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Aus meinem Tagebuch

5. März 2014

Schlecht geschlafen. Tigerte durch die Wohnung. Selbst das Cellospiel konnte weder mich noch die Nachbarschaft beruhigen. Schrieb auf dem Klo ein Sonett mit dem Edding auf die Kacheln. Als ich es gar nicht mehr aushielt, weckte ich meine Frau. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Jetzt Pizza, obwohl Adorno davon abriet. Man trägt seine Risiken als selbstständig denkender Intellektueller.

6. März 2014

Ohrenschmerzen. Werden die in Fachkreisen nicht als Geniekrankheit bezeichnet? Traumlose Nacht. Sollte mehr schweres Essen vor dem Schlafen vertilgen, um auf mein Quantum Albtraum zu kommen, das ich so dringend für meine Schreiberei benötige. Große Pläne wollen an diesem Tag verwirklicht werden. Versuchte den Stuhlgang durch immense Mengen Kaffee anzukurbeln. Sollte den Zigarettenkonsum einschränken. Erwache bereits mit einer brennenden Kippe. Das wird irgendwann noch in die Hose gehen. Vielleicht wäre es ein Anfang, die Poster von Böll zu entfernen. Böll, rauchend beim Schreiben, rauchend beim Spülen, rauchend bei der Verleihung des Nobelpreises. Spielte auf der Trompete das Wecksignal aus der Soldatensymphonie von Herrlich. Großer Auflauf in meinem Arbeitszimmer. Begeisterungsbuhrufe.  Werde mich jetzt noch eine kleine Weile ausruhen, bevor ich weiter an meinem deutschen Vergangenheitsroman schreibe, über den die Kritiker momentan so lebhaft streiten. Dazu später mehr. (Stichwort: Der deutsche Vergangenheitsroman steckt in der Krise!)

Abends: Habe den ganzen Tag an meinem Roman geschlafen. (Der Kopf lag auf der Tastatur. Erwischte ein rollendes Lewitscharoff-R, das wie eine Tsunamiwelle über den Bildschirm schwappte.) Später Klingelmännchen bei Löfflers, die zwei Straßen entfernt wohnen. Meine Frau meinte, die Löfflers dort hätten nichts mit der Literaturkritikerin gemein. Egal. Hier tritt die Namenshaft in Kraft. Die anderen Nachbarn, bei denen ich Klingelmännchen “spiele”, müssen schließlich auch unter ihren Namen Walser, Karasek und Mangold leiden. Jetzt ein Cappuccino, auch wenn Kant in seinem Aufsatz “Kritik der Kaffeekultur” vom Verzehr dieses Getränks, “das jeglichen kategorischen Geschmacks entbehrt”, abrät.

7. März 2014

Bin krank. Erzählte meiner Frau, dass die Welt gerade unterginge. Bat sie, Trauerkleidung anzulegen. Sie meinte, ein Schnupfen hätte noch keinen umgebracht. Ließ mich von den Kindern an den Schreibtisch schleifen, damit man meine Leiche mit der Nase in der Arbeit zu meinem letzten Roman findet. Nachdem ich angeschnallt und nicht mehr in der Lage war, auf den Boden zu stürzen, musste meine Frau bei Suhrkamp anrufen. Sprach über den Lautsprecher mit ihnen. Ich sei der Totgeweihte, erklärte ich mit nasaler Stimme. Aufgelegt. Nächster Versuch. Ich bin die Stimme der deutschen Vergangenheitsliteratur. Wieder aufgelegt. Um meinen Zorn zu kanalisieren, ließ ich anschließend bei Rowohlt anrufen. Sagte kein Wort. Sie fragten zweimal nach, wer da sei, bis sie erzürnt aufgaben. Die Rache ist mein. Jetzt werde ich Zigarettenrauch inhalieren. Die Gesundheit geht vor.

