgang. Er war der Sieger. Zum Siegen geboren. Mit oder ohne Herz. Ohne Herz.
 
Erschöpft ließ er sich auf seine Matratze sinken. Zufrieden. Er war mit sich zufrieden. Ziel erreicht. Ziele getroffen. Er wartete. Er wartete auf das Ergebnis. Dass jemand nun die Leichen abholte. Und ihn mitnahm. Ihm den Prozess machte. Den hatte er sich doch jetzt verdient. Verdient. Er hatte es verdient, vor ein Gericht gestellt zu werden. Er hatte für alle seine Handlungen Gründe. Die er darlegen konnte. Er hatte Verbrechen begangen, ja, aber um größere Verbrechen zu verhindern. Es war Notwehr. Alles war Notwehr. Nur der Stärkste kommt durch. Der Nervenstärkste. Das war er. Das hatte er bewiesen. Nun also.
 
Nichts geschah. Es geschah nichts. Als das Licht ausgeschaltet wurde, saß er im Dunkeln. Als es eingeschaltet wurde, kam die Essensration für eine Person durch den Schacht. Sonst änderte sich nichts. Die Leichen. Nur die Leichen. Stanken ein wenig. Nach einer Weile. Das ging doch nicht. Das konnten die doch nicht machen. Wenigstens die Leichen mussten sie abholen. Das konnte er doch verlangen. Er verlangte es. Er befahl es. Er wimmerte. Nichts geschah. Nur immer dasselbe. Licht an. Licht aus. Essen. Er wartete. Er hatte noch vier Schuss in seinem Revolver und zweimal sechs Schuss in den beiden anderen. Er schoss Dons Revolver leer. Er schoss auf die Kameras. Er traf zwei. Nur zwei. Er schoss Georges Revolver leer. Er traf keine Kamera. Er hatte jetzt noch vier Schuss. Er wartete. Er betete. Er lachte. Er schlief. Wenig. Er aß. Wenig. Er schaffte die Leichen in eine Ecke der riesigen Halle und richtete sich in der am weitesten entfernten ein. Er schuf sich eine Höhle aus den Matratzen.
 
Es geschah nichts. Licht an. Licht aus. Essen.
 
 
Dick hielt sieben Tage aus, nachdem er Don und George erschossen hatte. Die DVDs, die Dicks Martyrium zeigen, habe ich nicht per Post erhalten. Selbstverständlich war ich überrascht und erschüttert, als ich auf diese Weise erfuhr, was mit den drei bekanntesten Vermissten der Welt geschehen war. Was ihnen angetan wurde, ist unwürdig. Wie anderen auch ist es mir dennoch beinahe unmöglich, Mitleid mit ihnen zu empfinden. Jedoch: Unrecht bleibt Unrecht, selbst wenn es an Verbrechern begangen wird. Es fiel mir keineswegs leicht, diese Aufzeichnungen anzuschauen. Niemandem fiele das leicht. Denn sie sind vor allem langweilig. Insgesamt habe ich 24 DVDs erhalten. Nicht wenige Male habe ich ungeduldig vorgespult. Es ging aus, wie ich es von Anfang an erwartet hatte.

Freitag, 20. Dezember 2013

Anders stand es bei der Lyrik – sie war auch für Leihbüchereien kein attraktiver Geschäftsgegenstand, und es blieb den gesamten Zeitraum hindurch selbstverständlich, daß der Autor den Druck seiner Gedichte entweder gänzlich selbst bezahlte und dem Verleger gegen einen hohen Anteil am Erlös den Vertrieb überließ oder doch zumindest die Hälfte der Druckkosten bestritt. Dieses Verfahren brachte sehr geringe Auflagen mit sich, für die der Verfasser oft Absatzgarantien übernehmen mußte: etwa 250 – 500 Exemplare galten als üblich.
(Reinhard Wittmann über Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert in „Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert“, Tübingen 1982)

Die Schriftstellerei ist gegenwärtig kein Amt, sondern ein Geschäft, und die freie Concurrenz, das Gesetz der Natur, wie der ökonomische Liberalismus sie nennt, erzeugt überall hunderttausend Bettler als Staffage eines einzigen Millionärs.
(Joseph Lukas in „Die Presse“, 1867)

In der Meinung der „soliden“ Leute sowie der hohen Obrigkeit rangiert er zu den Vagabunden und muß es sich gefallen lassen, gelegentlich per Schub transportiert zu werden. Es ist so weit gekommen, daß die Bezeichnung „Literat“ von dem Begriffe der Geringschätzung, der Mißachtung unzertrennlich ist.
(Karl Weller in „Jahrbuch deutscher Dichtung“, 1858)

Wenn es einmal dazu kommt, daß die deutschen Proletarier mit der Bourgeoisie und den übrigen besitzenden Klassen die Bilanz abschließen, so werden sie es den Herren Literaten, dieser lumpigsten aller käuflichen Klassen, vermittelst der Laterne beweisen, inwiefern auch sie Proletarier sind.
(Friedrich Engels in „Die wahren Sozialisten“, 1847)

Flower power

Céline ist schuld! Einige wirre Gedanken zur Klarsicht

Ich habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen – oft hört man diese Formulierung, wenn jemand mit Leib und Seele Erfahrungen hat machen müssen, die ihm oder ihr das Weltbild zertrümmerten oder wenigstens schwerwiegend durcheinanderbrachten. Sicher, gelegentlich braucht der Mensch seine Portion unmittelbaren Bewegtseins, allein mit sich und seinen Gedanken oder in Gemeinschaft. In dem Roman Das Sägewerk von Daniel Odija wird ganz zu Beginn ein solcher Moment beschrieben: “Nach einer Stunde beruhigte es sich ein wenig, der Donner zog vorüber, doch die Blitze blieben. Immer noch rauschte das Wasser. Józef bemühte sich, keinem ins Gesicht zu sehen, denn sobald er hinschaute, blitzte es. Für eine Sekunde wurde es dann unheimlich. Er sah das Gesicht seiner Frau. Ihre Augen lagen im Schatten der Höhlen, und die Zähne schoben sich allzu deutlich zwischen den Lippen hervor. Sie wurde in Leichenlicht getaucht. Sie wollte ihm wohl etwas sagen. Irgendwie schienen ihre Zähne hervorzutreten. Offenbar sah sie auch in seinem Gesicht etwas, was sie nicht sehen wollte, denn sie machte bloß den Mund auf. Es gelang ihr, ein undeutliches a…a… hervorzustoßen. In diesem Moment dachte Józef, daß sich unter dem Gesicht, das wir bei Tageslicht sehen, immer das zweite verbirgt, das später einmal der Sargdeckel zudeckt.” Dieses Motiv des verborgenen Gesichts, oder auch das der Maske, die das eigentliche Gesicht verdeckt, findet sich häufig in der Literatur, etwa in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, und da sich das mit den Erfahrungen der Leser oder wenigstens doch deren Phantasie gut verträgt, öffnet dies nachspürbar die Schichten eines Textes und verweist buchstäblich auf alles Mögliche hinter der augenfälligen Realität. Bleibt ein Autor indes allein der Oberfläche verbunden, kann es blitzen wie es will, persönliche Erkenntnisse werden daraus nicht gewonnen – man denke nur an die Gewitterszenen in Adalbert Stifters Der Nachsommer, die zwar immer was auslösen, den Protagonisten aber seelisch unverändert lassen, obwohl er als Ich-Erzähler auftritt. So hat Stifter zwar sicher einen der schönsten Romane der realistischen Epoche geschrieben, Einblicke in das Wesen des Menschen aber gewährt er nicht oder nur sehr bedingt. Man sieht also die Welt nach der Stifter-Lektüre durchaus nicht mit anderen Augen, sondern eher mit denen eines anderen, während die Formulierung, man habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, ganz allein die eigenen Augen meint, und zwar im Sinne des Begriffes der Aufklärung. Dabei allerdings ist das berühmte “Sapere aude“, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, nur die eine Seite der Medaille, die andere aber steht für den Mut, die eigenen Untiefen zu erkennen, weswegen der Marquis de Sade ganz zu recht als einer der großen Aufklärer gilt, Arsch an Arsch gewissermaßen mit Immanuel Kant. Allerdings will man als gemeiner Erdenbewohner der Spezies Mensch weder ständig vernünftig, noch sich seiner meist gut verborgenen Triebe und Ängste dauerhaft bewußt sein; es reicht einem also völlig, gelegentlich seine Vernunft vernünftig einzusetzen und sich ab und an mal seine Durchtriebenheit beblitzen zu lassen, weswegen die meisten Leser:innen demzufolge den de Sade eher nur mal kurz ob der Beschaffenheit des menschlichen Wesens befragen. Für Kant gilt dasselbe. Der Grund liegt in beiden Fällen nicht ganz zufällig darin, daß sich beide Werke in Sachen Leserfreundlichkeit und Unterhaltsamkeit nicht besonders hervortun, woraus sich die Frage ableitet, wer denn das womöglich tat, also die Ergründung des menschliches Daseins verband mit ausnehmend guter Lesbarkeit. Geübte Leser mögen Kafka rufen und Beckett und Joyce und Thomas Bernhard, man mag auch an Knut Hamsun und sogar an Karl Philipp Moritz erinnern, sie alle und noch einige mehr vermögen einem die Augen zu öffnen und die Welt mit den eigenen zu sehen – doch all diese Texte bleiben immer noch ganz und gar literarische, kunstvolle Schriften, von einer dünnen Membran von der Wirklichkeit getrennt; man sieht nicht wirklich anders auf die Welt und die Menschen, wenn man grad Kafka liest, eher sieht man, denke ich, anders auf sich selbst. Wenn man nun aber Louis-Ferdinand Céline liest, so ist die Sache nicht mehr ganz so einfach, dünkt mir. Sein Erstlingsroman Reise ans Ende der Nacht, der 1932 in Frankreich erschien, ist nicht nur (in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel) ein grandioses Lesevergnügen, nein, er verändert auch im richtigen Leben die Sicht auf dieses und insbesondere auch auf die Menschen, denen wir begegnen. Jedenfalls geht mir das so, und warum sollte ich dann nicht annehmen, daß es allen so geht? Wie nur macht Céline das, wie ist seine Sprache beschaffen, um eine solch direkte Ansprache und ein so hohes Maß an spannungsreicher Unterhaltung hinzubekommen? Liegt es daran, wie lakonisch er erzählt, ohne aber dadurch auch nur irgendeine Form von Distanz zu schaffen? Ist es sein Verzicht auf Ironie? Sein Humor? In jedem Fall ist Céline schuld daran, daß ich, seitdem ich die Reise las, nicht mehr wie sonst attraktive Menschen inmitten der Massen ausmachen kann – manches Mal nicht mal mich selber! Und dabei ist es mir ja durchaus nicht neu, was er über die Erniedrigten und Beleidigten schreibt, so daß es also tatsächlich die Art sein muß, wie er schreibt, wie er die menschlichen Angelegenheiten beleuchtet – nicht blitzartig eben, sondern in Dauerbeleuchtung, denn der Ich-Erzähler und Protagonist ist immer wütend, wenn er auch nie außer sich, sondern im Gegenteil immer in sich ist. Sicher scheint mir, auch mit Blick auf seine menschenfeindlichen und antisemitischen Pamphlete, die ja aus der selben Feder und dem selben Geist stammen wie seine literarischen Werke, daß Céline einfach nicht anders konnte als sich wütend und haßerfüllt ganz und gar direkt sozusagen auszukotzen, wobei er aber immer Mensch blieb im Sinne seines eigenen Menschenbildes, denn wer an den anderen kein gutes Haar läßt, kann der ein guter Mensch sein? Nun ja, er hielt sich womöglich nicht selten durchaus für einen guten Menschen, oder er glaubte, auf der richtigen Seite zu stehen, ein Recht darauf zu haben oder sogar die Pflicht, widerliche Haßtiraden in die Welt zu setzen, die Menschen zwingen zu dürfen, quasi mit seinen Augen auf sich selbst zu sehen. Aber machen das nicht alle so, sind nicht alle Menschen gleich schlecht und böse? Im Roman Reise ans Ende der Nacht jedenfalls läßt er daran keinen Zweifel, der Unterschied ist nur, daß die einen an ihrer Bösartigkeit und Verworfenheit keine Schuld haben, weil sie von denen, die schuldig sind, die Reichen und Mächtigen, daran gehindert werden – eben dies macht den Ich-Erzähler ja so wütend, denn wer nicht schuldig sein, nicht schuldig werden kann, dessen Leben hat keinen Sinn. Céline jedenfalls kämpft, so sieht es für mich aus, sein Leben lang wie ein Berserker darum, schuldig sein zu können, satisfaktionsfähig gewissermaßen, ganz ähnlich wie der alttestamentarische Hiob, der Gott, der ihm sein Unglück ja eingebrockt hatte, zu einem Prozeß zwang, in dem er, Gott, Angeklagter und Richter zugleich war; eine Geschichte sicher ganz nach dem Geschmack Célines.