Abends: Lag dem Sofa auf der Brust. Horchte es ab, neben mir Dr. Westphal, mein neuer Psychiater, der mich zu meiner Kindheit befragte. So vieles kam hoch. Die peinlichen Momente vor dem Tribunal aus Eltern und Tanten, die mich zwangen, in einem Eileiterkostüm vor ihnen auf- und abzumarschieren. Westphal führt meine Inkonsequenz, die mich des Nachts befällt, auf diese frühen Erlebnisse zurück. Rammdösig lauschte ich seinen Ausführungen zu Freud und dessen Theorie über Männer, die den Wunsch verspüren, mit einem Zwieback zu kopulieren. Meist stände das traumatische Erlebnis eines leeren Regals am Anfang einer solch verzweifelten sexuellen Entwicklung. Als ich Westphal versicherte, nie etwas mit einem Zwieback gehabt zu haben, auch an leere Regale könne ich mich nicht entsinnen, erhob er sich erbost und stürmte ins Schlafzimmer. So wolle und könne er nicht arbeiten. Trotz seiner Abneigung gegen mich, scheint Westphal bleiben zu wollen. Werde heute Nacht wohl oder übel im Wohnzimmer nächtigen.

Später: Meine Frau sitzt vor dem Fernseher. Schrieb diverse Mails an die großen Tageszeitungen, in denen ich auf meinen gerade entstehenden Roman hinwies. Bat darum, nicht aus den Teilen, die ich als Anhang mitschickte, zu zitieren. Das könnte einen langwierigen Rechtsstreit zur Folge haben. Ansonsten, auch dies schrieb ich, sei ich ein harmoniebedürftiger Kerl. Umgänglich, wie meine Freunde sagen, die einen Bogen um mich machen. Heute Abend wird es noch einen Film von Arne Jakobson geben, nicht im Fernsehen, sondern auf DVD. Ein Arthouse-Porno, der im Schimmelkäseherstellermilieu spielt. Alles im frankokanadischen Original mit französischen Untertiteln. Westphal ist zum Glück verschwunden.

8. März 2014

Die ganze Familie ist inzwischen an der Geniekrankheit Ohrenschmerzen erkrankt. Bei Schopenhauer kann man bereits darüber lesen. Über seinen Hang zu Ohrenschmerzen und warum ausschließlich Genies daran leiden. Wie auch an dem Unvermögen, Rechenaufgaben zu lösen. Und staubsaugen können sie auch nicht. Alle sind krank! Alle sind Genies! Ich fühle mich unwohl wie seit Jahren nicht. Versuchte meiner Frau und den Kinder einzureden, dass ihnen nicht die Ohren schmerzen, sondern der kleine Teilbereich daneben, wo bei anderen das Hirn sitzt. Um gleichmäßig zu atmen, um meine innere Mitte wieder zu erreichen, las ich in Blochs “Prinzipiell schon”, in dem er über die Ausreden moderner Genies schreibt. “Würdest du?” – “Prinzipiell schon, aber …” Seitenweise Geschwafel. Warf es in die linke Ecke des im Kinderzimmer aufgebauten Tors und vergnügte mich stattdessen mit “Zwei geile Knödel” von Josefine Mützenberg. Jetzt onanieren, wer weiß, vielleicht setzt sich die Büchner-Preisträgerin und Inquisitionsbeauftragte Lewitscharoff durch, die ein Verbot der morgendlichen Handgymnastik für weise hält.

Auszug aus “Zwei geile Knödel”: Geil knetete er meine beiden Knödel, die ich erst frisch an diesem Morgen in einen BH gezwängt hatte, der nun achtlos weggeworfen neben dem Bett lag. Wie ein Tier, das erlegt worden war. Traurig schielte ich zum BH hin, der sich nicht rührte, bis mir einfiel, dass er dazu gar nicht in der Lage war. Robert lag indes auf meinen Körper wie auf einer Aussichtsplattform, steif wie ein Scharfschütze, der sich auf seinen Schuss konzentrierte, der, bei der Größe seines kleinen Wurms, ich sah es ein, auch sein Ziel verfehlen konnte. Und tatsächlich, als hätte ich besser nicht darüber nachgedacht, erlegte er die Innenseite meines Oberschenkels.

„Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft“ (Essay)

Ist Witold Gombrowicz’ Tagebuch so etwas wie die Urform des literarischen Weblogs? Diese Frage stelle ich mir, seitdem ich angefangen habe, die gesammelten Tagebucheinträge zu lesen. An einer Stelle schreibt er: „Ich schreibe dieses Tagebuch nicht gern. Seine unredliche Aufrichtigkeit quält mich. Für wen schreibe ich? Wenn für mich, weshalb wird das gedruckt? Und wenn für den Leser, weshalb tue ich so, als spräche ich mit mir selbst? Sprichst du so zu dir, daß es die anderen hören?“ (S.59. Alle Zitate aus: Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. Fischer Taschenbuch 2004 bzw. Carl Hanser Verlag 1988) Wer ist dieser Herr Witold, dieser Gombrowicz? (Ich möchte, übrigens, um Nachsicht bitten dafür, daß ich mich mal wieder nicht mit der aktuellen Literaturproduktion beschäftige; ich weiß, da heißt es wieder, der Schlinkert mit seiner seltsamen Neigung zu Gutabgehangenem, zu all diesem alten Zeugs … doch wer mich kennt, der weiß, daß ich mich ausschließlich mit aktuellem Gedankengut beschäftige, ob es nun diese Sekunde veröffentlicht wird oder von Hesiod stammt.) Also: Gombrowicz, Witold, polnischer Schriftsteller, großer Erfolg in Polen 1938 mit seinem ersten Roman ‚Ferdydurke’, einem wunderbar absurd-komischen Roman mit hintergründigem Ernst, der imgrunde auch einen Diskussionsbeitrag zu der Frage darstellt, wie es um den Diskurs zwischen den altständigen und den modernen Polen bestellt ist. Im Jahr 1939 wird Gombrowicz in Buenos Aires vom Ausbruch des Weltkrieges überrascht und bleibt bis 1963 in Argentinien. Dort kleiner Bankangesteller zwecks Lebensunterhaltssicherung, ist er aber vor allem Schriftsteller und – quasi öffentlicher – Tagebuchschreiber, denn von 1953 bis 1969 werden seine jeweils nur mit dem Wochentag datierten Eintragungen in der in Paris erscheinenden polnischen Exil-Zeitschrift Kultura veröffentlicht. (Siehe dazu: Editorische Notiz. a.a.O. S.993.) Es ist also zunächst eine nur kleine Öffentlichkeit, bis dann 1957, 1962 und 1967 polnische Buchausgaben erscheinen.

Was nun macht Witold Gombrowicz so aktuell? Im Klappentext der Taschenbuchausgabe heißt es, Gombrowicz’ Überlegungen zu Themen wie Marxismus, Katholizismus oder Homosexualität seien unerwartet und wiesen auf verblüffende Zusammenhänge, sie seien aufschlußreiche Pamphlete gegen jedwede Lüge und Ideologie – so weit, so gut. Was mich nun unter anderem besonders interessiert sind aber die Fragen, die ich mir als „literarischer Blogger“ stelle (was für ein ekliger Begriff dieses „Blogger“ doch eigentlich ist, fast kommt es einem hoch!), denn wenn das literarische Weblog Literatur ist, die sich vermittels neuer technischer Möglichkeiten direkt und unvermittelt aktuell an Leser:innen wendet, dann scheinen mir diese Tagebuchbeiträge, zumindest in ihrer so schnell als möglich gedruckten Form, als eine Ur- oder Vorform des literarischen Weblogs. Der Vergleich mit Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel. Anderswelt drängt sich dabei geradezu auf, und das nicht nur, weil Die Dschungel ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag darstellt zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur (möge die Literaturgöttin dafür Sorge tragen, diese Beiträge der Nach-Welt zu erhalten!), sondern vor allem, weil beide Schriftsteller eine kompromißlose Haltung zu allem was Literatur ist und sein kann offen (aus)leben, weil beide sich mit einer hohen Risikobereitschaft an ein oder ihr Publikum wenden, ohne Liebedienerei und falsche Bescheidenheit. Deckungsgleich sind die Ansätze deswegen natürlich nicht, schon allein dadurch bedingt, daß ein Alban Nikolai Herbst dem tagebuchartigen Eintrag meist unmittelbar Weiteres folgen läßt, nämlich als direkte Reaktion auf Leser:innen-Kommentare. Diese Unmittelbarkeit ist sicher das eigentlich Neue und erweitert das Genre des Tagebuchartigen.