Also, wie gesagt, ohne diese Art der Aufklärung eines Céline wäre die Aufklärung keine wirkliche, denn sie würfe, wie noch lange Jahre nach Kant, weiterhin tiefe Schatten, in denen die Ungeheuer unserer selbst hausen und im wahrsten Sinne des Wortes unbehelligt ihr Unwesen treiben. Diesen Bereich ausgeleuchtet zu haben ist somit sicher ein Verdienst Célines, selbst wenn ich mich nun meinerseits bemühen muß, dieses Licht wieder zu dämpfen, denn wer dauernd im Licht der Erkenntnis leben muß, verliert sein Urvertrauen und am Ende seinen Verstand, so ist zu befürchten, und dann, dann ist endgültig ewige Nacht – und das kann ja wohl niemand wollen.

Schellendiskursli / Schellenexkursli (02)

Schellendiskursli, Szene 02

dass welt ein bilderbuch sei voller
bilderbücher hier das setting einer
kleinfamilie knapper stunde null gewisser
religionen schöpfungsakt (breit aufgestellt) von
heiligen familien muttern (rot) und vatern in
dezentem (grünen) blau stolz jakobinisch heisst
dann (logisch) nachwuchs bärchen
ursli das archivgesicht noch aus der
andern zeit ein buch in buch im buch
ein jesus sternbild wunschpunsch aller pärchen

was kann ein haus nicht alles sein als
buch als allegorisch fein gedachter ort erzählter
klein und grossgeschichten keller eingang
tore fenster öffnungen in die zu schauen lohnt
schornstein und vater raucher einer tuts
der andere nicht in diesem nu das
hausgesicht ornamentiert partiell kopf hirn und
heimat weiter namenloser elternschaft fungiert
reproduktion noch grösserer maschinen ich ist
eine werkstatt medien (dort ein vogel) tun dies kund


Zeichnung: Livio (7)

Schellenexkursli

(02) psyche, speicher, medien. mit dem willen zur kreativen interpretation ausgerüstet, werden wir wieder zurückgeworfen auf die gemachtheit dieses ereignisses und ortes als vielschichtigen text. in die buchform, die alle noch so auseinanderstrebenden (be)deutungsmöglichkeiten miteinander verbindet und rundet. ein buch schafft ordnung und zuversicht. sich die welt als buch vorzustellen (aurelius augustinus), gibt ihrer lesbarkeit einen rahmen, der die richtigkeit des passierenden unterstreicht. dass das urslielternhaus ornamente trägt (spiralen, tiere), die hier schon in versatzstücken später erzähltes enthalten, betont die wichtigkeit tiefenstruktureller beobachtung. dass wir geradezu mit einer familienaufstellung (nach hellinger) konfrontiert werden, einer methode der systemischen psychotherapie, ermuntert uns, den text auch psychoanalytisch zu berühren. er bietet dann mutter- und vaterfigur an zur identifikation und zum eintauchen in die struktur der kleinfamilie, und markiert diese als ausgangspunkt eines sich in auflösung befindlichen systems, auf dem weg zu einer neuen westlichen gesellschaftsform: dem losen verbund einer singlegesellschaft. aufsteller ist hier: der erzähler. kann dabei die farbwahl des bildes zufall sein? die mutter trägt die farben blau, weiss, rot – diejenigen der französischen revolution, wir nehmen das als stützenden beleg. historisch-strukturelle diskontinuitäten sollen aber nicht verschwiegen werden. ebenso finden sich auch: die heilige familie mit dem filius jesus, der vater (josef), ein handwerker (zimmermann). das haus ist der ort der heimat, der sohn zum reisen bestimmt. diese religiöse familia steht als literatur und als entwurfsvariante der psychoanalytischen gegenüber. gemeinsam werden diese bilder gespeichert in einem, dem literarischen archiv, und haus und umgebung zu dessen allegorie verdichtet: die menge der öffnungen, räume, auch als speicherfiguren unterschiedlichster situationen und handlungen. (im verhältnis zum kleinräumigen maiensäss, später, dem erweckungsort und ort der entbehrung:) wir nehmen einblick in ein raumgebilde, dessen reduktion eingeleitet werden muss, um (in der ausbreitung, in der narration) neues erzählen zu ermöglichen. das haus (mit seinen funktional unterschiedlichen teilen) fungiert aber auch zugleich als konstruktionsplan oder modell eines gehirns, in dem genau diese auseinandersetzungen und verhandlungen theoretisch stattfinden. das bild (mit haus, eltern etc.) wird zudem nicht perspektivisch abgeschlossen. ein – als randfigur – hinzugefügter vogel observiert diese szene. unsere beobachtung des vogels (als medium) macht uns leser zu beobachtern des beobachters. wir werden also auch als beobachter zweiter instanz verpflichtet. nur eine spielerei? zumindest drängt uns diese konstruktion eine weitere möglichkeit auf: nämlich die einer systemtheoretischen textbetrachtung.

Leseprobe zu:
Schellendiskursli / Schellenexkursli.
Eine poetische Analyse des “Schellenursli”
mit einem Kommentaressay
und zahlreichen Illustrationen
sowie einem Nachwort von Elisabeth Wandeler-Deck
Von Hartmut Abendschein

Farah Days Tagebuch, 9

Montag, 28. Januar 2013

Wovon ich schreiben könnte.

Als erstes natürlich: über Cremediebinnen.
Dann über Berg, der ständig nach Öl riecht, den Gebieter über die – nein, alle – verpassten Augenblicke. Das unschlüssige Gespräch mit der mächtigsten Frau der Stadt. Der schwarze Mann mit dem Totenkopfring fällt als Thema durch (zu vorhersehbar), nicht aber, warum Kunstausstellungen langweilig sind und warum sie das einzige sind, das langweilig ist. Die Frau, die langsam älter wird, die sich immer im Gesicht zwickt. (Warum?) Die schönsten Worte der letzten fünf Jahre. Armut und ihre Auswirkungen. Mutwilligkeit und ihre Auswirkungen. Der Atem, den der langjährige Geschäftsfreund ausstößt, als er zum ersten Mal ihre Hand auf seinem Schwanz spürt. Die unsägliche Energie, die der Tod eines Familienmitglieds freisetzt. Ein paar kleine, grandiose Tricks, um Komplexität auszuhalten. Grundlose Aggressionen gegenüber Leuten, die allzu versiert sind. Über Untermalungen, in jeder Hinsicht. Die private Aufzeichnung: was sie bedeutet, was sie verhindert. Die Sehnsucht danach, nicht zu sprechen, sondern gesprochen zu werden. Der Auftritt im Kultursender der Stadt und warum es unabdingbar ist, eingeführt zu werden. Über Einführungen. Von der Schwierigkeit, sich zu konzentrieren und der Angepisstheit gegenüber jenen, die das besser können. Vom Pop in der Literatur (als Klanginstallation), die Sehnsucht nach Unterwerfung, die Fetische der Saison und warum gerade sie. Alte Freunde bei alltäglichen Verrichtungen beobachten, ihre Bewegungen studieren, Kleider, Gesten, Accessoires. Warum Henry Jagloms ‘New years day’ ein erwähnenswerter Film ist. Exibitionismus: Warum es verboten ist, aus dem Tagebuch vorzulesen. Warum es bei allem und jedem und immer untendrunter um die Vereinnamung (nein, kein h) von Zeit geht und wie unterschiedlich sie bei den einzelnen ist. Die einfache Sprache könnte Rettung sein. Das Ei muß auf: dafür ist die kleine Säge am Schnabel da. Die Schwierigkeit, sich einem möglichen Erfolg zu stellen. Männerfreundschaften: wie zwei aufeinanderfallen. Wie ich mir immer gewünscht habe, jemand würde Arsch, Bauch und Hinterkopf mitfühlen, die unausgesprochenen Ideen, das Ticken der Muschi, das Gewicht der Brüste, die unglaublich unzähligen Formen weiblicher Nervosität: unmittelbar. Eine Situation beschreiben, in der Vertrauen entstand. Eine schöne Frau beschreiben, von der sich erst am Schluß herausstellt, daß man sich selbst damit meint.
Ein Wort beschreiben, als wäre es ein Bild. Die verwahrloste Wohnhöhle eines älteren, fernsehsüchtigen, menschenscheuen Mannes, der trotz ausufernden Pornokonsums ein Gentleman ist. Harten Sex sentimental beschreiben, den ersten Kuss wie einen Verkehrsunfall beschreiben. Ein Plädoyer schreiben für das Warten: Endlich Partei ergreifen für das Warten. Das Handeln hat weißgott schon genügend Staranwälte. Befangenheit: Wahrscheinlich die schlimmste Hemmschwelle von allen. Sätze, die einem gelegentlich unterkommen, die so abgefahren gut sind, daß man sofort mit der Person ins Bett gehen würde, die sie geschrieben hat, ganz gleich wessen Geschlechts. Was man macht, wenn man einer Situation nicht mehr entrinnen kann. Eine Liebeserklärung, an alle überdimensionierten Körper gerichtet. Jedem einen besonderen Namen geben, und jenen, die keinen verdienen, einen geben, der genau das ausdrückt. Die Höflichen mögen ihre eigene Höflichkeit mehr als die Menschen, denen sie sie angedeihen lassen.
Ein Haus erfinden: Ein einziges. Der Körper sollte auch mal über den Geist siegen dürfen, darf er aber nie; umgekehrt wird ein (Hemm)schuh draus.
‘Warum läßt du sie dann nicht endlich fallen’: Sich zu trennen von Menschen, die das Neue in dir nicht sehen. Der Duft des Geschlechtsteils nach einem langen, arbeitsreichen Tag, warum es nicht belanglos ist, wie man seinen eigenen Geruch empfindet. Was macht der Dichter? Er verbindet Wortwurzeln aus 1000 Plateaus, das ist das Zauberhafte, damit kriegt er uns. Das Bild einer Frau, die die Traurigkeit in ihrem innersten Wesen kompetent in Schach hält, wie viele Partien und Eröffnungen sie auswendig gelernt hat, was für einen Beruf sie ausübt. Die Vorstellung, daß Vater und Tochter gleichzeitig einen Roman über die gleiche Familie schreiben. Mosaikromane: mehrere Autoren schreiben innerhalb einer verabredeten Welt, jeder steuert eine oder mehrere Figuren bei, die auch von den anderen benutzt werden dürfen. Wie es sich anfühlen würde, in die Obhut eines reichen Mannes zu geraten: sind die Gelenke schmal genug? Frauen, die ausgehalten werden wollen, brauchen schmale Gelenke. Was den alten Freund zum Henker machte.
Irgenein Pelztier muß auftauchen und reden, so wie Blooms Katze im Ulysses oder die Gamecat bei Jeff Noon in Nymphomation. Sprache darf knacken. Erstmal einen Raum ausstatten, Personen hinzufügen, dann Dialog und im Dialog muß sich die nächste Szene vorankündigen, eine Überleitung, dann nächste Einstellung. Wie einen Film mit Kameraeinstellungen imaginieren – mein visuelles Vermögen ist besser entwickelt als das logische. Jede Figur hat sowohl ein Angebot als auch ein Bedürfnis, die allererste Vorstellung der Figur sollte beides schon mal heimlich implizieren. Nichts ist zu blöd, um es erst einmal hinzuschreiben. Manchmal sprechen mehrere Leute im Hintergrund, während vorne irgendwas passiert; die Stimmen im Hintergrund könnten kollagiert sein. Von Assoziationen allein jedenfalls wird niemand satt.