Vor- oder Urform also des literarischen Weblogs der Haltung zum Schreiben, zum Künstlersein wegen und vor allem auch aufgrund der so gelebten und gestalteten Beziehung zu den Leser:innen!? Doch birgt diese Art, sich an ein Publikum zu wenden, naturgemäß auch allerlei Gefahr in sich – die nämlich, sich trotz aller Offenheit selbst in die Tasche zu lügen. Gombrowicz schreibt: „Die Falschheit, die schon in der Anlage meines Tagebuchs steckt, macht mich befangen, und ich entschuldige mich, ach, Verzeihung … (aber vielleicht sind die letzten Worte überflüssig, sind sie schon affektiert?)“ (S.60.) Dies schrieb er 1953, und man sollte bedenken, daß er als Exilant in einer dauerhaft mißlichen Lage war, schon allein deshalb, weil er sich seine Leser unter seinen (fernen) Landsleuten zu suchen hatte und sein Heimatland zugleich noch unter der Knute des Stalinismus wußte  – wenngleich, auch das scheint mir bedenkenswert, er immerhin als Fremder in einem Land auch durchaus kleine Freiheiten hatte, die ein einheimischer Künstler, der sich als Künstler im eigenen Land fremd fühlt, was nicht selten der Fall ist, niemals haben kann. Was aber trieb nun unseren Autor zu dieser öffentlichen Form des Schreibens, zum reflektierend-nachdenklich-erzählenden Tagebuch? Das zuletzt Zitierte weiterführend schreibt Gombrowicz: „Dennoch ist mir klar, daß man auf allen Ebenen des Schreibens man selber sein muß, d.h. ich muß mich nicht nur in einem Gedicht oder Drama ausdrücken können, sondern auch in gewöhnlicher Prosa – in einem Artikel, oder im Tagebuch – und der Höhenflug der Kunst muß seine Entsprechung in der Sphäre des gewöhnlichen Lebens finden, so wie der Schatten des Kondors sich über die Erde breitet. Mehr noch, dieser Übergang aus einem in fernste, fast untergründige Tiefe entrückten Gebiet in die Alltagswelt ist für mich eine Angelegenheit von ungeheurer Bedeutung. Ich will ein Ballon sein, aber an der Leine, eine Antenne, aber geerdet, ich will fähig sein, mich in die gewöhnliche Sprache zu übersetzen.“ (S.60.)