Mongo

Mongo.

Das ist vielleicht mongo, sagt er und bleckt die Zähne. Mongo, nach einem chilenischen Comic aus den fünfziger Jahren, fügt er hinzu, von ihm aufgegriffen auf Anregung durch einen chilenischen Flüchtling, der den Alexanderplatz so nannte, weil er ihn an die Darstellung zukünftiger Städte erinnert hat. Mongo, das ist die Haltung, die eine solche Stadt hervorbringt, ein Wohnkästchen neben und über dem anderen, eine Menschenschachtel neben und über der anderen.

Götz greift nach einer Mappe im Regal links neben ihm und holt eine Zeichnung heraus, die die Dehnbarkeit dieses Begriffs demonstrieren soll. Ein grünschwarzes Menschenmonster – auch das ist mongo. Mongolisch, mongoloid. Wer ist hier nicht mongo, wir alle sind mongo, auch ich bins, wenn ich so etwas anfertige.

Er zeigt eine von ihm entworfene Postkarte: Rotes Herz hinter grauem Gitter; darüber der Text: Ein herzhaftes 1983. Mongo bin ich aber auch, weil ich zu feig war, es zu verschicken, damit ich keinen Ärger bekomme. Er blickt zu Beate: Und du bist mongo, weil deine Familie mongo ist.

Ärger.

Götz dämpft seine Zigarette im leeren Schnapsglas vor ihm kraftvoll aus. Bevor sie bei der Frau König eingezogen sind, sagt er, ist er mehrmals hier herumgegangen, um die Leute zu fragen, wie denn das Wohnen in der Gegend sei. Dabei ist er an ein älteres Ehepaar geraten, das sofort aggressiv reagiert hat. Die Frau habe die Handtasche gegen ihn erhoben, der Mann habe sich nicht ausreden lassen, er sei ein ZDF-Reporter und wolle die Leute zu Aussagen über die hiesige Umweltverschmutzung erpressen. Wenn das nicht mongo ist!

Traum.

Er habe – im Traum – einen Antrag für eine Reise nach West-Berlin gestellt. Ein S-Bahn-Fahrer habe ihn aber, bevor irgendeine Antwort eintraf, mehrmals nach drüben mitgenommen, sozusagen auf Probe.

Einmal bin ich in einem riesigen Kaufhaus gelandet, sagt Götz, im KADEWE, und staunend und völlig euphorisch an den vollgefüllten Regalen vorbeigezogen, von einem Stockwerk zum anderen, und immer noch dieses Überangebot, diese Unmenge verschiedenster Waren, bis in den letzten Winkel. Schließlich habe ich in der Käseabteilung haltgemacht und mich nicht satt sehen können an den mehr als hundert Sorten aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark.

Bei einer Selbstbedienungskassa in der obersten Etage habe ich eine Portion BULEX verlangt, in der Meinung, das sei etwas völlig Exotisches, das sei ein von mir irgendwann erfundener Markenname für eine himmlische Speise, die ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich setzen müssen – auf meine eigenen Unterarme, denn Sitzgelegenheiten hat es keine gegeben -, und die Verkäuferin hat mir mit der größten Selbstverständlichkeit eine riesige Portion BULEX über die Theke gereicht, wobei ich mich nachher nicht mehr erinnern konnte, woraus das Gericht eigentlich bestanden und wonach es geschmeckt hat.

Mongo.

Klar vor Augen sei ihm aber noch die Szene, wie er sich einen 5 kg-Sack Knoblauch gegen den Widerstand des Mädchens erstanden habe: Selbst im Traum sei er von dem Gedanken verfolgt gewesen, hier gebe es Knoblauch nur alle zwei Jahre und dann nur in winzigen Mengen.

Mongo.

Dann habe er sich allerdings verirrt, sei rauf und runter gefahren, doch die Treppe habe kein Ende gehabt, und vor ihm mit seinem Knoblauchsack seien alle Leute geflüchtet, er habe sich ständig über die Augen wischen müssen, was das Falscheste war, was er tun konnte.

Jetzt ist kein menschlicher Laut mehr zu vernehmen gewesen, flüstert Götz, nur das Geräusch der rasch rollenden Treppen, wobei diejenige, auf der ich gestanden bin, sich immer schneller, mit immer schnellerem Knacken hinunterbewegt, ein immer stärkeres Rauschen erzeugt hat, bis dann plötzlich Stille eingetreten ist und mich das Gefühl erfaßt hat, ich würde schweben, hinunterschweben, den Knoblauchsack an die Brust gepreßt, immer mehr aus allen Poren schwitzend – lautlos bin ich dem Erdmittelpunkt entgegengesunken.

Mongo.

Götz zündet sich eine weitere Zigarette an. Und Stefan starrt auf seine rote Lena, die ihm noch weiter unter den Tisch gerutscht erscheint, während er ein Gläschen Schnaps nach dem andern in sich versiegen spürt, gerade die richtige Wärme erzeugend, um das Auftauchen der Phosphoreszierenden Frau – falls sie ihr Versprechen auch einhält – ertragen zu können.

Verirren.

Wer von der Richtigkeit seines Wegs überzeugt ist, behauptet Götz, genießerisch an seiner Zigarette saugend, der kommt auch nicht um, der kehrt heim. Er habe sich einmal mit Freunden in der Hohen Tatra verirrt, die Gruppe jedoch retten können, weil er an einer Wegkreuzung hundertprozentig sicher gewesen ist, der richtige Abstieg sei links, nicht rechts. Mit denen, die sich ihm angeschlossen hätten, habe er die lebensrettende Hütte gefunden und dann auch noch die restlichen Kameraden herunterholen können.

Weg und Ziel.

Die Abweichung vom Weg, sagt Götz, das Aus-den-Augen-Verlieren-des-Ziels. Die Angst vor den Mühseligkeiten des Wegs, die Zweifel an der Richtigkeit des Wegs. Die Zweifel an der Richtigkeit des Ziels. Das Wagnis, das als Wagnis bestehen bleibt, auch ohne Weg und Ziel.

Weg könne auch heißen Lebensweg, und da müsse er sofort an seinen Freund Rolf denken, der viel weniger Glück gehabt habe als er: Als begleitender Kameramann eines Bergsteigerteams im Kaukasus hat er mit diesen die Orientierung verloren. Man hat unter einem Felsüberhang Unterschlupf gefunden und sich unter einer Plache zusammengekauert, wobei Rolf am äußersten Rand seinen Platz gehabt haben muß, weil ihm, ohne daß er es merkte, der linke Fuß abgefroren ist.

Dabei ist es aber nicht geblieben: Der zweite Fuß ist dem Rolf beim Verladen eines Findlings in der Nossentiner Heide zermanscht worden; so, mit dem Mus im Schuh, ist er bis zur nächsten Ortschaft gewankt, wo dann das Schicksal in Form einer Krankenschwester zugeschlagen hat. Sie hat ihm durch ihre inbrünstige Pflege alle Lust auf Abenteuer jeglicher Art gehörig ausgetrieben, ihn umgepolt in Richtung Ehe, Seßhaftigkeit, Kleben an einem Fleck, Zuspecken, gegenseitigem Bekochen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