Vereinfacht gesagt ringt Gombrowicz in seinem Schreiben insgesamt darum, als Künstler Mensch und als Mensch Künstler zu sein – daß dies nicht im Verborgenen und nicht in aller Bescheidenheit vor sich gehen kann, liegt in der Natur der Sache. Anmaßung ist hier das Stichwort, und wer Alban Nikolai Herbst’ Die Dschungel in den Jahren aufmerksam verfolgte, der weiß, wie oft Kommentatoren Herbst angriffen wegen seiner vermeintlichen Eitelkeit, seiner vermeintlichen Großtuerei. Auch Gombrowicz muß diesem kleingeistigen, imgrunde unterwürfigen Denken ausgesetzt gewesen sein, denn er bezieht klar Stellung zur Seinsweise des Künstlers (und weist zugleich seinem Tagebuchschreiben, indem er es nicht für sich behält, den Sinn und Platz innerhalb seines Gesamtwerkes zu). Er schreibt: „Ich weiß und habe es wiederholt gesagt, daß jeder Künstler anmaßend sein muß (weil er sich einen Denkmalssockel anmaßt), daß aber das Verhehlen dieser Anmaßung ein Stilfehler ist, Beweis für eine schlechte »innere Lösung«. Offenheit. Mit offenen Karten muß man spielen. Das Schreiben ist nichts anderes als ein Kampf, den der Künstler mit den Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft.“ (S.61.) Dschungel-Leser wissen, daß Alban Nikolai Herbst dieselbe Überzeugung lebt, die er in seinem Weblog den Lesern folgerichtig nicht vorenthält. An einer Stelle schreibt Herbst: „Künstler jedenfalls, wenn sie das sind und also etwas zu sagen haben, kämpfen mit offenem Visier. Ausnahmslos. Schon, um ihre ästhetische Position zu bestärken, was wiederum ihr Werk stärkt und durchsetzt.“ (Interessant hier die doppelte Bedeutung von Durchsetzen: einmal im Sinne von Durchdringen, das andere Mal im Sinne von Erfolg auf dem Literaturmarkt.)

Das zugleich intime und zur Einsichtnahme gedachte Tagebuch ist ja bekanntermaßen keine Erfindung unserer Tage, das sei noch kurz angemerkt, sondern ist hierzulande seit gut dreihundert Jahren Bestandteil der literarischen Welt. Oft wurden Tagebücher zu Memoiren, eigenen Lebensbeschreibungen bzw. Autobiographien oder auch Romanen verarbeitet, man denke nur an die Memoiren der Glückel von Hameln (Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, veröffentlicht 1910), Ulrich Bräker, Salomon Maimon, Adam Bernd, Heinrich Pestalozzi, Johann Heinrich Jung-Stilling, Karl Philipp Moritz und viele andere, wobei die gezeigte Offenheit oftmals einen stark aufklärerischen Impetus hat (Adam Bernd, Pestalozzi, Jung-Stilling), durchaus aber auch schon den Protagonisten zugleich als Künstler heraushebt (Bräker, Moritz), der als solcher das eigene Leben schreibend auf eine Art offenbart, die auf eben diese künstlerische Art hinaus in die Welt muß. Die Möglichkeit, als Schriftsteller Tagebucheinträge (so wie Gombrowicz) fast unmittelbar in einer Zeitschrift, beziehungsweise sie heutigentags tatsächlich unmittelbar auf einer eigenen Website unter Klarnamen zu veröffentlichen, ist somit nichts weiter als eine Erweiterung der Möglichkeit, in aller Offenheit und auf zugleich höchstem Niveau als Künstler zu sein und zu wirken und (s)ein Werk zu schaffen.

Inhalt 04/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 04/2013 erschien am 14. Januar 2014.


In dieser Ausgabe:
Drohnen und Schreibwerkzeuge, lachende Möwen und revanchierte Narben, die Lyrikproduktion im 19. Jahrhundert, alte Bäcker und Krötenschleudern, Lektorate ausgeschickter Fäden, Daniel Odija und Rainer Maria Rilke, schlummernde Brunnen und Glockenumzüge, die lefzenden Felle des Francisco Goya, Wandertriebe und Sitzen auf Bänken, Baldrian extra-stark und Kondome, Originalmeisen, Bootcamps, das Gewesene uvm.

INHALT:

Farah Days Tagebuch, 17

Sonntag, 20. Oktober 2013

(Seit neun Tagen schizophren, danke, gut)

[… ] weigerst dich einfach zu sehen, dass ich es nie wagte, zu glauben, dass es auf mich ankäme. Musste mir das immer von anderen leihen, von dir zumeist, von Hütern, von Fremden. Niemand ist, wo ich bin. Ich, das sind immer die anderen; wer wüsste das besser als
– Du?
Nein, Du!
Wie läppisch wir sind.
Nehmt uns was weg, damit wir zu schreien lernen.

Liegt die Kraft wirklich im Mitfühlen und Einmischen? Außerhalb der Käfige und Bühnen tobt der Stellungskrieg, nur die Aufklärer haben bei uns einen guten Job, alle anderen verheizen sich. Niemand aus dem Dazwischen kommt jemals irgendwo raus; es gibt kein Raus.
In meinem Kopf die Stimme, immerzu leiert sie: compare, compare, compare, stunden- und tagelang, wieso sie Englisch spricht, ist mir nicht bekannt, viel weniger noch, mit was denn zu vergleichen ich aufgefordert werde. Mein Kopf ist ein bootcamp.
I would prefer not to
(love you, Bartleby)

Wir schaffen uns Meisen an in der Hoffnung, die würden die Originalmeisen neutralisieren, nicht wahr, Kampfmeisen, gewollte, stilisierte, getunte Meisen, die darüber hinwegpiepen sollen, wie verkorkst wir schon waren, als wir noch gar nichts dafür konnten

Käfige und Bühnen baue ich euch, sehr kleine. Sie kommen im Doppelpack, ein Käfig und eine Bühne, hängt sie nebeneinander ins Schlafzimmer, von der Decke. Sie sind leer und leuchten im Dunkeln. Nur so als Erinnerung.

„Hab’ ich jemals…?“
Noch so ein Satz, den ich nicht mehr hören will!

Ich hingegen liebe einen, für den wäre etwas Lebendiges zu unterlassen die größte Sünde von allen; er würde alles tun, nein, er wird alles tun…
Lass ihn.
Mach ich doch.
(„… Hast du heute schon über das Wort „immerzu“ nachgedacht?“)

Ruhe, Ihr. Was seid ihr nur für ein Pack, immer noch vom Fruchtwasser weichgespült, ich kann’s nicht mehr hören. Leckt euch endlich trocken. Scheiß Memmen. Echt aber.
Alles ist Botschaft! Alles! Wie solle eine das aushalten? Wie mache eine, dass sie nicht überglüht, vor lauter?
Indem sie formt!
Ah… das große Multilind, den letzten Eisbrecher, die getarnteste Kappe, such’ dir was aus. Es gibt kein Draußen, versteh’ das doch endlich, mein Dappes, du bist der Universalerneuerer, bist Teer und Federn, die Original- und die Kunstmeise. Vergolde dich.

– Hä?

Ich spreche von Wertschätzung.
– Ich nie!
Das ist es ja. Da liegt der Hase im Pfeffer und dort, leider, gefällt es ihm einfach zu gut, obwohl er eine blutige Nase hat vom Niesen, seit Jahren schon.
Hört’ mit den Scheißtiervergleichen auf. Denkt doch an alle diejenigen, denen es schlechter geht als euch, denkt daran, wie scheißunfair die Scheißressourcen verteilt sind, manche kriegen nur Neins ihr Leben lang und selbst das Nein müssen sie bewachen! Ihr suhlt euch in euren Pri

Halts Maul.
Okay, lasst uns erstmal frühstücken.

Comparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecomparecompare

Inhalt 03/2013

Die Lesezeichen-Ausgabe 03/2013 erschien am 14. Oktober 2013.


In dieser Ausgabe:
Kollegen im Bärenkostüm, die Bildung des Freiburger Typus, Baschar al-Assads Armee, ein Sichentfernen von der eigenen Handschrift, roter Sand, Bier, Schnaps und ein paar Scheiben Toast, ein zur Brücke gewordener Mensch, Oranjes Prinz und einige dieser Bischofskröten, Vilem Flusser und die endlose Einsamkeit, das Amen des Zusammenhangs, Schall und Rauch in der Stadt, Philippe Petit, eine Papercam-Story, schwerelose Dinge, ein Filialleiter mit Glatze, Kira mit Rosen, ein verbellter Tag uvm.