die schrift meines vaters

14. Dezember 2012

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nordpol : 7.05 – Dass mein Vater älter wurde und müde, war seiner Schrift deutlich anzusehen. Die Buchstaben wurden kleiner, manche standen senkrecht, andere neigten sich einer unsichtbaren Linie zu, auf der sie sich wortweise vorwärts bewegten. Ich könnte sagen, die Schrift meines Vaters wirkte so, als wäre ein Sturm seitwärts über sie hinweggefahren, zerzaust, und doch waren alle notwendigen Buchstaben für jedes der Wörter, die mein Vater geschrieben hatte, gesetzt. Er notierte zuletzt gerne mit Hilfe der Tastatur seiner Computermaschine, das war nicht so anstrengend, er vermochte die Größe der Zeichen zu variieren, so dass er sehen konnte, was er gerade auf den Bildschirm brachte. Einmal musste mein Vater einen Brief unterzeichnen, es war ein Oktobertag, mein Vater wartete lange Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruhte, hielt den Stift, den man ihm gereicht hatte, in der Hand, betrachtete diesen Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, er zögerte den Moment hinaus, da er mit der Aufzeichnung seines Namens beginnen würde. In diesem Moment ahnte ich, dass mein Vater seinen Namen malen würde, dass seine nichtbewusste Signatur, die ein Leben lang gültig gewesen war, nicht länger zu existieren schien, oder dass er unter den Augen eines Beobachters sich nicht länger traute, seine ureigene Signatur auszuführen. Ja, mein Vater fürchtete sich, weil der Wind der vergehenden Zeit seine Schrift erfasste. Sie war einmal eine akkurate Schrift gewesen, eine Schrift wie gedruckt, sie notierte komplizierte mathematische Formeln, ohne je ihre Fassung auf den Papieren zu verlieren. Als Junge beschloss ich, diese Geheimschrift der Zahlen und Wörter zu entschlüsseln, bis sie noch vor meinem Vater selbst zu verschwinden begann. Zurückgeblieben sind nun seine Stifte in einer Schublade: Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Buntstifte, auch ein Werkzeug, mit dem man in weisser Farbe notieren kann, vielleicht um zu korrigieren, vielleicht um Nichtsichtbares auf das Papier zu setzen. – stop

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summenlicht

22. August 2012

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himalaya : 03.15 – Über meinem Schreibtisch brennt seit einer Stunde ein warmes Licht, elektrisches Feuer, welches einem Glaskolben entkommt, in dem sich weitere kleinere Glaskolben befinden. Diese kleineren, unsichtbaren Glaskolben erzeugen das eigentliche Licht, das als Summenlicht durch das milchige Glas zu mir in den Raum entkommt. Ich dachte gerade eben noch, als ich eine Konstruktionszeichnung meiner neuesten Leuchtbirne betrachtete, dass sie Lichtbeeren enthält, Lichtkirschen genauer. Auf einem weiteren Zettel war das schöne Wort Lumen verzeichnet, außerdem der Hinweis, ich könnte meine Lampe 12000 Male ein und wieder ausschalten, ohne dass mein neues Licht daran zu Grunde gehen würde. Noch viel erstaunlicher war mir vorgekommen, dass der Lichtkörper, den ich erworben hatte, 25 Jahre leuchten wird. Eine erstaunliche Aussage. Sie ist in einer Weise verzeichnet, als wäre ihre Grundlage Erfahrung. Ich habe mir gedacht, dass man vielleicht eine Möglichkeit gefunden haben könnte, die Zeit für Untersuchungen des Lichts derart zu beschleunigen, dass aus 25 Menschenjahren 2 Lampenmonate werden. Ich bekomme das noch nicht vollständig in meinen Kopf, insbesondere den Gedanken nicht, dass ich nach meiner ersten schönen Lampenbirne zu meiner Lebzeit höchstwahrscheinlich nur noch eine weitere Frucht dieser Art für gute Sicht über meinem Schreibtisch erwerben werde. – stop

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Deutschsprachige Literaturmagazine im Internet (Literaturhinweis)

Soeben erschienen:
Deutschsprachige Literaturmagazine im Internet
Ein Handbuch
von Renate Giacomuzzi
ISBN: 978-3-7065-5132-8, 298 Seiten
Studienverlag Innsbruck, 2012

Dem Internet haftet bis heute der Ruf der massenhaften Verbreitung von laienhaft erstellten Gratisinhalten an. Tatsächlich war das Internet jedoch von Anfang ein Medium, das von Professionellen wie von Laien, d.h. von KünstlerInnen, AutorInnen, Kulturschaffenden, WissenschaftlerInnen und LiteraturliebhaberInnen als Publikationsort und Experimentierfeld für neue Formen der Produktion, Rezeption und Distribution von Literatur genutzt wurde. Was wurde wann, wo und in welcher Form und Qualität bislang im Internet publiziert? Diesen Fragen geht dieser Band nach, der dem bislang noch wenig erforschten Bereich der Literaturvermittlung im Internet gewidmet ist. Die hier präsentierten Ergebnisse wurden im Rahmen eines vom österreichischen Forschungsfonds FWF geförderten Projekts am Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) der Universität Innsbruck erarbeitet, das die Dokumention und Archivierung von digitalen Literaturmagazinen zum Ziel hatte. Der vorliegende Band dokumentiert die Vorgangsweise des Projekts, um damit eine transparente Grundlage für ähnliche Archivierungsprojekte anbieten zu können. Neben wissenschaftlichen Teilanalysen zu Form, Entwicklung und inhaltlichen Merkmalen digitaler Literaturprojekte im Vergleich zu den traditionellen Printformen dient der Band als Handbuch, das grundlegende Informationen zu einer repräsentativen Auswahl von Literaturmagazinen im deutschsprachigen Internet enthält. (Klappentext)

Renate Giacomuzzi (geboren 1958), Mitarbeiterin des IZA (Innsbrucker Zeitungsarchiv) und hauptverantwortliche Mitarbeiterin des FWF-Projekts DILIMAG (Digitale Literaturmagazine). 1977 bis 1984 Studium der Komparatistik/Slawistik/Germanistik in Innsbruck. 1984 Promotion. 1986 bis 2005 Visiting, Assistant und Associated Professor an der Tokio University of Foreign Studies, Hitotusbashi University und Nihon University in Tokio. Veröffentlichungen zu Imagologie, Rezeptionsforschung, Literatur und Neue Medien.

Inhaltsverzeichnis
Vorwort 11
Einleitung 13
1. Vorgangsweise und Erfahrungen 19
1.1 Archivieren – warum nicht und warum schon? 19
1.2 Wer nagelt den Pudding an die Wand? Zum Problem der rechtlichen Situation 21
1.3 „Achtung Archive“ oder „jede Wahrnehmung verletzt die Welt“ 24
1.4 Catch me if you can 26
1.5 YouTube, Bad Behavior und andere Feinde von Harvestern 27
1.6 Das interaktive Archiv 28
2. Die Entwicklung digitaler Literaturmagazine 29
2.1 Vorläufer und Randformen 29
2.2 Literaturmagazine 1995 bis 2009 42
2.2.1 Erscheinungsformen 46
2.2.1.1 Die 90er Jahre 46
2.2.1.2 Erscheinungsformen ab 2000 57
3. Die Qualität der Literaturkritik in digitalen Literaturmagazinen 65
3.1 Das Image der Literaturkritik im Internet 65
3.1.1 In der Printpresse 70
3.1.2 In der Literaturwissenschaft 75
3.2 Literaturkritik im Internet: Anspruch und Wirklichkeit 83
3.2.1 ‚Indie‘-Kritik 83
3.2.1.1 „in|ad|ae|qu|at“ 84
3.2.1.2 „Der Umblätterer“ 89
3.2.1.3 „Electronic Journal – Literatur primär“ („e.journal“) 92
3.2.2 Der Autor als Kritiker 95
3.2.2.1 litblogs.net 95
3.2.2.2 Turmsegler 97
3.2.2.3 Die Dschungel. Anderswelt 100
3.2.3 Universitäten und Literaturhäuser als Kritiker 101
3.2.3.1 literaturkritik.de 101
3.2.3.2 readme.cc 103
3.2.3.3 Buchmagazin 105
3.2.3.4 Literatur in Tirol und Südtirol 106
3.2.4 Literaturkritik von LiteraturkriterInnen 108
3.2.4.1 nachtkritik.de 109
3.2.4.2 Berliner Gazette 111
3.2.4.3 satt.org 113
3.2.4.4 Poetenladen 114
3.2.4.5 Glanz & Elend 115
3.2.4.6 TITEL 116
3.2.4.7. Das Literatur-Café 117
3.2.4.8. Die Berliner Literaturkritik 119
3.3 Was bleibt? 120
4. Wer schreibt? Ästhetische Konzepte 123
4.1 „Die Dschungel. Anderswelt“ von Alban Nikolai Herbst 123
4.1.1 Aufbrüche in Medienumbrüchen – ein kurzer medienhistorischer Exkurs 124
4.1.2 Wer ist Alban Nikolai Herbst? 127
4.1.3 Kyberrealismus 129
4.1.4 Wahrheit oder Dichtung? Eine alte Frage wird wieder aktuell 134
4.1.5 Kontingenzerfahrung und die Zukunft von Literatur 135
4.2 Zur Veränderung der Autorrolle im Zeichen des Internet 137
4.2.1 Leser und Autor in Liebe vereint oder im Einvernehmen getrennt? Nähe und Distanz als komplementäre Beziehungsgrößen 142
4.2.2 Katz-und-Maus und Flipper – Das Spiel um die Macht im Hypertext 147
4.2.3 „everyone is an author, which means no one is an author“ – Inszenierung von Autorlosigkeit 150
4.2.4 „Ich ist ein anderer“ – Autorschaft im Blog 156
5. Wie beschreiben? Dokumentation und Archivierung 159
5.1 Zur Metadatenerfassung und Langzeitarchivierung von digitalen Literaturmagazinen 159
5.1.1 Ausgangslage 159
5.1.2 Technische und methodische Herangehensweise 159
5.1.3 Zum aktuellen Stand des DILIMAG-Archivs 160
5.1.4 Fluktuierendes Datenmaterial als grundsätzliches Problem 162
5.1.5 Zur Metadaten-Erfassung 163
5.1.6 Vernetzung anstatt Vereinheitlichung 167
5.2 Terminologie zu Erscheinungsformen digitaler Literaturmagazine 170
5.2.1 Digitale Literaturmagazine und Randformen 170
5.2.2 Anmerkungen zum Problem der Gattungsbezeichnung 172
5.2.2.1 Ambiguität als Wesensmerkmal 172
5.2.2.2 Die neuen Begriffe 174
5.2.2.3 Begriffe aus Printformaten 175
5.2.3 Spezifische Merkmale digitaler Publikationen 177
5.2.3.1 Interaktive Gattungen/Formen 177
5.2.3.2 Hypertextbasierte Gattungen/Formen 178
5.2.3.3 Multimediale Formen 179
5.2.3.4 Kontinuität und Dynamik 180
5.2.4 Kommentierte Liste der DILIMAG-Gattungsbezeichnungen 181
5.2.4.1 Hinweise 181
5.2.4.2 Verwendete Gattungsbezeichnungen 181
6. Handbuch 187
7. Literaturverzeichnis 289