INHALT:

Farah Days Tagebuch, 14

Montag, 9. September 2013

Schall und Rauch

Meine Liebe, du hast alle Zeit der Welt.
Die Dinge, die ich von Hand auf Zettel schreibe, sind jene, die nicht von alleine haften. Unzuverlässiges Zeugs.
Meine Hände altern schneller als der Rest meines Körpers, meine Ideen altern schneller, als die Zeit lang ist. Ich war der Freiheit immer troy, nun stellt sich heraus, sie ist ein riesiger, komplett leerer Parkplatz. Niemand greift sie an, niemand da außer mir. Ich parke trotzdem immer auf der gleichen Stelle, leg’ die verdammte Parkuhr an die Windschutzscheibe, obwohl keiner kontrollieren kommt. Mir egal; ich bestehe darauf.
Immer bin ich gewahr. Deswegen die Vorsicht. Vor-sicht: das, was man sieht, bevor man sieht.

„Dein Schlafzimmer“, moniert er, „sieht aus wie eine Krankenstation, die Kissen, dies gebrochene Weiß und Grün.“
„Ich brauche Sicherheit zum Einschlafen“, sage ich.
„Lass uns zu mir gehen“, sagt er, „hier kann man nicht dreckigsein.“
Ich mag weiß, sauber und Stille. Am allermeisten Stille. Lautloses Gleiten. Der Herbst tändelt schon in den Ecken, ich weiß nicht, ob ich diesmal gut vorbereitet bin, immernochmehr Türen, die sich nicht schließen lassen.

Eigenmächtig.

Was für ein unheimliches Wort.

„Sie ist mein Lieblingsmensch“, sagt er zu der Frau. Ich stehe dabei.
Die Frau lächelt, sieht mich an, sagt: „Oh, ich glaube, sie ist so eine, die der Lieblingsmensch von vielen ist.“
Er nimmt mich in den Arm. „Ja“ sagt er. „Nur ihr eigener nicht.“
„Vielleicht mögt ihr mich deswegen so gerne“, sage ich. „Ich nehme mir nichts heraus.“

Ich nehme mir nichts heraus, ich maße mir nichts an, ich bin frei. Mein Parkplatz ist der größte von allen.
Er
Ist
Unheimlich
Groß.

Selbst wenn …
… doch das sag’ ich nicht.

Auf einem anderen Zettel steht:
Bist Du derjenige, der meine Flucht aufhalten wird?

Die Raupe Stück für Stück, die mit ihrer Körperlänge die Welt ausmisst. Ausdehnen, Zusammenziehen, Atmen. Kann ich alles. Nur die Klebefüßchen unten an der Raupe, die bewirken, dass sie mit Ausdehnenzusammenziehenatmen vom Fleck kommt: die fehlen mir. Vielleicht muss ich von vorne anfangen. Einen ersten Punkt entdecken, an dem ich haften
bleiben
wollen
würde.
So viele Zettel. Unterscheidungen. Verschenkungen. Wer will schon besitzen? Von fern ein Geheul.

Die Hölle, das sind die Anderen.
Read my stitches. Replace me. Take over.

Meine Zunge schmeckt süß, wie frisch gemäht, seitdem ich nicht mehr rauche, und der Wind, der Wind, fährt mir ins Maul hinein. Wer will da noch atmen.

Alles ist immer anders.
Alles ist immer neutral.
Alles ist immer gleichzeitig.

Ich wähle mich. Und Euch. Und von einer Sekunde auf die andere schnurrt der Parkplatz auf die Größe eines Raupenkörpers zusammen. Man misst immer nur sich selbst, in allem, was fremd und anders ist, misst man nur sich selbst.
Die Welt, meine Kleine, mein Littelwitsch, ist nicht größer als Du.

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-19

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-12

Kurztitel & Kontexte bis 2013-05-05

Kurztitel & Kontexte bis 2013-04-28